Vom Mittelalter bis in die heutige Zeit.



30. Fall - Der Lustmörder Christian Voigt (1911).


Einleitung.

Der Fall des Lustmörders Christian Voigt ist aus mehrfachen Gründen für den Kriminalisten sehr lehrreich.
Christian Voigt hat sich in sexueller Hinsicht mehrfach gegen die Bestimmungen des Strafgesetzes vergangen. Es fallen demselben unter anderem zur Last:

  • ein Notzuchtsattentat auf die zweiundzwanzigjährige Margarete Schilling, welches seine Internierung in einer Irrenanstalt zur Folge hatte,
  • ein Lustmord an der 17jährigen Ella Protowsky, nach welchem Voigt vom Prof. Dr. Binswanger begutachtet und neuerlich in einer Irrenanstalt interniert wurde,
  • sowie ein Lustmord im Jahre 1910 an der Prostituierten Peer. Im Laufe der strafgerichtlichen Untersuchung wegen dieses letzten Lustmordes wurde Christian Voigt von den Wiener Landesgerichtsärzten Dozent Dr. Elzholz und Prof. Dr. Raimann untersucht, welche erklärten, bei der Schwierigkeit des Falles außerstande zu sein, eine dezidierte Äußerung abzugeben und die Einholung eines Fakultätsgutachtens für wünschenswert bezeichneten. Das sohin eingeholte Fakultätsgutachten der medizinischen Fakultät in Wien gelangte in manchen Punkten zu Resultaten, welche von den Ergebnissen früherer psychiatrischer Begutachtungen des Voigt nicht unwesentlich abweichen.

Der psychische Mechanismus des Lustmordes ist in vielen Punkten noch nicht ganz aufgeklärt, die Pathologie der Lustmörder ist — wie Dozent Dr. Elzholz in seinem Gutachten betonte — noch nicht so
genau bekannt, daß man behaupten könnte, mit allen vorkommenden Spielarten der Äußerungsweise sadistischer Antriebe vertraut zu sein.

  1. Aus diesen Gründen erschien es mir im Interesse psychiatrisch-kriminalistischer Forschung geboten, einen so hochinteressanten Fall zu veröffentlichen, umso mehr als die verschiedenen Gutachten sich auch als interessante Beiträge zur Frage der Epilepsie, der epileptischen Dämmerzustände und der Simulation darstellen. Der leichteren Übersicht halber wird die Darstellung in sechs Teile geteilt, von denen sich: der erste mit der Jugend Voigts bis zu seiner Verurteilung in München,
  2. der zweite mit seinem Aufenthalte in München, Amberg, Wildungen und Sonneberg 1897 bis 1902,
  3. der dritte mit den beiden Sexualattentaten Gams und Schilling,
  4. der vierte mit dem ersten Lustmorde, begangen an Ella Protowsky, bis zur Einstellung des diesbezüglichen gerichtlichen Strafverfahrens beschäftigt.
  5. Der fünfte Teil behandelt den Zeitraum vom ersten bis zum zweiten Lustmorde und die Entmündigung Voigts und enthält eine autobio- graphische Darstellung Voigts, betitelt: „Wie ich Verbrecher wurde.“
  6. Der sechste und letzte Abschnitt behandelt den zweiten Lustmord, begangen an der Prostituierten Peer in Wien, und die Gutachten der Wiener Landesgerichtsärzte, sowie das Gutachten der medizinischen Fakultät in Wien.

1. Jugend bis zur Verurteilung in München.

Christian Voigt ist am 22. Januar 1878 als ältestes, von 4 Kindern geboren. Er stammt aus einer schwer nervös degenerierten Familie. Sein Vater war Potator (Trinker bzw. Säufer), seine Mutter nach Angabe eines Arztes abnorm, sein Bruder ein Epileptiker, ein Vetter mütterlicherseits ist wegen Irrsinns (Diagnose unbekannt) in einer Irrenanstalt interniert worden. Im Jahre 1884 starb Voigts Vater, welcher in Tettau in Bayern das Schuhmachergewerbe betrieben hatte, und hinterließ seine Familie in ungünstigen materiellen Verhältnissen.

So verlebte Voigt eine traurige Jugend. Schon im schulpflichtigen Alter musste er für sich selbst sorgen. Als Schuljunge stand er (1885) bereits bei einem Bauern als Viehhüter in Dienst. Sein Schullehrer berichtet von ihm, er sei zwar geistig gut veranlagt, sei aber stets zu rohen und schlechten Streichen aufgelegt, sei widersetzlich, unregelmäßig und verlogen gewesen. Seiner Mutter gegenüber benahm er sich oft renitent (böse, ungehorsam, frech, stur bzw. respektlos), so daß die alleinstehende Witwe zur Überwindung der Renitenz des damals 13jährigen Jungen die Hilfe des Schullehrers in Anspruch nehmen musste. Voigt besuchte 7 Jahre hindurch die Schule. Nach dem Austritte aus derselben kam er zum Zimmermeister Schmidt in Tettau in die Lehre. Es wird auch aus dieser Zeit berichtet, daß er lügnerisch veranlagt gewesen sei, daß er seine Arbeit nur dann gut verrichtete, wenn er gerade Lust hatte, wenn er aber zum Arbeiten nicht aufgelegt gewesen sei, einfach nichts gearbeitet habe. Es heißt weiter von ihm, daß er sein Geld und seine Zeit gerne im Wirtshause und mit Frauenzimmern vertan habe, er hätte Hang zur Schürzenjägerei (Voigt behauptete, mit 20 Jahren zum ersten Male in einem Bordell in Mannheim, jedoch ohne besondere Libido, geschlechtlich verkehrt zu haben). Voigt blieb 2 Jahre in der Lehre beim Zimmermeister Schmidt, verließ dann aber diesen Posten wegen einer Differenz mit dem Meister, bevor er noch das Gewerbe ausgelernt hatte. Er brachte sich nunmehr als Handlanger fort und arbeitete als solcher an verschiedenen Orten in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Auf diesen Wanderschaften scheint Voigt sich den Alkoholmissbrauch angewöhnt zu haben. Auf der Wanderschaft wurde er, wie er selbst angibt, 8- bis 10mal wegen Vagabondage und Bettelei gestraft.

2. München, Amberg, Wildungen und Sonneberg (1897—1902).

In München steigerte sich der Alkoholmißbrauch. (Eigene Angabe Voigts) Am 8. Juli 1897 wurde er in München wegen schwerer Körperverletzung, die er seinem Arbeitskollegen Rudolf Frick zufügte (Messerstiche, Durchschneiden der Arterien, Venen und Muskel des Vorderarmes), zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt. Er verbüßte diese Strafe in der Strafanstalt in Amberg (Oberpfalz). In dieser Anstalt hatte er, wie er selbst angibt, Gelegenheit, einen epileptischen Anfall eines Mithäftlings genau zu beobachten. Aus der Strafanstalt nach verbüßter Strafe entlassen, machte er in Amberg die Bekanntschaft einer Fabrikarbeiterin, welche die Mutter eines unehelichen Kindes des Voigt wurde, und welche er später im Jahre 1901 heiratete. In diese Zeit (1898) scheint auch ein angebliches Schädeltrauma durch einen Steinwurf zu fallen, dessen genaueres Datum nicht festgestellt werden konnte. Die Mutter des Voigt berichtet, Voigt habe nach diesem Steinwurfe „kraftlose Krämpfe“ bekommen, vor „Schmerz gebrüllt“, habe sie starr angesehen und ihr auf Fragen keine Antwort gegeben. Gleich darauf sei er wieder minutenlang im Zimmer herumgesprungen, dann sei er wieder geordnet gewesen. Ungefähr 14 Tage später habe er plötzlich die Behausung verlassen, habe nach seiner baldigen Rückkehr „keine rechte Erinnerung“ gehabt und sei ihr durch sein „starres Blicken“ aufgefallen.
Im Oktober 1898 wurde Voigt zum Feldartillerieregimente Nr. 27 assentiert, diente aber nur 6 Wochen, da er wegen Epilepsie (er selbst behauptete später, dieser epileptische Anfall sei simuliert gewesen) entlassen, Ende November 1898 zur Disposition der Ersatzbehörde gestellt und im Laufe des Jahres 1899 als „wegen Epilepsie zum Heeresdienste untauglich“ aus dem Heeresverbande definitiv entlassen wurde. Voigt zog nun von Amberg nach Tettau, dann nach Erfurt und endlich nach Wildungen, in welchen Orten er Arbeit suchte und solche zum Teil auch fand. In Wildungen erfolgte die zweite größere Abstrafung Voigts. Am 25. Juni 1899 wurde er vom fürstlichen Schöffengerichte zu Wildungen wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung zu 1 Jahr Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßung dieser Strafe in der Strafanstalt in Kassel zog er im August 1900 wieder nach Sonneberg, arbeitete dort als Zimmermann, heiratete, wie bereits erwähnt, seine ehemalige Geliebte, die Mutter seines unehelichen Kindes, mit welcher er in ziemlich glücklicher, in geschlechtlicher Hinsicht normaler Ehe lebte (Allerdings berichtete seine Frau, daß er sie, wenn er Wutanfälle hatte, auch gewürgt habe, so daß sie vor ihm flüchten musste). Ende 1901 oder Anfang 1902 gebar ihm seine Frau ein zweites Kind.


3. Die beiden Sexualattentate Gams und Schilling.

Im Laufe der Untersuchung über den Fall Schilling kam hervor, daß Voigt schon vorher einmal seine Meisterin Marvek plötzlich von rückwärts gepackt und geküßt habe und sie dann mit den Worten apostrophierte: „Willst Du etwa nicht, Du dummes Luder?" Auch habe er einem Dienstmädchen namens Gams nachgestellt, habe dasselbe bei einer Brücke überfallen, gewürgt, in die Wange gebissen und auch versucht, sie über das Geländer in das Wasser zu werfen. Voigt bestritt, mit diesem Attentäter identisch zu sein.

Am 2. März 1902 um 1/2 8 Uhr abends verübte Voigt ein Notzuchtsattentat auf die 22jährige Margarete Schilling. Er überfiel sie auf einem Felde, warf sie in einen Graben, versuchte sie unter Würgen und Schlägen in einen nahen Wald zu schleppen. Um sie am Schreien zu verhindern, drückte er ihr Gesicht zu Boden, stopfte ihr Erde ın den Mund und rief hiebei: „Du mußt noch in den Wald, da mache ich es Dir schön.“ „Ich mache Dich kalt, wenn Du nicht ruhig bist.“ Durch das Herannaben von Passanten wurde Voigt verhindert, weitere Tätlichkeiten der Schilling gegenüber zu begehen.
Voigt wurde in gerichtliche Untersuchung gezogen und während derselben zur Beobachtung an die Irrenanstalt in Hildburghausen abgegeben. Der Bezirksarzt Dr. Kreißmann, welcher Voigt vor der Abgabe in die Irrenanstalt Hildburghausen untersuchte, kannte denselben bereits von früher her. Voigt hatte sich nämlich früher einmal im Krankenhause so wüst betragen, daß er schon am nächsten Tage aus dem Krankenhause entlassen werden musste. Damals hatte Dr. Kreißmann den Voigt gesehen. In einem anderen Falle hatte der Doktor anläßlich einer Beleidigungsklage den Voigt zu begutachten gehabt. Damals erschien dem Dr. Kreißmann an Voigt mancherlei so auffallend, daß er die Annahme eines Dämmerzustandes nicht von der Hand weisen konnte. Vor Ablieferung an die Irrenanstalt in Hildburghausen untersuchte der Mediziner den Voigt wieder. Dr. Kreißmann berichtet: Voigt habe in der Nacht nach der Tat gut geschlafen, am nächsten Tage und in der folgenden Nacht sich allerdings im Walde herumgetrieben. Voigt wolle für die Tat selbst keine Erinnerung haben, die Erinnerung bestehe für einen Teil des folgenden Tages und fehle wieder für die nächste Nacht. Ein Anfall sei der Strafhandlung nicht vorausgegangen.
In der Irrenanstalt in Hildburghausen gab Voigt an, nach der durchwanderten Nacht einen Anfall gehabt zu haben. In Hildburghausen selbst wurde ein sicherer epileptischer Anfall nicht beobachtet. Die Krankengeschichte berichtet über folgenden nicht uninteressanten Vorfall: Voigt setzte sich einmal plötzlich auf den Boden des Hofes, drehte sich kurze Zeit (5 Minuten) im Kreise, zupfte den Rasen und machte den Eindruck, als ob er etwas benommen wäre. Hinterher klagte er über Kopfschmerzen. (Vertigo epileptica? Petit mal?) Anläßlich eines Streites mit einem Wärter konnte weiters seine Zornmütigkeit sowie seine starke körperliche Reaktion auf diesen Affekt konstatiert werden. (Er wurde damals bis zur Brust rot). Voigt blieb bis zum Mai 1902 in der Irrenanstalt in Hildburghausen und wurde dann in die Irrenanstalt nach Bayreuth transferiert. Voigt machte später dortselbst manchmal Äußerungen im Sinne vager Verfolgungen. Manchmal schien es, als ob Voigt unter dem Einflusse von Gehörstäuschungen stünde. Er klagte über eine Verschwörung, die gegen ihn herrsche. Man wolle ihn aus dem Leben schaffen, man habe ihn deshalb verhaftet. Nachts höre er Geräusche. Um ihn herum sei es wie „lauter Ärger“. Auch in der Bayreuther Anstalt kam ein zweifelloser epileptischer Insult nicht zur Beobachtung. Die Sachverständigen erklärten, daß „ein epileptischer Dämmerzustand zur Zeit der Tat mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei“.

Voigt blieb sohin in der Irrenanstalt in Bayreuth. Immer wieder inszenierte er Entweichungsversuche. Am 16. Juni gelang es ihm zu entweichen. Voigt kehrte nach Sonneberg zu seiner Frau zurück. In Sonneberg arbeitete er bis August 1902. Seine Frau berichtete damals über ihn in einem Briefe an die Direktion der Irrenanstalt: „Die Anfälle (gemeint sind wohl Affektausbrüche) kommen nur, wenn er recht aufgeregt wird, und kann er da die größte Tat verüben und weiß nichts davon.“


4. Der erste Lustmord.

Im Januar 1902 zog Voigt von Sonneberg nach Lauscha. Während seines Aufenthaltes in Lauscha hat Voigt viel getrunken. Er scheint zu jener Zeit sexuell sehr erregt gewesen zu sein, versuchte sich verschiedenen Mädchen in einer frechen und gewalttätigen Weise zu nähern, lief ihnen bis in ihre Wohnräume nach. Wie aus den Zeugenaussagen hervorgeht, konnten sich die Mädchen manchmal seiner Zudringlichkeiten nur mit einer gewissen Gewalt entziehen, und es bemerkt dies bezüglich in einem späteren Gutachten Prof. Binswanger, es sei offenbar nur einem Zufalle zu danken, daß es damals nicht zu weiteren Notzuchtsversuchen von seiten Voigts gekommen sei.
In Lauscha überfiel Voigt am 3. September 1902 die 17 jährige Ella Protovsky und ermordete das Mädchen, welches gerade in gebückter Stellung Erdbeeren pflückte, durch Stiche in den Hals (Durchtrennung der großen Halsgefäße, Tod durch Verblutung - Bei der Obduktion wurde Ella Protovsky als virgo intacta befunden). Am Mordtage hatte sich Voigt schon am Morgen zweimal für je 20 Pfennige Schnaps holen lassen und denselben größtenteils selbst getrunken. Nachdem Voigt sein Mittagessen eingenommen hatte, ging er dem Walde zu. Auf diesem Wege war er von mehreren Personen gesehen worden. Dieselben hatten an ihm nichts Auffallendes bemerkt. Betrunken war Voigt damals nicht. In der Nacht nach dem Morde holte sich Voigt heimlich aus seiner Arbeitsstelle sein Arbeitszeug. Ein Mann namens Hugo Köhler berichtete, daß ihn ein Mann auf der Straße mit dem Dolche bedroht habe, ihn aber plötzlich genauer angesehen und dann mit den Worten: „Ach Sie sind es“ wieder losgelassen habe. Köhler will mit Bestimmtheit diesen Mann in Voigt wiedererkennen. Dieser Vorfall soll sich nach dem Morde abgespielt haben. Voigt übernachtete nach dem Morde in einer Schneidemühle und suchte am nächsten Tag Arbeit. — Es berichteten Leute, die ihn bei dieser Gelegenheit sprachen, daß Voigt ruhig und vernünftig über verschiedene Gesprächsstoffe konversierte und auch bei Gesprächen über den noch unaufgeklärten Mordfall sich in keiner Weise auffällig benahm. An diesem Tage wurde Voigt verhaftet und nach Meiningen ins Untersuchungsgefängnis gebracht.
Im Gefängnisse zu Meiningen benahm sich Voigt sehr unbotmäßig, zertrümmerte Gegenstände, defäzierte (defäkieren = koten, oder umgangssprachlich: scheißen, kacken) auf den Boden der Haftzelle, führte wirre Reden und sprach von Geistern, die ihn quälten und trieben. Wie Prof. Binswanger anläßlich der psychiatrischen Untersuchung in Erfahrung gebracht hat, soll sich Voigt übrigens damals mehrmals geäußert haben, man müsse es nur verstehen zu simulieren. Wenn ihm etwas passiere, dann bekomme er seine alte Krankheit wieder.
Am 6. Oktober 1902 wurde Voigt zur Beobachtung seines Geisteszustandes der psychiatrischen Klinik in Jena übergeben. Am 12. November 1902 erstattete Prof. Binswanger nach seiner abgeschlossenen psychiatrischen Untersuchung ein Vorgutachten (Die verschiedenen Gutachten lagen in Abschriften vor, welche dem Verf. durch Rechtsanwalt Dr. Hugo Schönbrunn in liebenswürdigster Weise zur Verfügung gestellt wurden. Da sich in den verschiedenen Befunden und Gutachten diegleichen anamnestischen Daten wiederholten, habe der Verf. mehrfach Kürzungen vornehmen müssen.), welches im wesentlichen lautete:
„Die psychiatrische Untersuchung hat ergeben, daß Voigt unzweifelhaft an Epilepsie leidet. Es sind bei Voigt auch in der hiesigen Klinik epileptische Anfälle beobachtet worden. An einen dieser Anfälle hat sich ein unvollkommener, sogenannter epileptischer Dämmerzustand von zwei Tagen Dauer angeschlossen. Bei den lügenhaften und widerspruchsvollen Aussagen des Voigt läßt sich ein völlig klares Bild über seinen Geisteszustand im Laufe der letzten Jahre und insbesondere zur Zeit der inkriminierten Handlung nicht gewinnen. Auch die uns übersandten Krankengeschichten von Hildburghausen resp. Bayreuth bringen kein beweiskräftiges Material über das Vorkommen sogenannter postepileptischer Dämmerzustände oder psychischer Äquivalente.

Wir können deshalb nicht mit absoluter Sicherheit, sondern nur mit größter Wahrscheinlichkeit aussprechen, daß Voigt die inkriminierte Handlung in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen habe, durch welchen die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war (§ 51 des StGB.).
Aber auch wenn die Annahme, daß die inkriminierte Handlung im epileptischen Dämmerzustande begangen worden ist, sich als hinfällig erweisen würde, so trügen wir dennoch die größten Bedenken, den Voigt als strafrechtlich für zurechnungsfähig zu erklären; denn er zeigt auch außerhalb der Anfälle alle Anzeichen der sogenannten epileptischen Charakterdegeneration, d. h. jene pathologische Zornmütigkeit, welche zu brutalen, impulsiven Gewalthandlungen Veranlassung gibt. Ob und inwieweit die in den letzten Jahren wahrscheinlich episodisch auftretenden geschlechtlichen Erregungen ebenfalls auf Rechnung der epileptischen Veränderungen zu setzen sind, ist mit Sicherheit nicht zu entscheiden. Dies ist aber sehr wahrscheinlich. Ferner halten wir auf Grund der Kenntnis des Vorlebens des Voigt die Annahme für berechtigt, daß bei ihm chronischer Alkoholmißbrauch vorliegt, und daß die epileptische Erkrankung unter dem Einfluß dieser Schädlichkeit sich gesteigert habe. Wir sind auf Verlangen bereit, ein motiviertes Gutachten nachträglieh einzureichen."

Am 3. Februar 1903 erstattete Prof. Binswanger über gerichtliche Aufforderung das motivierte Gutachten, welches nach ausführlicher Besprechung des Vorlebens Voigts im wesentlichen ausführte:
„Nach den Akten der Strafkammer München, wo er wegen Körperverletzung verurteilt wurde, nach den Akten des Amtsgerichtes Wildungen wegen Sachbeschädigung, nach den Akten der Untersuchung in dem vorliegenden Mordprozeß war Voigt zweifellos zeitweise, vielleicht auch dauernd dem Alkoholmißbrauch ergeben. Dazu kam der Ausbruch der epileptischen Erkrankung. Seit wann diese Krankeit datiert, läßt sich nicht mit völliger Gewißheit feststellen. Voigt behauptete einmal seit dem Jahre 1897, seit einem Sturze von einem Gerüst in Landau. Nach den Akten in der Strafsache gegen Ehrlicher wegen Körperverletzung trat das Leiden nach Voigts eigener Angabe zum ersten Male im Jahre 1898 auf. Wie dies auch war, jedenfalls handelte es sich nur um das Hervortreten einer latenten Krankheit, nachdem es nachgewiesen ist, daß der Vater des Voigt Potator war, sein Bruder Epileptiker ist. Ob dem Alkoholmißbrauch oder der Verletzung die größere Schuld zuzumessen ist, erscheint gleichfalls fraglich...“ „Wegen seiner Epilepsie wurde er vom Militär entlassen. Der dort beobachtete Anfall ist der erste spontane Anfall, der beobachtet wurde, und dadurch von Wichtigkeit.
Bedeutungsvoll ist die Änderung der Art seiner Strafhandlungen, die ungefähr um die gleiche Zeit wie das Manifestwerden seiner Epilepsie eintritt. Während er in der früheren Zeit nur wegen Bettelns und ähnlicher Handlungen bestraft wurde, folgen jetzt immer mehr rohe und brutale Gewalthandlungen, so nach reichlichem Alkoholgenuß die Körperverletzung in München, weiter ebenfalls unter dem Einflusse des Alkohols die Körperverletzung und der Baumfrevel in Sonneberg, die Sachbeschädigung in Wildungen.“
„Seine unmäßigen sexuellen Triebe, die sich bei Epileptikern häufig finden, spielen in diesem Prozesse zum ersten Male eine Rolle. Sie sind das seine weiteren Strafhandlungen beherrschende Moment. Mit Beginn des Jahres 1902 setzten sie ein, eine Reihe, beginnend im Januar mit dem Notzuchtsversuche bei dem Dienstmädehen Grams. Im März folgt ein mit gleicher physischer Brutalität ausgeführter Versuch bei dem Dienstmädchen Schilling, und nur seiner zeitweiligen Internierung in Irrenanstalten ist es zuzuschreiben, daß die nächste, mit dem Morde seines Opfers endende Tat so lange auf sich warten ließ.“

Nach Besprechung der Berichte des Dr. Kreißmann und der Anstalten in Hildburghausen und Bayreuth gelangt Prof. Binswanger zur Erörterung des gegenständlichen Lustmordes, der Vorfälle nach demselben bis zur Verhaftung des Voigt, endlich seines Benehmens im Gefängnis und fährt fort:

„Auf geistigem Gebiete verriet Voigt gute Fähigkeiten und Kenntnisse. Zwar versuchte er manchmal, den Arzt zu täuschen. So antwortete er auf viele Fragen, er wisse es nicht und starrte mit hochgezogenen Augenbrauen und halboffnem Munde tölpelhaft dahin. Im weiteren gab er diese Versuche jedoch mehr und mehr auf und entwickelte viele, wenn auch teilweise oberflächliche Kenntnisse und eine sehr gute Erinnerung. Betreffs seiner Anfälle gab er an, er habe sie etwa alle 14 Tage, er merke nichts davon. Während des Anfalles und nachher sei er sehr gewalttätig, ohne jedoch davon etwas zu wissen. Sonst sei er nur sehr gereizt. Nach einem Anfalle fühle er sich sehr matt, und daran merke er manchmal, daß ein Anfall aufgetreten sei. Der Mordtat seien Anfälle nicht vorausgegangen. Von der ganzen Tat und von den ihr vorausgehenden Tagen, seit Montag fehle ihm jede Erinnerung, er erinnere sich erst wieder daran, daß er in der Mühle aufgewacht sei. Ein anderes Mal diesbezüglich befragt, will er erst nach seiner Festnahme zu sich gekommen sein. Diese, wie alle seine Angaben sind höchst unzuverlässig. Voigt log zum Teil wohl unabsichtlich, zum Teil sicher mit vollem Bewußtsein, wenn er z. B. behauptete, nie Schnaps getrunken zu haben oder nie mit Mädchen gescherzt und sich ihnen nie in sexuellen Absichten genähert zu haben. Ich halte mich daher besser an die positiven Beobachtungen als an seine Angaben.“
„Seine Stimmung war äußerlich eine gleichmäßige. Er war verschlossen, trat aber, wenn der Arzt weg war, aus sich heraus und zeigte Neigung, sich in alles zu mischen. Durch Widerspruch wird er zu heftigem Zorne gereizt. Er zittert dann am ganzen Körper. Gewalttaten seinerseits kamen hier nicht vor.“ In der Nacht vom 13. zum 14. Oktober wurde ein typisch epileptischer Anfall beobachtet mit leichten Zuckungen nach vorausgegangenem Streckkrampfe. Er verunreinigte sich dabei. Am Morgen war er etwas benommen, mürrischer wie sonst, klagte über Zahnschmerz, gab auf Detailfragen ungenaue, auch falsche Antworten. Mürrisch, verschlossen, unfrei blieb er bis zum 16. Oktober. Er wußte nichts von seinem Anfalle. Er gab an, auch zu Hause sich manchmal verunreinigt zu haben (was auf Anfälle hinweisen könnte). Ein zweiter schwerer Unfall wurde am 29. Oktober beobachtet. Voigt fiel beim Waschen am Morgen um, er fiel hierbei auf die Nase. Er war geistig nur etwa eine Stunde verändert.
„Ich komme zur entscheidenden Frage, ob Voigt in einem krankhaften Zustande im Sinne des § 51 des StGB gehandelt hat. Voigt ist zweifellos krank. Schwer belastet, entwickelte er sich einseitig, intellektuell gut, ethisch sehr dürftig. Er kam ins Leben ohne Erziehung, und die Schädlichkeiten der Freiheit, denen er nicht gewachsen war, brachten ihn noch tiefer hinunter. Alle die schlechten Allüren der Vagabunden nahm er an. Er ist lügenhaft und brutal. Schließlich unter dem Einfluß von Alkohol und von Verletzungen wurde seine Epilepsie manifest. Daß er an derselben dauernd leidet, hat die hiesige Beobachtung ergeben. Bei dem Auftreten eigenartiger Dämmerzustände der Epileptiker muß zuerst die Frage aufgeworfen werden, ob Voigt die inkriminierte Handlung vielleicht in einem solchen Zustande begangen hat. Daß bei Voigt im Anschluß an Anfälle psychische Veränderungen auftreten, beweist die hiesige Beobachtung. Sie treten sogar auf, wenn er in dieser Zeit, was außerhalb der Anstalt wohl kaum der Fall war, vor Alkoholgenuß bewahrt ist. Eine des Dämmerzustandes sehr verdächtige Episode sah Dr. Kreißmann und auch der Zustand im März 1902, in welchem Voigt gegen das Dienstmädchen Schilling einen Notzuchtsversuch machte, ist wahrscheinlich ein Dämmerzustand gewesen. Der ruhige Schlaf nach der Tat, das Umherlaufen erst am folgenden Tage, der eigentümliche Erinnerungsdefekt für die beiden Nächte, während die Erinnerung für den dazwischenliegenden Tag erhalten war, machen dies wahrscheinlich. Würde Voigt damals gelogen haben, so hätte er wohl einen totalen Gedächtnisdefekt angegeben. Auch insofern sind seine damaligen Angaben Dr. Kreißmann gegenüber unverdächtiger, als er noch nicht Gelegenheit hatte, durch seinen Aufenthalt in Irrenanstalten sich wesentliche Kenntnisse über diese Erkrankungen anzueignen.
Erfahrungsgemäß treten solche Zustände des getrübten Bewußtseins auch ohne Anfälle auf, nicht zu selten nach Alkoholgenuß. Das träfe ja bei der vorliegenden Mordtat zu und Voigt gibt ja auch das als charakteristisch angegebene Symptom der Gedächtnislücke zu.
Voigt lügt allerdings in schamlosester Weise, Selbstverständlich beweist das aber nicht, daß er nicht krank ist, ebensowenig wie seine verschiedenen Renommistereien, er bekomme seine alte Krankheit wieder usw., gegen die Annahme einer Erkrankung ins Feld geführt werden können. Wir können uns nur an das Tatsachenmaterial halten. Voigt hat nun zweifelsohne eine Reihe recht komplizierter Handlungen in der Zeit seiner angeblichen Gedächtnislücke ausgeführt. Das beweist aber nichts gegen die Annahme einer solchen, denn es existieren eine große Reihe von Fällen, nicht krimineller Art, die viel kompliziertere Handlungen eine viel längere Zeitdauer hindurch planmäßig vollführten und von niemandem in dieser Zeit für geisteskrank genalten wurden, um bei ihrem endlichen Aufwachen aus dem Dämmerzustande jeder Erinnerung an diese ganze Zeit verlustig zu sein.
Auffallend bei Voigt ist die erwähnte eigentümliche Szene mit Hugo Köhler, auffallend auch die sorglose Art, wie er ganz in der Nähe des Tatortes Arbeit suchte, keinerlei Reaktion zeigte, als andere in seiner Gegenwart von dem Morde sprachen. Es scheint im ganzen recht wahrscheinlich, daß Voigt in einem Zu-
stande krankhaft veränderten Bewußtseins handelte, aber es kann dies nicht sicher bewiesen werden.
Aber selbst wenn diese Annahme nicht feststeht, so würde ich doch Bedenken tragen, den Voigt als zurechnungsfähig zu erklären, da Voigt die deutlichen Zeichen der epileptischen Charakterveränderung darbietet. Diese sind im wesentlichen die rohe Brutalität und die gewalttätige Affekthandlung. Kein Zweifel, daß Voigt immer ein moralisch tiefstehender Mensch war; es ist dies schon mehrere Male betont worden. Aber das Offenbarwerden der epileptischen Erkrankung ruft eine weitergehende Depravation (Verschlechterung einer medizinischen Symptomatik) seines Charakters hervor, eine Verstärkung der rohen Instinkte, deren Heftigkeit namentlich bei Alkoholgenuß und im Affekte zu gewaltsamer rücksichtsloser Entladung drängt. Und dafür ist von ausschlaggebender Beweiskraft die Veränderung in der Strafliste seit dem Vorkommen epileptischer Anfälle:

  • erst Betteln und Landstreicherei,
  • dann brutale Exzesse,
  • Körperverletzungen,
  • Sachbesehädigungen,
  • Baumfrevel und
  • schließlich im Jahre 1902 eine Häufung gleichartiger, auf die sexuelle Erregung sich gründender Verbrechen.

Daß diese geschlechtliche Überreizung auf dem Boden seiner Krankheit aufgetreten sein könnte, ist wahrscheinlich, aber nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Voigt hat im Laufe seiner Erkrankung die Kraft verloren, seine wilden Triebe zu bezwingen, er läßt sich von seinem Affekte hinreißen und ist in seinen jähzornigen Aufwallungen zu jeder Gewalttätigkeit fähig. Eine solche Affektentladung möchte man bei der Mordtat Protovsky annehmen, wenn man die Wahrscheinlichkeit des Dämmerzustandes nicht für gegeben erachtet.
Ich gebe daher mein Gutachten dahin ab, daß Voigt die inkriminierte Handlung in einem krankhaften Zustande der Geistestätigkeit begangen hat, der die freie Willensbestimmung ausschloß.“

Auf Grund dieses Gufachtens des Sachverständigen wurde das Strafverfahren gegen Voigt beim Landgerichte in Meiningen eingestellt und Voigt neuerlich in der Irrenanstalt in Bayreuth interniert.


5. Die Zeit bis zum zweiten Lustmorde.

1. Vorbericht

In der Nacht vom 15. auf den 16. April 1906 gelang es Voigt, mittels eines selbst angefertigten Nachschlüssels aus der Irrenanstalt in Bayreuth zu entweichen und nach Wien zu entfliehen. Er fand in Wien auch bald Stellung. Im August 1906 kam der Direktion der Anstalt in Bayreuth durch eine Ansichtspostkarte, die Voigt an einen Anstaltsarzt geschrieben hatte, der Aufenthaltsort Voigts zur Kenntnis. Voigt wurde über Ersuchen der Bayreuther Anstalt in Wien angehalten, der Wiener Landesirrenanstalt provisorisch übergeben und am 24. August 1906 in die Bayreuther Irrenanstalt zurückgebracht. In diese Zeit dürfte die Abfassung eines interessanten autobiographischen Essays: „Wie ich Verbrecher wurde“ fallen, welches in den Akten gefunden wurde. Dieses überaus interessante Schriftstück wird nachfolgend hier in extenso zum Abdruck gebracht.


2. „Wie ich Verbrecher wurde.“

„Ich glaube diese Frage heute ohne Metaphysigque beantworten zu können, basierend meine Argumentation auf die Lektüre wissenschaftlicher Literatur und die genaue Beobachtung von Tatsachen.“
„Nach meiner Meinung gibt es zwei Hauptkategorien von Verbrechern. Der einen gehören diejenigen an, die eine böse Handlung mit Absicht und Überlegung ausführen, der anderen jene, bei welchen der Vorsatz und die Nachdenkung fehlt. Im Sinne des Strafgesetzes die Ver- und die Unverantwortlichen. Die Unverantwortlichen müssen nicht immer, sei es auf hereditärer Basis, temporär oder perpetuell geistesgestört sein, sondern können auch von einer anderen Defektuosität behaftet sein. Diese, nicht im juristischen, wohl aber im psychologischen Sinne und von mehreren Autoritäten anerkannte Defektuosität bezeichne ich als Ignoranz. Die Ignoranz ist nicht immer die Apanage der besitzlosen Klasse, jedoch behaupte ich, daß der größte Teil der Lohnarbeiter — ich verstehe darunter solche ohne festes Arbeitsverhältnis — das Durchschnittsniveau der Intelligenz, welches unbedingt für eine weise Lebensführung notwendig ist, nicht erreichen. Die Bildung und Intelligenz sind auch nicht immer das Privilegium der besitzenden Klasse, obgleich die Wohlhabenheit dieselbe günstig beeinflussen.“
„Die geistigen Vollkommenheiten eines Menschen hängen vor allem von dessen natürlicher Beschaffenheit ab. (Mentale Fakultät und mentale Macht.) Ein Mensch, der die gehörige Beschaffenheit seiner Geisteswerkzeuge von Geburt besitzt, ist proportionell den Bildungsmitteln, die iım zur Verfügung stehen, einer Veredlung der Geisteskultur fähig. Erhalten diese Geisteswerkzeuge von außen keinen Anstoß, um sich zu entwickeln, so werden sie stagnieren. Ich will damit sagen, dab es Individuen unserer Rasse mit gehöriger mentaler Anlage gibt, die dennoch geistig minderwertig sind. Ihre Gehirnmasse ist fast untätig, und die Arbeiten, die sie verrichten, sind instinktiver Natur ohne Denken und Überlegung und tragen den Charakter der Routine. Es kann sogar geschickte Professionale geben, ihre Tätigkeit bewegt sich dennoch in den Grenzen der Routine.“
„Dieser Espece von Individuen gehörte ich an.“
„Meine körperliche Entwicklung war normal im Vergleiche zum Alter, meine geistige kontrastierte mit ıhm auffallend. Eine kurze Biographie und ein Abriß der sozialen Situation, in welcher ich evolierte, sind Beweis meiner These.“
„Ich kannte meinen Vater nur unbestimmt, als er im Oktober 1884 starb. Von vier Geschwistern war ich das Älteste und damals 6 Jahre alt. Wir wohnten zur Miete und wurden wegen unserer Armut delogiert und am Ende im Keller des Gemeindebauses untergebracht. Im Frühling 1885 wurde ich an Bauern als Viehhirte vermietet und hatte diese Eigenschaft bis zum Jahre meiner Konfirmation, 1891, inne. Das Leben eines Hirten in solchen Bedingungen, wie ich behandelt wurde, ist nicht die Idylle, von der die Junker das hohe Lied singen. Meistens, wenn ich das Vieh auf die Weide führte, war ich schon durch andere Arbeit ermüdet, schlief oft ein während der Hut, das Vieh betrat dann manchmal fremdes Gebiet und richtete Schaden an, wofür ich daheim geschlagen wurde Lief ich aus dem Dienste so wurde ich wieder hingebracht, ganz in die Gewalt dieser Kleinbauern gegeben. Durch diesen Dienst nützte ich meiner Mutter nur insoweit, als sie mich für eine gewisse Zeit nicht zu ernähren brauchte, denn Lohn gab es nicht und im Herbste wurde ich wieder in die Familie geschickt. Kein einziger dieser Bauern ernährte mich den Winter durch. Die Schule existierte für mich nicht in der Regelmäßigkeit, ich wurde oft dispensiert und kam sehr oft zur Schule, ohne meine Aufgaben gemacht zu haben. Bei einer Arbeitszeit von 4 Uhr früh bis abends 9 Uhr war es auch fast unmöglich. Jene Leute vertraten nicht die Stelle liebevoller, erziehender Eltern, ebensowenig der Lehrer und der Pfarrer. Wie ich überhaupt die Wahrnehmung machte, daß mich die beiden Letzten anders behandelten als meine Mitschüler, obwohl ich als armes, schutzloses Wesen den größten Schutz bedurfte. Hier ein bezeichnender Vorgang. Während des Katechismus-Unterrichts in der Kirche bekam ich den Auftrag, mit dem Klingelbeutel herumzugehen. Da ich eine zerrissene Hose anhatte, lehnte ich ab. Dafür bekam ich vor meiner Mitschüler Augen eine Ohrfeige. Begreifen Sie die an diesem Orte erhaltene Demütigung? Mit dem Kirchenbesuche war es aus, nicht aus Überzeugung, sondern aus Furcht und Scham.“

„Ich lernte bei Schmidt in Alexanderhütte das Zimmermannshandwerk. Ich bekam vom ersten Tage an einen Lohn von einer Mark wöchentlich und wurde so meiner Mutter die erste Hilfe. Im dritten Jahre meiner Lehrzeit 1893 bekam ich an zwei Samstagen hintereinander meinen bescheidenen Lohn nicht. Während dieser beiden Wochen konnte mir meine Mutter nicht ein Stück Brot geben und ich half mir mühsam über die peinliche Lage hinweg. Als es nicht mehr ging, wurde ich bei meinem Meister vorstellig und bat um Geld. Auf seine ablehnende Antwort hielt ich ihm seine Passionen vor, für die er immer Geld hatte. Aber statt eines Geldbetrages sollte ich Prügel bekommen. Das war zuviel und ich lief weg. In der Absicht, mir anderweitig ähnliche Beschäftigung zu suchen, ohne indes von meiner Heimat mich allzuweit zu entfernen, kam ich, ohne ausgelernt zu haben, in die Fremde. In anderen, ordentlichen Umständen würde ich wohl nie meinen Heimatsort verlassen haben.“
„Daß diese acht Jahre ‚Walzen‘ ein Ersatz für Bildung und Erziehung sein können, habe ich nicht gemerkt.“
„Im Frühling 1897 arbeitete ich in Sternberg. Wir waren in demselben Geschäfte mehrere Fremde, darunter drei Norddeutsche. Diese kamen eines Tages mit dem Polier in Streit und verließen die Arbeit. Ich hatte keine Ursache, dasselbe zu tun, und lehnte ein eine diesbezügliche Aufforderung ihrerseits ab. Sie grollten mir, wie ich aus ihren Drohungen und ihrem ironischen ‚Auf Wiedersehen‘ ersah. Einige Monate später verließ auch ich Sternberg und nahm in München Arbeit. Durch Zufall logierte ich wieder mit denselben Arbeitskollegen unter einen Dache. Eines Abends im Juni glaubten sie den Moment günstig, um ihrem Hasse Form zu geben, denn als ich nachts um 11 Uhr zu Bette ging, wurde ich oben im zweiten T'reppenflur angefallen und blutig geschlagen. Ich konnte mich nicht anders aus ihren Händen befreien, als daß ich mein Taschenmesser zog und liegend um mich herumschlug. Dadurch verletzte ich einen von den dreien, wurde am andern Tag abends 5 Uhr vom Zimmerplatz weg verhaftet, in den Anklagezustand versetzt und erhielt neun Monate Gefängnis (Amberg). Der Staatsanwalt hatte 2 Jahre beantragt. Ich stand vor dem Tribunal, ohne ein Wort zu meiner Verteidigung anzuführen, glaubend an das gerechte Urteil der Richter. Überdies hätte ich mich auch nicht verteidigen können, denn ich war arm an Gedanken mit der naiven Miene eines Kindes. Diese Verurteilung machte einen tiefen Eindruck auf mein Seelenleben und ich konnte mir keine rechte Vorstellung machen von dem, was Justiz ist. Ich verbüßte diese Strafe in Amberg in Kollektivhaft und kann heute den unheilvollen Einfluß, den die Zusammenwohnung mit alten Verbrechern auf den jungen Menschen ausübt, würdigen. Der Stoff ihrer Unterhaltung ist ausschließlich die Verherrlichung ihrer Taten.“
„In dem Arbeitsraum, in dem ich beschäftigt wurde, saß neben mir ein junger Mensch, der in Intervallen von drei bis vier Tagen epileptische Anfälle hatte und dem ich im kritischen Momente so gut wie möglich beistand.“
„Im April 1898 verließ ich die Anstalt Amberg und nahm in Sonneberg Arbeit. Dort musste ich im selben Jahre zur Konskription (Einberufung zum Wehrdienst) und wurde zum 27. Feld-A.-R. Mainz ausgehoben, machte dort die Bekanntschaft einer Porzellanarbeiterin, aus welchem Verhältnis im November 1898 ein Knabe hervorging Diese Arbeiterin heiratete ich später (1901). Ich suchte also den mir zugewiesenen Truppenteil auf, mit dem Vorsatz, in vier Wochen wieder entlassen zu werden. Die Beweggründe waren einzig und allein die erlittene ungerechte Strafe und die materielle Notlage jener schwangeren Frau. Als Mittel zur Befreiung kam mir plötzlich der Anblick jenes Epileptikers in Erinnerung und eines Abends während der Putz- und Fliekstunde ließ ich mich vom Schemel fallen und ahmte seine Gesten nach.“

„Ich wurde nach Tettau entlassen, wo ich mich einige Zeit aufhielt und dann in Erfurt in Arbeit trat (Januar 1899). Von da ging ich nach Kassel, wo ich in der Generalmusterung dann erst vollständig befreit wurde, denn ich war anfangs nur zur Disposition der Ersatzbehörde gestellt.“
„Ich arbeitete desselben Jahres in Bad Wildungen und wurde vom dortigen Amtsgerichte wegen Sachbeschädigungen und Körperverletzung zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Die Körperverletzung hatte ich nicht zugefügt,  denn wir waren unserer dreizehn in Alkoholstimmung, aber ich leugnete auch die andere Beschuldigung.“
„Nach meiner Entlassung im August 1900 ging ich wieder nach Sonneberg und gründete mir einen Hausstand (1901). Die Ehe war relativ glücklich, wenn ich auch viel Mühe hatte, ohne Anfangsgeld eine Hauswirtschaft einzurichten. Die Eintracht wurde bisweilen gestört durch das exigente (anspruchsvolle) Wesen meiner Frau. Ich fühlte während der Ehe meine physischen Kräfte sinken, abgemattet durch des Tages intensive Arbeit, manchmal so stark, daß ich zusammenknickte, war ich außer Stande, die Anforderungen, die sie an mich stellte, zu erfüllen. Ich machte lit a part (getrennt schlafen) und daher die Diskordanz (Uneinigkeit, Missklang).“
„Seit August 1900 war ich also in Sonneberg in festem Arbeitsverhältnis und Wohnung. Im Sommer 1902 ließ mich das Baugeschäft Schmidt durch seinen Polier, dem ich als tüchtiger Zimmermann bekannt war, einladen, bei ihm Arbeit zu nehmen. Dieses Unternehmen Schmidt führte gewöhnlich nur Maurerarbeiten aus und übertrug die Zimmerei den dortigen Zimmermeistern. Es muß wohl mit den letzteren Differenzen gegeben haben und das Geschäft machte sich jetzt zur Aufgabe, auch die Zimmereikonstruktionen auszuführen. Zu diesem Zwecke wurde ich mit angeworben. Man versprach mir dauernde Arbeit, hohen Lohn, was konnte ich mehr verlangen. Es wurde ein Kontrakt festgesetzt und es ging die ersten Wochen ganz gut. Aber schon nach der Aufrichtung eines größeren Gebäudes zeigte es sich, daß er es mit den Stipulationen (vertragliche Abmachung; Übereinkunft) des Kontraktes nicht ernst nahm, schützte vor, wir täten zu viel verdienen, obwohl die Arbeit tadellos ausgeführt war, und hielt uns einen großen Rest unseres Lohnes bei der Generalabrechnung zurück. Die Forderung wurde vor dem Gewerbegericht eingeklagt, wir bekamen Recht, aber mit der Arbeit war es ein für alle Mal in Sonneberg aus.“

„Da ich in einem Unternehmen arbeitete, das den Zimmermeistern Konkurrenz machte, nahmen mich dieselben nicht mehr an, obgleich Nachfrage nach Arbeitskräften vorhanden war. Ich war genötigt, mir anderweitig Arbeit zu suchen, und kam so nach vielem Bemühen nach Lauscha. Hier verschlechterte sich meine Sıtuation beträchtlich. Abgesehen von einem bedeutend niedrigeren Lohne war auch die Lebensbedingung eine miserable. Besorgt um die Familie, einige Mark mit nach Hause zu bringen, mietete ich mir kein Logis, schlief im Pferdestalle und fristete kärglich mein Leben. Die Stimmung in solcher Lage, mit welcher ich des Morgens zur Arbeit ging, brauche ich wohl nicht weiter zu erklären. Kam der unheilvolle Tag, der 4. September. Schon in aller Früh wurde ich aufgefordert, meinen Einstand zu geben. Was machen in fremdem Orte bei unbekannten Arbeitern bei derartigem Verlangen? Befürchtend, mich mißliebig zu machen, schikaniert zu werden, eventuell die Arbeit zu verlieren, gab ich 25 Pfennige zu diesem Zwecke her. Es wurde Schnaps geholt. Es wurde Schnaps weiter geholt und sehr viel, ohne zu wissen, woher er kam. Ich trank davon, ohne jemals welchen getrunken zu haben, er muß wohl dem leeren Magen ein wohltuendes Gefühl verursacht haben.“
„Schon vormittags um 10 Uhr war ich aber arbeitsunfähig und kam mir vor, mich in einer kreisenden Bewegung zu befinden. Ich legte mich in den Holztrockenraum bei einer ungewöhnlich hohen Temperatur. Welchen Einfluß die Hitze dieses Raumes auf meinen Alkoholzustand ausübte, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls weiß ich nicht, wie ich aus diesem Raume herauskam. Meine Erinnerung fängt erst da an, wo mir das Blut meines Opfers, das ich vorher nie gesehen hatte und dessen Figur ich mir auch heute nicht vorstellen kann, auf die Brust und ins Gesicht spritzte. Die Wunde muß stehend beigebracht worden sein. Ich lief dann planlos umher, legte mich in eine Ecke des Terrains. Als ich aufwachte, war es stockfinstere Nacht. Ich orientierte mich, so gut es ging, um die Direktion des Zimmerplatzes zu finden. Leicht war dies nicht. Ich war ohne Rock und fühlte einen Schmerz in allen Gliedern und eine schleichende Angst. Ich wußte wohl, daß irgend etwas geschehen sein musste, kannte aber die Tat in ihrer traurigen Größe nicht. Unterwegs vergrub ich Weste und Hemd, denn die beiden Stücke klebten mir auf dem Leibe. In diesem Zustande kam ich dann morgens um ungefähr 4 Uhr an dem Ausgangspunkt an. Ich ging in die Schneidemühle und legte mich unter die tischähnliche Vorrichtung, auf welcher die Kreissäge angebracht ist. In dieser Lage verbarrte ich den ganzen Freitag (5. September) bis in die ersten Stunden des Samstag. Wie betäubt hörte ich das Summen der Kreissäge, das Geknatter der Gatter und nur das Streifen des Transmissionsriemens schreckte mich plötzlich auf. So verbrachte ich beinahe 24 Stunden. Ich kroch hervor, zog meinen Rock an, der noch dahing, und ging gleichgültig in der Richtung nach Steinach, welches ich zur Zeit, wo die Arbeit beginnt, passierte. Ich sprach bei den dortigen Zimmermeistern um Arbeit vor, kam nach Judenbach und Heimersdorf. Mittlerweile war man mir auf der Spur und ich wurde verhaftet und zu Fuß zurück ins Amtsgefängnis Steinach transportiert, wo ich erst den vollen Ernst meiner Tat erfuhr. Mein Werkzeug hatte ich auch mit mir.“

Nachtrag.

„Ich wurde also am 12. September vom Amtsgericht Steinach in der gewöhnlichen Weise ins Landgericht Meiningen überführt. Ich war nach der Tat furchtbar niedergeschlagen und wurde es immer
mehr in dem Maße, als ich die Größe meiner Handlung erfuhr und übersah. Ich hörte im Untersuchungsgefängnisse verschiedene Gerüchte, auch das von dem Selbstmorde meiner Frau. Ich war ganz in Verzweiflung, schlug die Fenster hinaus und wälzte mich auf dem Fußboden. Der Gefängnisarzt, der mich untersuchte, erklärte mich als Simulanten, was nach seiner Meinung richtig war, aber ich gebärdete mich doch wie ein durch Verzweiflung Wahnsinniger.“
„Darauf wurde ich für 6 Wochen in die psychiatrische Klinik in Jena überführt. Hier spielte ich nun eine Art ‚va banc‘ und markierte die bekannten zwei Anfälle. Ich kam nach Meiningen zurück von der Klinik mit dem festen Bewußtsein, daß man den Betrug, obwohl niemals ein Arzt zugegen war, erkannt hätte. Mir war es, als ob die Untersuchung noch weiter ginge, denn tatsächlich kam ich erst am 29. November 1902 vom Untersuchungsgefängnisse in die Irrenanstalt nach Bayreuth und nicht ohne daß ich vorher neuen Unfug machte. Meine Überführung bewerkstelligte sich in Begleitung zweier Gendarmen bis Lichtenfels, dort wurde ich zwei Bayreuth’schen Wärtern übergeben. Die beiden Gendarmen behandelten mich ganz légèrement (leicht), nicht geschlossen, wie einen wahrhaft Gebrochenen, der ich auch war. Die beiden Wärter steckten mich aber trotz Abratens der beiden ersten Begleiter bis Bayreuth in die Zwangsjacke. Dies war am 29. November 1902 an einem Freitag. Dort kam ich auf die Abteilung D oder Tobhaus mit 12 Zellen, davon 6 mit Oberlicht.“
„Bei Tage hielt ich mich auf dem Korridor vor den Zellen auf, anfangs wie betäubt, wie in einem schlafähnlichen Zustande, verursacht durch das Brüllen, Schreien und das ‚an die Tür schlagen‘, der Insassen. Dieser Lärm ist bei Tag und Nacht derselbe, bisweilen Nachts noch größer. Es gibt wohl eine Hydrotherapie, aber kein Wasser und Schlafmittel teilte mir ein Arzt aus. Dieser kam nur in großen Zwischenräumen auf diese Abteilung, wenn sein ‚De jour‘ (tagsüber) es erheischte. Auch ich hatte bisweilen schreckliche Nächte, in welchen ich meine Vergangenheit passieren sah, ich verfiel dann in Weinkrämpfe und wälzte mich wie ein Verzweifelter auf der Matratze. Mein Abteilungsarzt hieß Dr. Kolb, der Oberarzt Dr. Prinzing. Beide beschäftigten sich viel mit meinem Lebensgange und wurden mir vertrauliche, liebe Ärzte. Der erstere ist heute Direktor der zweiten oberfränkischen Irrenanstalt Kutzenberg, der andere Direktor der schwäbischen Irrenanstalt Kaufbeuern.“
„Dr. Kolb hatte dann die Liebenswürdigkeit, mich mit Lektüre aus seiner Privatbibliothek und mit Tageszeitungen zu versehen und wurde so der Initiator in die Literatur und der Anstoß zu meiner Autodaxie. Meistens waren es Nummern der Münchener Neuesten Nachrichten, in deren wissenschaftlichem Teile oft Kritiken und Auszüge von Professor Forels Werken standen, die ich mit Begierde und Interesse jedesmal mehrere Male durchlas, besonders die Abschnitte, welche Ignoranz und Verbrechen und den Zusammenhang von Alkoholismus und Verbrechen behandelten. Aus jener Zeitschrift hörte ich öfter vom ‚Vorwärts‘ sprechen und das Urteil über denselben machte mir Eindruck, daß ich um dessen Abonnement bat, und durch die liebenswürdige Bemühung des Herrn Dr. Prinzing und mit Erlaubnis der königl. Regierung von Oberfranken erhielt ich auch den ‚Vorwärts‘. Ich las denselben, ohne jemals eine sozialistische Zeitung gelesen zu haben. Dies muß im September 1903 gewesen sein. Aus diesen Zeitungen sammelte ich alle Fremdwörter und Phrasen auf einem Stücke Papier und, als ich eines Sonntags dabei war, dieselben nach ihrer Herkunft oder Land zu klassifizieren, überraschte mich ein Assistenzsarzt, welcher wohl sah, daß ich nicht Talent und Fähigkeit entbehrte. Derselbe brachte mir spontaner Weise einen Arm voll französischer Literatur. Darunter befand sich auch eine alte französische Grammatik von Ahn, ehemaligem Professor für moderne Sprachen am Gymnasium zu Trier. Ich machte mich nun gleich daran. Aber bald legte ich das Lehrbuch wieder weg, so schwierig erschien mir die Materie. Immer versuchte ich es wieder, aber es kam mir vor, als sei ich wirklich geistig defekt. Das Begreifen war eben sehr hart für mich, der ich nicht einmal die deutsche Sprache gut kannte. Ich wußte nicht, was ein ‚Sprachteil‘ war und wieviel es deren gibt. Zudem auf der schlechtesten Abteilung, in diesem unruhigen Milieu, kam ich nur sehr schwer vorwärts, aber ich hatte Liebe zum Lernen, Energie und Ausdauer, und machte mit der Zeit trotz aller miserablen Aufenthaltsbedingungen Fortschritte. Auch arbeitete ich von der ersten Stunde an, wo ein solches Ansuchen an mich gestellt wurde, und wenn das erste Gutachten sagt, daß ich anfangs widerspenstig bei der Arbeit war, so ist die Wahrheit gröblich entstellt. Natürlich arbeitete ich nicht in der Schreinerei von der ersten Stunde an, sondern flocht anfangs Rohr zu einem fünffachen Zopfe. Die freie Zeit widmete ich den Studien der Sprache und der Lektüre von Büchern. So ging es bis zum September 1905, wo es dem fortwährenden Bemühen eines Arztes gelang, mich von dieser schlechtesten auf die beste Abteilung zu bringen. Darauf kam ich auch in die Schreinerei, wo ich zur Zufriedenheit arbeitete, denn ich konstruierte einen Schrank, ein Bett usw. ebensogut, als ich eine Zimmerarbeit ausführte.“
„In jener Zeit erfuhr ich auch den ersten ‚Ehebruch‘ meiner Frau, den ich ohne jede Erregung entgegennahm, da ich die Gewißheit erlangte, daß jene Gerüchte vom Selbstmorde derselben falsch waren. .
Ich erbat noch im Dezember 1905 einen anderen Aufenthaltsort. Obwohl die beste Abteilung für ‚dritte Klässer‘, so war sie doch noch unruhig und mit der hiesigen nicht zu vergleichen. Ich erhielt ein ‚Zimmer‘ zur ebenen Erde und konnte so meine freie Zeit recht gut ausnützen, um mich weiter zu bilden. Das Wort ‚Bildung‘ oder ‚Wissen‘ hatte schon einen Wert für mich und ich hatte eine große Freude, wenn ich mich im Beherrschen einer Aufgabe sicher fühlte.“
„Im Januar 1906 wurde der erste Entlassungsantrag gemacht, welcher abgelehnt wurde, ebenso wie, als ich um die Begünstigung des ‚Ausgehens‘ bat, die einige Arbeiter hatten. Ich dachte in diesem Moment nicht an die Flucht, erst dann nach vergeblichem Wiederholen meiner Bitte bin ich am 16. April 1905 mittels Nachschlüssel, als es 12 Uhr geschlagen hatte, aus diesem Zimmer fort. Ich bekam in der Nacht noch Geld in Bayreuth und fuhr morgens mit dem ersten Zuge von dem nächsten Bahnhof ab über Eger nach Wien.“
„In Wien bekam ich einige Tage später Arbeit, erst in der Simmeringer Hauptstraße, dann in der Donau-Regulierungskommission am Handelsquai. In letzter Stellung war ich der einzige Zimmermann, hatte 20 bis 25 Arbeitern die Arbeiten anzuweisen, hatte die Schlüssel zu den Gerätschuppen, mit einem Worte, ich war technischer Leiter und Aufsichtsperson. Meine Arbeit führte ich zur vollsten Zufriedenheit der vier Ingenieure, unter deren Befehle ich stand, aus. Ich hatte ohne Zweifel Lebensstellung und meine Führung wurde ganz entsprechend eingerichtet, wie überdies auch mein moralisches Verhalten zu keinem Tadel Anlaß gab. Kam die fatale Ansichtskarte, eine piece d’amitie (Freundschafts- oder Zuneigungsstück), die diese hoffnungsvolle Zukunft zu Schanden machte.“
„Wenn auch das erste Gutachten sagt, daß ich mich anfangs gut führte, bis ich mich wieder dem Trunke ergab, nichtsdestoweniger bleibt es wahr, daß ich ohne einen Vorwurf von Wien abging und nicht einmal ein Schein jener Behauptung vorhanden ist. Ich habe mich darüber mit dem Gerichte und dem ersten Begutachter auseinandergesetzt, aber keiner will jenen Passus hinein eskamotiert (eskamonieren = zum Verschwinden bringen, entweder durch einen Trick oder aber durch wortreiches, geschicktes Verschleiern,Taktieren oder Negieren) haben.“


3. Das Entmündigungsverfahren.

Auf Antrag der Gattin des Voigt gab der Anstaltsdirektor Dr. Krausold dem Gerichte ein Gutachten über die Handlungsfähigkeit des Voigt am 12. I. 1908 dahingehend ab, daß Voigt an einer epileptischen Seelenstörung auf alkoholischer Basis mit hereditärer und traumatischer Beimischung leide und daß er einerseits für seine unter dem Einflusse von Alkohol verübten Handlungen unzurechnungsfähig, andererseits auch unfähig sei, die Folgen seiner Handlung zu überlegen. Auf Grund dieses Gutachtens wurde Voigt am 21. I. 1908 entmündigt. Gegen den Entmündigungsbeschluß erhob er durch einen Vertreter die Anfechtungsklage. Im Verlaufe des Entmündigungsverfahrens wurde Voigt durch den Oberarzt Dr. Wagner und Prof. Binswanger untersucht. Oberarzt Dr. Wagner resumierte am 14. IX. 1908 die Ergebnisse seines Gutachtens wie folgt:
„Da Anfälle epileptischen Irreseins ganz zurückgetreten sind, die Schrullen und Besonderheiten des Voigt als Ausdruck seiner degenerierten Veranlagung eine Geistesschwäche nicht anzunehmen gestatten, Voigt vielmehr seine Ziele konsequent zu verfolgen weiß, ein hohes Maß von Selbstbeherrschung aufweist, sich seiner Lage voll bewußt ist, 4 Monate hindurch außerhalb der Anstalt einwandfrei fortgelebt hat, ist bei Voigt weder eine Geisteskrankheit noch eine Geistesschwäche in dem Sinne vorliegend, daß er seine Angelegenheiten nicht selbst zu besorgen in der Lage wäre."
Zu einem ganz anderen Resultate gelangte Prof. Binswanger, dessen Gutachten hier auszugsweise wiedergegeben wird:

I.

... „Im Anfange seines Aufenthaltes wurden noch vereinzelte Sinnestäuschungen beobachtet, späterhin war nur noch eine abnorme Reizbarkeit bemerkbar und seit Jahren ist auch diese geschwunden. Zur Zeit finden sich nur noch allerlei Absonderlichkeiten und Schrullen, wie sie Oberarzt Dr. Wagner in seinem Gutachten schildert und sie als Äußerung einer psychopathischen Anlage bezeichnet. Voigt lebt seit Jahren freiwillig abstinent (Voigt war seit dem 24. Oktober 1904 abstinent.). Schon seit mehreren Jahren tritt er mit der Behauptung hervor, er leide überhaupt nicht an Epilepsie, er habe Anfälle nur dann simuliert, wenn er etwas Bestimmtes habe bezwecken wollen, so beim Militär (Während der Flickstunde habe er sich vom Schemel herabfallen Iassen, habe die Faust geballt, einige Zuckungen mit den Beinen gemacht und auch etwas Speichel auf die Lippen laufen lassen, dann habe er es ruhig geschehen lassen, daß er auf das Bett gelegt und entkleidet wurde. Während er den Anfall simulierte, habe er die Kameraden sprechen gehört. Hierauf sei er eingeschlafen.) und in der psychiatrischen Klinik zu Jena. Diese Angaben des Voigt sind jedoch als frei erfunden anzusehen, denn gegen sie sprechen einmal die von den beiden Vorgutachten erwähnten Gründe, sodann ist aber in dem Akte ein vierter typischer Anfall des Voigt erwähnt, von dem dieser nichts zu wissen scheint. Es bezeugt nämlich der prakt. Arzt Althans ausdrücklich, daß er bei Voigt einen epileptischen Anfall beobachtet habe, der mit Aufhebung der Pupillenreaktion einherging (In dem Akte des Landgerichtes Meiningen findet sich die Äußerung eines Dr. Althans, er habe bei Voigt einen epileptischen Anfall mit Pupillenstarre gesehen.). Letzteres Symptom nun kann nicht simuliert werden und ist typisch für epileptische Anfälle. Auch für den in der Anstalt zu Hildburghausen beobachteten unvollständigen Anfall vermochte Voigt keine Erklärung abzugeben.“

II.

„Die körperliche Untersuchung ergab auch jetzt einen vollkommenen normalen Befund. Geistig zeigte sich Voigt während seines Aufenthaltesin der Klinik dauernd orientiert und besonnen. Seine Schulkenntnis steht jetzt sicher über der seines Standes. Er übersetzt einen schwierigen französischen Aufsatz ohne Lexikon fließend in das Deutsche. Auch sein Gedächtnis sowie seine Urteilsbildung sind recht gut. Wie jedoch schon Dr. Wagner angibt, versagt seine Urteilsbildung fast völlig, sowie Voigt auf seine eigenen Verhältnisse, vor allem seine Straftat zu sprechen kommt. Trotz energischen Hinweises auf die Folgen, welche eine Wiederaufnahme des Verfahrens für ihn haben kann, glaubt er nicht an eine ernstliche Bestrafung, er meint, daß die Richter in Anbetracht seiner sozialen Lage und der Bildung, die er genossen habe, die größte Milde zeigen würden. Ferner ist von großem Interesse, daß auch jetzt noch Voigt sich der Einzelheiten seiner Tat nicht erinnert, und sich bei Erzählung derselben in Widersprüche verwickelt... .“

III.

„Aus dem Gutachten der beiden behandelnden Ärzte und unserer eigenen Beobachtung ergibt sich, daß bei Voigt keine epileptischen Anfälle wieder aufgetreten und daß auch Affektbewegungen in den letzten Jahren fast völlig geschwunden sind. In Übereinstimmung mit den Bayreuther Ärzten beziehen wir diese Besserung auf das geregelte Anstaltsleben und die Enthaltsamkeit von Alkohol. Wie oben erwähnt, muß jedoch mit absoluter Sicherheit daran festgehalten werden, daß bei Voigt seinerzeit epileptische Anfälle vorhanden gewesen sind. Trotz der sicher vorhandenen, bedeutenden Hebung der Intelligenz und der Äußerungen der Affektreaktionen haben wir uns vor allem im Hinblick auf die jetzige wahrheitswidrige Darstellung der Vergangenheit und die Einsichtslosigkeit für die Tragweite und Strafbarkeit seiner Handlungen nicht überzeugen können, daß die konstitutionelle psychopathische Veranlagung des Voigt mit dem ausgeprägten ethischen Defekte eine wesentliche Änderung erfahren hat.
Wenn auch, wie aus dem Urteile des Reichsgerichtes III. Z. S. vom 17. November 1896 hervorgeht, Gemeingefährlichkeit in Verbindung mit einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit an und für sich keinen Grund zu einer Entmündigung nach § 6 BGB. bietet, so halten wir doch in vorliegendem Falle im Hinblick auf die erwähnte chronische krankhafte Veranlagung und die dadurch gegebene Möglichkeit, daß in jedem Augenblicke auf dem Boden dieser Veranlagung durch das Zusammentreffen verschiedener schädigender Momente wieder neue Ausbrüche seines epileptischen Leidens, sowie Dämmerzustände oder gewalttätige Erregungen auftreten können, seine Geschäftsfähigkeit für derart vermindert, daß er im Sinne des § 6 bzw. 114 BGB. für geistesschwach und einem Minderjährigen gleich zu stellen ist. Unser Schlußurteil geht daher dahin, daß Voigt am 21. Jänner 1908 gemäß § 6 BGB. wegen Geistesschwäche außer Stande war, seine Angelegenheiten zu besorgen.“

Das Gericht hob die über Voigt verhängte Kuratel auf und Voigt wurde im Oktober 1909 aus der Irrenanstalt als geheilt entlassen.

4. Nach der Entlassung aus der Irrenanstalt.

Voigt begab sich sohin nach Nürnberg, arbeitete dort bis Ende 1909, fasste dann den Plan über Wien in die Türkei zu reisen. In Wien fand Voigt bei der Donauregulierungs-Kommission Arbeit, ließ den Plan der Reise in die Türkei wieder fallen und blieb in Wien bis zu seiner neuerlichen Verhaftung.
Wie nachträgliche Erhebungen ergaben, hatte Voigt in Wien die Beziehungen zu einer Köchin namens Lichteneger, mit welcher er schon bei seinem ersten Aufenthalte in Wien verkehrt hatte, wieder aufgenommen.
Dieselbe berichtet, daß Voigt in seinem Sexualleben ganz normal war, daß sie sich mit ihm aber entzweit habe, da er auch mit anderen Mädchen verkehrt habe. Es wurde festgestellt, daß Voigt in Wien tatsächlich gleichzeitig mit 2 Köchinnen Verhältnisse unterhielt und, soweit sich feststellen ließ, auch 3 mal Prostituierte besuchte. Bei einer derselben infizierte sich Voigt mit einer Gonorrhoe.

Die Gonorrhö (GO) ist eine durch Infektion mit Neisseria gonorrhoeae hervorgerufene sexuell übertragbare Erkrankung (STD). Der Erreger wurde 1879 von Albert Neisser entdeckt.
Gonorrhö heißt "Samenfluss", da man das eitrige Sekret früher fälschlicherweise für Sperma hielt. Der Name geht auf Galen zurück.
Die Gonorrhö war bis zur Einführung der Antibiotika in die Therapie eine gefürchtete Geschlechtskrankheit. Mit der Verbreitung der Penicilline nahm die Inzidenz der Gonorrhö in den 1950er Jahren deutlich ab.

Auch mit Prostituierten scheint Voigt in normaler Weise verkehrt zu haben. Voigt selbst leugnet, außer mit der Lichteneger in Wien irgendwelche ständige Beziehungen gehabt zu haben, gibt aber zu, eine Infektion bei einer Prostituierten acquiriert zu haben.
Einer Begegnung mit einer Prostituierten, über welche Voigt seinen Arbeitskollegen Mitteilung gemacht haben soll, sei noch Erwähnung getan (Voigt behauptet, diese Begegnung mit einer Prostituierten habe ein anderer Arbeitskollege gehabt und dieser habe auch den übrigen Arbeitern die Geschichte von dem mit Nägeln zusammengehefteten Rocke erzählt.). Voigt erzählte in Wien seinem Arbeitskollegen, dem Wächter Resnizek, er habe einer Prostituierten die Röcke aufgeschnitten, und dieselben dann wieder mit Nägeln zusammengeheftet. Auch dem Gerüster Kaliwoda erzählte er von diesem Vorfalle, allerdings in einer anderen Version, er sei einer Prostituierten begegnet, welche die Röcke aufgeschnitten hatte, er habe ihr nun die Röcke statt mit Nadeln mit Zimmermannsnägeln zusammengeheftet.


6. Der zweite Lustmord.

Am Sonntag den 14. August 1910 gegen 1/4 10 Uhr vormittags wollte sich der unterstandslose Hilfsarbeiter Emil Götz in der Binderau zu Wien ins Gras legen, als er unter einem Gebüsche eine Frauensperson mit entblößtem Unterkörper liegen sah. Er blickte näher hin und sah zu seinem Schrecken, daß die Frau eine schwere Schnittwunde am Halse hatte. Bei näherer Betrachtung erkannte er, daß die Frauensperson schon tot sei.

Die amtliche Besichtigung der Leiche und die vorgenommene Obduktion der Leiche ergab, daß die Frauensperson in grauenvoller Weise mit einem Messer zerschnitten worden war. Die Gerichtsärzte Prof. Dr. Reuter und Dozent Dr. Meixner berichten in ihrem Gutachten vom 29. August 1910 hauptsächlich über folgende Verletzungen, welche an der Ermordeten, und Beschädigungen, welche an deren Kleidern konstatiert wurden.


I. Verletzungen am lebenden Körper.

A.) 4 Stichwunden -

  • a) Auf der Vorderseite.
  1. Der oberste Stich dringt durch den Knorpel der zweiten rechten Rippe in den Brustraum, durchbohrt den Oberlappen der Lunge und schlitzt den Herzbeutel weit auf.
  2. Der untere Stich dringt durch den dritten Zwischenrippenraum ein nnd durchbohrt den rechten Vorhof des Herzens zweimal.
  • b) An der Rückseite.
  1. Der obere Stich dringt in die Rückenmuskulatur.
  2. Der tiefere Stich dringt durch den langen Rückenstrecker unter der zwölften Rippe in einem langen Kanal bis zur Niere.


B.) Eine Schnittwunde - an der rechten Seite des Halses, welche die Kopfschlagader und die Drosselvene der rechten Seite eröffnet. Die sämtlichen sub A und B beschriebenen Wunden sind, wie das Gutachten unter Angabe von Gründen ausführt, dem lebenden Körper beigebracht worden und zwar nach der Form der Wunden mit einem scharfen, messerartigsen Werkzeuge, etwa mit einem kräftigen Taschenmesser und zwar wahrscheinlich alle mit demselben Messer. Das Gutachten bemerkt weiter, daß die Stiche, besonders die beiden Stiche in den Rücken mit beträchtlicher Gewalt ausgeführt worden sein müssen, während das Messer bei Zufügung der Halswunde der Beschaffenheit ihrer Ränder nach nicht in einem Zuge geführt wurde, sondern mehreremal ausgefahren ist. Die Sachverständigen erklären, daß zuerst die Stiche in den Rücken erfolgten, dann die Stiche in die Brust zugefügt wurden und hierauf erst die Schnittwunde am Halse beigebracht wurde.

C.) An der Vorderseite - des Halses befinden sich einzelne blaue Flecke, ein Bruch des Zungenbeines mit Blutaustritten in die Umgebung der Bruchstelle. Diese Verletzungen weisen auf einen Würgeakt hin, der zweifellos an der lebenden Person vorgenommen wurde, von dem sich jedoch nicht feststellen läßt, in welchen Zeitpunkt derselbe fällt.

Das Mordopfer Josefine Peer mit ihren schweren Verletzungsspuren.


II. Verletzungen, die der Leiche zugefügt wurden.

  1. Ein Schnitt, der die Nase vom Gesichte abhebt.
  2. Ein mächtiger, beide Brüste umkreisender, vielfach zackige Ränder aufweisender, mehrfach ausfahrender Schnitt, mit welchem beide Brüste als großer zusammenhängender Lappen bis an den Hals hinauf vom Brustkorbe abpräpariert sind.
  3. Über 35 Schnittverletzungen des Bauches, von welchen einige die Bauchhöhle eröffnen, während andere oberflächlicher Natur sind.
  4. Ein tiefer Schnitt in der Mittellinie beginnend in der hinteren Scheidenwand, den Beckenboden und Mastdarm durchtrennend und sich in der Afterfurche bis zum Kreuzbein hinziehend. Diese Verletzung ist offenbar in der Weise ausgeführt worden, daß ein schneidendes Werkzeug in die Scheide der Leiche eingeführt, und der Schnitt nach rückwärts geführt wurde.
  5. Schnittwunden an beiden Gesäßbacken, welche gegenüber den Schnitten an der Vorderseite der Leiche durch die Schärfe und den geraden regelmäßigen Verlauf ihrer Ränder auffallen, daher wahrscheinlich früher als die Schnitte an der Vorderseite mit noch weniger abgestumpftem Messer erzeugt worden sind.
  6. Der Dünndarm weist mehrere schlitzförmige Durchtrennungen auf, aus deren Lage und Beschaffenheit hervorgeht, daß das Instrument auch stechend oder bohrend in die Bauchwunden eingedrungen ist.

III. Die Beschädigungen der Kleider der Ermordeten.

Die Sachverständigen stellen fest, daß die ihnen zur Untersuchung übergebenen Kleider der Ermordeten zum Teile zerrissen, zum Teile zerschnitten worden sind und bemerken hierzu im einzelnen: „Die linke fehlende Hälfte der Bluse ist abgerissen, das Hemd an seiner linken Seite längs der Naht vollständig aufgerissen. Vom vorderen Teil des Hemdes fehlt links oben ein großes Stück mit der vorderen Schulterspange". Ober- und Unterrock sind vorne und hinten auf große Strecken aufgeschnitten. „Nur die Stiche im Rücken der Bluse und des Hemdes stehen in Übereinstimmung mit den Wunden an der Leiche. Am Hemd und Rocke finden sich außerdem noch mehrere kurze Schnitte ohne irgendwelche Übereinstimmung mit den Verletzungen des Körpers."
Die Sachverständigen ziehen aus diesem Befunde an den Kleidern der Ermordeten unter anderem auch den Schluß, daß die Ermordete am Oberkörper bekleidet war, als sie den Stich in den Rücken erhielt, während die übrigen Verletzungen wohl sämtlich den bloßen Körper getroffen haben. Die Feststellungen der Sachverständigen über die Blutspuren an den Kleidern usw. und deren Bedeutung für die Frage, welche Verletzungen am lebenden Körper und welche der Leiche zugefügt wurden, sind für die vorliegende Darstellung des Falles weniger von Bedeutung. Die Sachverständigen betonen weiter, daß Zeichen eines Kampfes an der Leiche nicht nachzuweisen sind. Es wurde festgestellt, daß die Tat selbst nicht am Auffindungsorte der Leiche, sondern in oder bei einem Kassahäuschen des nahen
Sportplatzes begangen worden sein musste.
Am Tatorte wurden einige für die Strafuntersuchung wichtige offenbar vom Täter verlorene Gegenstände gefunden. Zirka 300 Schritte vom Tatorte entfernt, in der Nähe eines Zaunes, wurde auf einem Gebüsche eine weiße, blutbefleckte, spitzenbesetzte Schürze mit Achselbändern und ein Teil einer Bluse, der mit dem an der Leiche befindlichen Reste übereinstimmte, gefunden. Der Lokalaugenschein zeigte, daß der Täter die Leiche offenbar über die Straße in das Gebüsch, in welchem sie nachher aufgefunden wurde, geschleppt haben musste.
Die Ermordete wurde als eine Prostituierte namens Peer agnosziert. Noch im Zuge der Erhebungen am Tatorte, gelangte zur Kenntnis der Polizei, daß in der Umgebung ein Mann, namens Voigt bekannt sei, welcher wegen eines in Deutschland verübten Lustmordes schon einmal in gerichtlicher Untersuchung gestanden und in der Werkstätte der Donauregulierungs-Kommission als Zimmermann beschäftigt sei.

Erkennungsdienst der Polizei vom 15.8.1910 - der Tatverdächtige Christian Voigt.

Christian Voigt wurde am 16. August 1910 bei der Polizei einem Verhöre unterzogen und stellte jede Schuld in Abrede. Als durch die verschiedenartigsten Indizien und aufgefundenen Gegenstände, endlich durch ein daktyloskopisches Gutachten (Abdruck eines Handballens auf der Schürze der Ermordeten) Voigt der Tat bereits geradezu überwiesen war, schritt er zu einem Geständnisse des Tatsächlichen, welches er auch bei Gericht dem Untersuchungsrichter und später den Psychiatern gegenüber wiederholte:
Er sei am 13. August gegen 6 Uhr abends aus der Arbeit beim Donauhafen in seine in der Dresdnerstraße gelegene Wohnung gekommen und habe sich in derselben umgekleidet. Von zu Hause sei er zunächst in die Zahlstelle der „Organisation“ gegangen, habe seinen Beitrag gezahlt und zwei Krügel Bier getrunken; dann wollte er zum Rendezvous mit der Lichtenegger. Diese sei nicht an die vereinbarte Stelle gekommen. Nahe der Brigittabrücke habe er dann noch zwei Krügel Bier getrunken. So sei die Nacht hereingebrochen. Nach 10 Uhr sei er langsam ohne weitere Absichten „in den Prater (Der Prater ist ein sehr großes aus Wiesen und Wäldern bestehendes, an den Häuserblock des zweiten Bezirk Wiens sich anschließendes Terrain. Er wird seiner Länge nach durch die Hauptallee in zwei Teile geteilt. Von der Stadt aus gesehen liegen rechts von der Hauptallee größtenteils Wiesen, von welchen die „Schlachthausbrücke" in den zum dritten Bezirk gehörigen, „Erdberg“ genannten, an der Peripherie Wiens gelegenen Stadtteil führt. Von der zu Korsofahrten benützten, eleganten „Hauptallee" führt eine Straße nach links in die Maierei „Krieau". Der Prater ist ein von allen Ständen vielbesuchter Ausflugs- undVergnügungsort. Die obenerwähnten Teile des Praters sind bei Nacht einsam und werden um diese Zeit gerne gemieden.) schlendert“, um zu „gaffen“. Dort habe er einen Bekannten und zwei Freunde desselben getroffen, mit denen er zuerst ein Gartenrestaurant aufsuchte, wo er ein Krügel Bier getrunken habe. Dann sei er mit der Gesellschaft nach Erdberg gegangen, wo er in einem Gasthause mindestens zwei Krügel Bier getrunken habe. Endlich kehrte er in einem Kaffeehause nahe der Schlachthausbrücke ein. Dort habe er nur einen Kaffee getrunken. Sohin trennte er sich von seiner Gesellschaft, deren Teilnehmer nicht eruierbar waren. Er sei nun in den Prater gegangen. Dort wollte er, da die Nacht schön war, ein paar Stunden schlafen. Auf der Wiese nahe der Brücke habe er nun plötzlich die Umrisse einer Gestalt erblickt. Gegen seine Gewohnheit packte ihn Furcht an. Er eilte also weiter der Hauptallee zu. Doch die Gestalt kam näher und näher. Es war eine Frauensperson, die ihm bis dahin unbekannte Peer, In der Nähe der Hauptallee sprach sie ihn an und bat ihn, da sie unterstandslos sei, mit ihm gehen zu dürfen. Er aber habe gefürchtet, daß etwa ein Zuhälter des Mädchens in der Nähe lauere und habe, da er damals kein Messer bei sich trug, ein rascheres Tempo eingeschlagen. Das Frauenzimmer habe sich aber an seine Fersen geheftet, klagte über ihre Not, über ihren Spitalsaufenthalt usw. (Es ist richtig, daß die Peer eine Zeit vorher wegen einer venerischen Krankheit im Spital gelegen ist.) Er habe immer abgelehnt, sie mitzunehmen. Bei der Kriau sei er sogar schon grob geworden, da schon Behausungen in der Nähe waren und er daher Mut faßte. Er habe ihr ins Gesicht gespuckt, um sie zu vertreiben. All dies habe aber nichts genützt. Sie sei nicht von seiner Seite gewichen. Im bewohnten Rayon angelangt, sei er, um sie radikal los zu werden, in ein Cafe gegangen. Als er nach 15—20 Minuten herauskam, habe die Peer etwa 150 Schritte weit auf ihn gewartet. Als er an ihr vorbeiging, habe sie ihn wieder angesprochen. Dies sei gegen 3 Uhr gewesen. Um sie wieder los zu werden, denn er hatte damals wegen seiner Gonorrhoe absolut keine Lust, mit ihr die Nacht zuzubringen, habe er zu einer List seine Zuflucht genommen. Er flüchtete rasch in den nahen Kricketplatz. Die Peer, eine kräftige Person, groß und stark (das Obduktionsprotokoll nennt sie nur mäßig kräftig, mittelgroß), sei ihm aber nachgekommen. Nun habe er den Kricketplatz verlassen wollen. Sie aber lamentierte, redete vom „Hinlegen“, habe ihm den Kopf verdreht und ihn nicht fortgelassen und so sei er geblieben. Geschlechtliche Erregung habe er nicht verspürt. Sie legte sich alsdann auf den Boden. Er habe das gleiche getan in der Hoffnung, sie werde einschlafen und er könne dann das Weite suchen. Tatsächlich habe er nach etwa 10 Minuten weggehen wollen. Sie aber habe noch nicht geschlafen und sprang gleich in die Höhe, nahm ihn mit beiden Händen um den Hals, bat ihn, er solle ihr das nicht antun. Er habe das Gefühl gehabt, daß das Mädchen sehr stark sei denn er habe sie nicht von seinem Leibe weggebracht. Während er sie umarmte, habe er an ihrer Seite einen harten Gegenstand getastet. Er habe sie nun gefragt, was das für ein Gegenstand sei. Sie antwortete, dies sei eine Schere. Er habe ihr in die Tasche gegriffen und den Gegenstand herausgezogen, da habe er erkannt, daß es ein zirka 12 cm langes Messer in einer Holzschale war. Nun sei ihm der Gedanke gekommen, daß die Peer das Messer offenbar für ihn bestimmt habe. Dadurch habe sich sein Ekel, den er schon vorher vor ihr empfunden habe, noch gesteigert. Er sagte ihr, er werde sie stechen, wenn sie ihn nicht sofort loslasse, und, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleiben, habe er sie von rückwärts gestochen (Ein anderes Mal sagte Voigt, er habe geglaubt, das Messer sei für einen unlauteren Zweck bestimmt, etwa für einen Mord oder zum Taschenabschneiden. Um sie los zu werden, wollte er ihr nun Schmerzen zufügen; deshalb habe er sie mit dem Messer in den Rücken gestochen. Als er des Messers ansichtig geworden sei, sei er nämlich furchtbar aufgeregt gewesen und in einen Wutparoxysmus geraten.). Lautlos sei sie umgefallen, mit dem Oberkörper in das Kassahäuschen hinein. Wie er nun so das Messer angesehen habe und über das Erlebnis nachgedacht habe, da habe ihn der Zorn überkommen, er habe blindlings auf die, wie er meinte, vielleicht noch röchelnde Person etwa ein paar Minuten lang eingestochen. Daß er Körperteile abpräpariert hätte, oder Kleidungsstücke aufgerissen, aufgetrennt oder zerschnitten habe, glaube er nicht. „Ersteres könnte durch Stich oder Riß zustande gekommen sein.“ Da er gesehen habe, daß die Situation eine unmögliche sei, habe er die Leiche am Boden in die Binderau etwa 10 Schritte weitergeschleppt (Voigt sagte den Psychiatern diesbezüglich, der Platz für die Lage der Leiche sei ein unpassender gewesen und er habe die Leiche über die Straße in das Gebüsch getragen, damit sie leichter gesehen und bestattet werde.), dabei mögen sich die Kleider an der Leiche gerollt haben und gerissen sein. Da der Tag schon zu dämmern begann, sei er etwa 1 Stunde herumgegangen. Hierauf sei er zuerst in einen Brot- und Milchladen, wo er eine Zeitlang geblieben sei und Milch getrunken habe, dann sei er zur Wäscheputzerin gegangen. Er dachte über das Vorgefallene nach und sei überzeugt gewesen, das Frauenzimmer habe es am Ende auf ihn abgesehen gehabt. Anfangs habe er dann gedacht, sich selbst zu stellen, sei aber davon abgekommen. Hiezu hätte er ja noch Zeit gehabt. An ein Aufkommen der Sache habe er nicht gedacht. Er betont bei einer anderen Einvernahme, er sei neben der toten Peer noch ungefähr 1/2 Stunde gestanden, habe aber keine Reue empfunden, im Gegenteil, er habe das Scheusal bis zum äußersten gehaßt. Er habe sie betrachtet und sich gedacht, ob sie auch wirklich tot sei und keinen Mann mehr beleidigen könne. Er fügte bei, daß er ihr, wenn sie sich noch geregt hätte, noch einen Stich versetzt hätte. Auch in der Früh habe er über das Vorgefallene nachgedacht, es sei ihm die Irrenanstalt in den Sinn gekommen. Er dachte sich, die Öffentlichkeit werde sagen, die Tat habe ein Irrer begangen. Dies sei aber nicht richtig. Er habe die Tat weder in einem krankhaften noch in einem berauschten Zustande begangen. Seine Tat sei ein Akt der Verzweiflung gewesen. Er habe sich redlich bemüht, allein zu sein.
Josefine Peer wurde von den einvernommenen Auskunftspersonen als eine ruhige und friedliche Person geschildert. Nach den gepflogenen Erhebungen besaß die Peer ein Küchenmesser, wie Voigt es ihr aus der Tasche genommen und zum Stechen verwendet haben will, überhaupt nicht. Wohl aber bestätigen Zeugen, bei Christian Voigt am Tage der Tat ein Schnappmesser gesehen zu haben.

Bemerkt muß nur noch werden, daß in der Scheide und im Scheidenschleim der Peer Samenfäden nicht gefunden wurden. Die Wäsche des Voigt war nach seiner Verhaftung nicht in der Richtung untersucht worden, ob sich Spuren eines Spermaergusses vorfinden.
Im Laufe der strafgerichtlichen Untersuchung wurde der Geisteszustand des Voigt neuerlich einer eingehenden Prüfung (Sept. 1910 bis Februar 1911) unterzogen.

2.

Als Sachverständige fungierten die Landesgerichtsärzte Privatdozent Dr. Ad. Eltzholz als Ref. und Prof. Dr. Emil Raimann als Correferent. Während der monatelangen Untersuchungshaft in Wien wurde kein epileptischer Anfall beobachtet. Voigt benahm sich in der Haftzelle ruhig, zeigte in seinem Betragen nichts Abnormes und kam es während der ganzen Untersuchungshaft zu keinerlei Konflikten zwischen ihm und Mithäftlingen oder Aufsehern. Auch den Psychiatern gegenüber, sowie später den Referenten der Fakultät gegenüber, benahm er sich ruhig und zuvorkommend. Nur einmal unterdrückte er mühsam eine zornige Aufwallung, als die Sachverständigen ihm, der stets behauptete, kein Epileptiker zu sein, vorhielten, wie ernst die Situation für ihn sei, falls sich seine Zurechnungsfähigkeit herausstellen würde.
Vor Erstattung des Gutachtens seitens der Psychiater richtete Voigt aus der Untersuchungshaft an die Staatsanwaltschaft am 7. Juli 1911 eine Eingabe folgenden Inhaltes:
„Ich bin schon 11 Monate in Untersuchungshaft und schon 10 Monate unterliegt mein Fall der Erkenntnis der Herren Psychiater. Ich protestiere nicht gegen die Länge dieser Haft, aber ich protestiere im voraus gegen ein psychiatrisches Gutachten, welches meine Verantwortlichkeit verneinen würde und geeignet wäre, mich meinen allein zuständigen Richtern zu entziehen. Es scheint, daß ich von den Herren Psychiatern zum „psychologischen Probleme“ erhoben wurde, und doch braucht man kein Psychiater zu sein, um konstatieren zu können, daß man es während dieser langen Untersuchungsdauer mit keinem Geisteskranken zu tun hat.
Welches ist die Psychose der täglichen Beobachtung?
Die freiwillige Unterweisung zur Disziplin. Und ich folge nur dem Diktat meines Gewissens, wenn ich der k. k. Staatsanwaltschaft erkläre, daß außer an jenem unglücklichen Tag vor 9 Jahren in keinem Momente meines Lebens meine geistigen Fakultäten alteriert waren. Wie weit man auch die Subtilität in der Psychologie treibe, man kann einem Übeltäter, welcher sich der Verantwortlichkeit seiner Handlung bewußt ist, die Anklage nicht verweigern. Ich bitte die k. k. Staatsanwaltschaft, diesen antizipierten Protest zur Berücksichtigung entgegenzunehmen und in Konsequenz zu handeln.“

Die Sachverständigen berichten in ihrem umfangreichen Befunde, daß Voigt ein auffallend prompt funktionierendes, zuverlässiges Gedächtnis zeigte, daß sich in seinen Ausführungen logische Mängel nicht bemerkbar machten und daß er unverkennbar bestrebt sei, durch gewählte Ausdrucksweise und gelegentliche Anwendung von Fremdwörtern eine gute Meinung von seinen Kenntnissen beizubringen. Den Fall Schilling versuchte er ganz harmlos darzustellen. Das Mädchen, das mit ihm geschlechtlich verkehrt habe, habe die phantastische Geschichte von seinem gewalttätigen Vorgehen aus Angst vor ihrem Geliebten erfunden.
Über den ersten Lustmord Protovsky berichtete er in etwas abweichender Weise: „Am Tage der Tat habe er in der Früh vor 6 Uhr viel Schnaps getrunken, auch in der Zeit zwischen 6 und 10 Uhr habe er getrunken. Um 10 Uhr vormittags fühlte er sich zur weiteren Arbeit unfähig, legte sich im Trockenraume des Dampfsägewerkes, in welchem er beschäftigt war, nieder und schlief ein. Gegen 2 Uhr nachmittags erwachte er und hatte heftige Kopfschmerzen, einen „Wirbel im Kopfe“, als wenn alles herumginge. Er erinnere sich, daß er dann ins Freie trat, Menschen auf der Straße gehen sah. Es kam ihm vor, als hätten Leute auf einer Wiese gemäht; er machte selbst den Versuch, mit den Leuten zu mähen, man nahm ihm aber die Sense aus der Hand. Was weiter geschehen sei, wisse er nicht. Was ihm davon bekannt sei, wisse er nur aus dem Protokolle. Als er in der Nacht zu sich kam, fand er sich im Freien. Es war stockfinster. Er suchte sich zu orientieren, lief 1—2 Stunden auf einer Wiese herum, begab sich hierauf in die Sägemühle, in welcher er beschäftigt war, legte sich dort unter die Bank einer Kreissäge, hörte dort die Zimmerleute von einem Morde sprechen, den der Zimmermann Voigt verübt haben soll, wartete in seinem Versteck aus Angst, er könnte verhaftet werden, das Hereinbrechen der Nacht ab und ging dann auf der Landstraße nach Heinersdorf, wo er verhaftet wurde. Er habe diese Tat in einem Zustande von Alkoholvergiftung begangen.
Den Mord an der Peer schildert er den Sachverständigen analog wie dem Untersuchungsrichter und bemerkt, daß er in einem Wutparoxysmus dem toten Körper etwa noch 36 Stiche beigebracht habe. Er habe oft und blindlings zugestochen, wie lange wisse er nicht. Die Kleider der Peer dürften beim Ringen zerrissen worden sein.
Über seine Schädeltraumen gibt Voigt an, daß ihm während der Lehrzeit mit 16 Jahren eine Schiefertafel auf das Hinterhaupt fiel, ohne daß er ernsthaft verletzt wurde, sonst wisse er von Schädeltraumen nichts. Was seine Epilepsie bzw. deren angebliche Simulation betrifft, bringt Voigt vor, er habe den Anfall beim Militär simuliert. Um dies den Sachverständigen glaubhaft zu machen, erzählte er denselben, er habe während des Anfalles seinen Kameraden ja sprechen hören! Der eine hätte gesagt, es sei dies die „hinfallende Krankheit“, ein anderer habe gesagt, es seien Krämpfe. Auch in Jena habe er epileptische Anfälle bloß vorgeschützt und zwar einen bei Tag und einen bei Nacht, um sich einen Milderungsgrund zu sichern. Er habe die Simulation aber bald darauf eingestanden und wiederhole dieses Geständnis, weil ihm die Simulation als eine leichtfertige Handlung erscheine. Er lege Gewicht darauf, daß er nicht als Epileptiker gelte. Wenn er früher ein Schwindler war, so müsse er es jetzt nicht sein. Er wolle sich nicht als Epileptiker internieren lassen, er wolle für seine Handlungen die Verantwortung tragen. Er habe an der Feststellung, daß er kein Epileptiker sei, jenes Interesse, daß man überhaupt an der Wahrheit habe.
Voigt, der, wie die Sachverständigen berichten, sich mit offenkundiger Selbstgefälligkeit in die Rolle eines Apostels hineinredete, fragte schließlich die Sachverständigen: „Warum soll ich das Leben für eine Lüge verkaufen?“ Er erklärte den Sachverständigen, diese seine fanatische Wahrheitsliebe datiere seit seinem Aufenthalte in der Irrenanstalt Bayreuth, wo er viel gelesen habe, wodurch er ein besserer Mensch geworden sei. Eine irgendwo aufgegriffene Lesefrucht augenscheinlich verwertend, reflektiert er weiter: „Jede Lüge im gesellschaftlichen Leben rächt sich ebenso wie jede Lüge im Leben des Individuums“. Auf die Frage, ob für ihn der Aufenthalt in den Irrenanstalten nicht besser war, als wenn er die ernsten Konsequenzen seiner Tat hätte tragen müssen, meint er, den einmal eingeschlagenen Ton festhaltend, materiell sei wohl der Aufenthalt in den Irrenanstalten gut gewesen, nicht aber in ideellem Sinne, weil er es hinterher sehr unangenehm empfand, daß er als gesunder Mensch ein Schwindler war: „Er hätte Gewissensbisse, seine Natur gefälscht zu haben. Nun wolle er kein Betrüger mehr sein, auch nicht um den Preis seines Lebens.“
Die Sachverständigen berichten über diese Unterredung weiter:
„Diese Deklamationen Voigts endeten schließlich mit einem schrillen Mißton, als ihm in unzweideutiger Weise vor Augen gehalten wurde, daß Taten, wie er sie verübt, von einem geistig gesunden Menschen nach unserer Gesetzgebung mit dem Tode gebüßt werden müssen. Daraufhin nahm das Gesicht Voigts einen sehr ernsten Ausdruck an, er warf dem ihn untersuchenden Arzte einen feindseligen Blick zu und murmelte in unwilligem Tone, wobei er sich hoch aufrichtete und vom Arzte unwillig abwandte, einige unverständliche Worte.“
Über den körperlichen Zustand des Voigt besagt der Befund:
„Voigt ist ein großer, kräftig gebauter Mann von gutem Ernährungszustande. Der Schädel ohne besondere Deformitäten, weist über der rechten Augenbraue eine zarte kleine, weiters an der Stirne und zwar an der Stirnhaargrenze eine etwa 5 cm lange derbere, endlich am linken Scheitelbein über dem linken Ohr 2 kleine, nicht druckempfindliche Narben auf. Die Ohren angewachsen. Der harte Gaumen steil. An der Zunge keine Narben. An beiden Vorderarmen Tätowierungen, rechts obszöner Art (nackte Frau), links Zimmermannswerkzeuge."

 Die  Tätowierungen an Voigts Vorderarmen.

Sohin erstatteten die beiden Gerichtsärzte ihr Gutachten.
Dasselbe betont in allererster Linie die hereditäre Belastung und die psychopathische Disposition des Voigt. Es bespricht die verschiedenen Schädlichkeiten (Noxen), welche auf Voigt eingewirkt haben, nämlich den Alkoholmißbrauch und die Schädeltraumen (Steinwurf gegen die Stirne, angeblicher Sturz bei einem Bau in Landau, Absturz beim Krankenhaus-Bau in Sonneberg). Über diese Schädeltraumen liegen die verschiedenartigsten Angaben Voigts und seiner Mutter vor.
Das Gutachten bemerkt, es liege die Annahme nahe, daß die hereditäre Disposition, der chronische Alkoholismus und die Schädeltraumen (s. Narben) zusammengewirkt haben können, um eine epileptische Veranlagung in Erscheinung treten zu lassen. Das Gutachten nimmt trotz der Behauptung Voigts, die Anfälle simuliert zu haben, an, daß der von Dr. Althans konstatierte Anfall mit Pupillenstarre, die Anfälle in der Klinik von Jena, sowie der Anfall beim Militär echte epileptische Anfälle waren. Auch der Anfall in Hildburghausen könne als ein unvollständiger epileptischer Anfall oder als Anfall einer sogenannten vertigo epileptica aufgefaßt werden. Die Sachverständigen besprechen nunmehr vom psychiatrischen Standpunkte den Fall Schilling und den Lustmord Protovsky und gehen dann über zur Besprechung des Falles Peer. Die Experten konstatieren weiters, daß der Fall Peer jedenfalls ganz anders liege als die Fakten Schilling und Protovsky, da Voigt, wie er behauptet, auf Grund eigener Erinnerung den Mord an der Peer eingesteht und nur bestrebt ist, einen Wutparoxysmus als das treibende Moment hinzustellen.
Für die Beurteilung des Geisteszustandes, in welchem Voigt die Tat verübt hat, wären nach Anschauung der Sachverständigen zwei Möglichkeiten theoretisch in Betracht zu ziehen. Die eine hätte damit zu rechnen, daß der Mord an der Peer ein Lustmord sein könnte, die andere damit, daß es sich um eine in einem Zustande epileptischer Geistesstörung oder epileptischen Affektes verübte Greueltat handle. Nach Rekapitulation sämtlicher die Sexualität des Voigt betreffenden Daten führt das Gutachten aus:
„Nicht unbeachtet kann die Geschichte mit dem Mädchen bleiben, dem Voigt das Kleid entzweigeschnitten und dann mit Nägeln zusammengeheftet, bzw. nach der anderen Version, dem er das aufgeschnittene Kleid mit Nägeln zusammengeheftet haben soll, eine Geschichte, welche Voigt offenbar im Kreise seiner Kollegen im Scherze erzählt hat, die aber doch geeignet ist, gewisse ihn möglicherweise beherrschende sadistische Gedankenkreise zu beleuchten. Hier ist insbesondere darauf hinzuweisen, daß bei den beiden Mädchen, die seiner Mordlust zum Opfer gefallen sind, Zerreißungen bzw. lange Schnitte an den Kleidern und an dem Hemde gefunden wurden. Es könnte das immerhin ein Fingerzeig sein, daß möglicherweise als Teilerscheinung einer schweren Form von Sadismus sich bei Voigt gewisse sadistische Handlungen finden, die bei manchen anderen Sadisten den ganzen Sadismus ausmachen. Es ist nämlich bekannt, daß es Sadisten gibt, bei denen das Zerschneiden von weiblichen Kleidern ein Äquivalent eines Geschlechtsaktes ist, das mit voller geschlechtlicher Befriedigung einhergeht.“
„Schließlich spricht ja vieles, was die Autopsie der Leiche der Peer ergeben hat, zugunsten eines Lustmordes. Wenn es lediglich ein Zornaffekt gewesen wäre, der den Voigt in blinder Weise gegen sein Opfer wüten ließ, wie er dies behauptet, so müßte man gemäß der Art, wie sich ein Wutaffekt äußert, zumeist durch Zustoßen mit dem Messer beigebrachte Wunden finden. Als solche präsentieren sich aber mehrere Verletzungen und speziell die Beschädigungen der Kleider der Peer nicht. Es ist darauf hinzuweisen, daß Voigt den Unterrock vorn mit einem langen Schnitte durchtrennt, daß er das Hemd der Peer an der Seite aufgetrennt hat, ein Vorgehen, das offenbar dazu bestimmt war, Körperteile bloßzulegen, um sie mit dem Messer zu bearbeiten. Nur so wird es begreiflich, daß er dazu kam, die beiden Brüste mit einem mächtigen Schnitte zu umschneiden und so von der Unterlage abzupräparieren, oder das Messer in die Scheide einzuführen und es dann nach rückwärts bis über das Kreuzbein hinaufzuführen. Auch ist das Zustandekommen der Würgespuren mit einem ausschließlichen Stechen mit dem Messer nicht zu erklären“ usw.
„Angesichts obiger Punkte sind aber auf der anderen Seite mehrere Momente zu erwägen, die mit der Annahme eines aus Sadismus entstandenen Lustmordes nicht ohne weiteres im Einklange stehen. Sadisten sind als Degenerierte vielfach dem periodischen Auftreten von geschlechtlichen Erregungen unterworfen, so daß sie Zeiten haben, in denen der Trieb mächtig ist, dann wieder Zeiten, wo sie geschlechtlich wenig erregbar sind. Gewöhnlich verhält es sich aber damit so, daß mit dem Auftreten geschlechtlicher Reize sofort sich auch die sadistischen Neigungen geltend machen. Bei Voigt ist es nun bei Annahme von Sadısmus befremdend, daß, wie berichtet wurde, er auch längere Zeit...mit einer Frauenspersonsperson geschlechtlich verkehrte, ohne daß sie irgendwelchen sadistischen Zug an ihm wahrgenommen hätte... Nun ist die Pathologie der Lustmörder allerdings nicht so genau bekannt, daß man behaupten könnte, mit allen hier vorkommenden Spielarten der Äußerungsweise der sadistischen Antriebe vertraut zu sein. Es wäre ja möglich, daß hauptsächlich unter dem Einflusse des Alkohols die sadistische Komponente bei der geschlechtlichen Erregung erst zur Geltung kommt, während im nüchternen Zustand die Bedingungen der geschlechtlichen Erregung normale sein können oder mindestens die Hemmungen so stark sind, daß etwaige sadistische Impulse unterdrückt werden. Für die Zeit der Voigt diesmal zur Last fallenden Tat darf wohl eine stärkere Alkoholisierung des Voigt angenommen werden, wenn auch ein Nachweis von dritter Seite nicht vorliegt.“
„Als eine Schwierigkeit für die Annahme von Sadismus könnte vielleicht auch gelten, daß man in dem Scheidenschleim der Peer keine Samentierchen fand und daß es sich diesmal um einen ebenso negativen Befund in bezug auf Spermatozoen gehandelt hat, wie im Falle Protovsky, welch letztere bei der Obduktion überdies als ‚virgo intacta‘ befunden wurde. Nun ist es richtig, daß zumeist die Lustmörder ihr Opfer geschlechtlich gebrauchen und bei ihrer Hypersexualität es erst zur Stillung ihrer Libido kommt, wenn sie ihr Opfer grausam behandeln und töten. Es gibt aber Sadisten, bei denen die Vollführung der Grausamkeiten an sich den Geschlechtsakt ganz ersetzt, wobei also die Grausamkeiten die Rolle eines Aquivalentes des Geschlechtsaktes darstellen.

In einer interessanten Arbeit „Über Lustmord und Lustmörder‘“ (Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform, II. Jahrg., Heft 10), führt Oberarzt Dr. Georg Ilberg aus, das Material ordne sich ganz von selbst nach folgender Disposition:

  1. Es komme an Stelle eines Koitus zur Tötung einer Person.
  2. Das Opfer werde tot gemacht und am halb- oder ganz toten Individuum werde eine immissio penis oder eine unzüchtige Handlung vorgenommen.
  3. Es finde zunächst ein erzwungener oder nicht erzwungener Koitus statt, während oder nach dessen Vollzug die sexuell gebrauchte Person getötet werde. ad 1—3. Mit Überlegung werde die Tötung in allen diesen Fällen nur selten ausgeführt. In der Regel seien die sog. Lustmorde keine Morde, sondern Lusttötungen.
  4. Besonders oft sei das Motiv soleher Tötungen, bei denen ein sexueller Mißbrauch stattfand, gar keine Betätigung perversen Geschlechtstriebs. Vielfach hänge sogar die Tötung einer sexuell mißbrauchten Person direkt gar nicht mit dem Geschlechtstrieb zusammen. Eine besondere Schwierigkeit bei der ganzen Frage liege natürlich darin, daß es sehr oft zweifelhaft sei, ob die Motive, die die Täter angeben, die richtigen seien.

In einem solchen Falle ist die Kette der Beweise für eine sadistische Tat dann geschlossen, wenn man in der Wäsche des betreffenden Individuums frisches Sperma nachweisen kann.

Meiner Anschauung nach legt das Gutachten des Doc. Dr. Eltzholz auf die Frage, ob es bei Voigt zu einer ejaculatio seminis gekommen ist oder nicht, viel zuviel Gewicht. Die subjektive Befriedigung des Geschlechtstriebes und die ejaculatio seminis fallen nicht immer zusammen. Es gibt Individuen, besonders unter den Onanisten, welche es unter wollüstigen Vorstellungen auch mehrmals hintereinander zu Erektionen kommen lassen und hierbei besonders bei der Vorstellung, einen Geschlechtsakt auszuführen, Geschlechtslust empfinden, sohin aber, ohne es zu einer Ejakulation kommen zu lassen, eine Erschlaffung des Penis wieder eintreten lassen. In manchen dieser Fälle mag auch die Ejakulation, aus welchen Gründen immer, dem Betreffenden momentan oder seit längerer Zeit erschwert oder unmöglich sein; und doch handelt es sich bei dem betreffenden Individuum um die Betätigung und Befriedigung des Geschlechtstriebes. Schon an dieser Stelle sei übrigens hingewiesen, was in einer folgenden Anmerkung ausführlicher dargestellt wird, daß gerade Impotenz oder verschiedene, die Ausführung eines normalen Beischlafs hindernde innere oder äußere Zwischenfälle oft zu auslösenden Momenten für sadistische Handlungen werden.

Diese Untersuchung ist nun allerdings bei Voigt nicht durchgeführt worden, so daß ein sehr wichtiger Anhaltspunkt für die Entscheidung der uns hier interessierenden Frage fehlt."
Das Gutachten wendet sich nun der Frage zu, ob Voigt die Tat in einem epileptischen Dämmerzustand begangen habe und führt aus:
"Auch ein Epileptiker kann in einem Dämmerzustande, wobei eine geschlechtliche Erregung mit eine Rolle spielen kann, in solch' bestialischer Weise wüten. Ein den epileptischen Dämmerzustand begünstigendes Moment kann der reichliche Genuß von Alkohol, der diesmal bei Voigt der Tat vorausgegangen ist, gewesen sein. Für die Diagnose des Dämmerzustandes ist aber der Nachweis eines
krankhaft veränderten Bewußtseinszustandes unbedingt notwendig. Und diesen hier zu erbringen oder auch auszuschließen, begegnet unüberwindlichen Schwierigkeiten. Für die Beurteilung dieses Umstandes liegen ja hauptsächlich die Angaben des Voigt vor und, was an diesen Angaben wahr oder nicht wahr ist, entzieht sich naturgemäß zum größten Teil der Kontrolle..." "Während...in sehr wesentlichen Punkten die Darstellung Voigts als unwahr und erfunden erscheint, weisen andere seiner Angaben darauf hin, daß er für wichtige Vorkommnisse der kritischen Nacht eine zutreffende Erinnerung hat..."

Voigts Angaben decken sich nämlich, wie das Gutachten zu zeigen versucht, in mehreren Punkten vollständig mit den Ergebnissen des Augenscheins und mit den Ergebnissen der Autopsie der Leiche...
"Man könnte ja vielleicht einwenden", führt das Gutachten fort „daß diese Angaben Voigts vielleicht nur einer inselförmig erhaltenen Erinnerung an die Vorgänge jener Nacht entsprechen, wie sie gelegentlich nach Ablauf von Dämmerzuständen auch beobachtet wird. Indessen hängen die von ihm mitgeteilten Details zeitlich so zusammen, daß sie dafür sprechen, Voigt habe doch eine zusammenhängende Erinnerung für die Kontinuität von Vorkommnissen innerhalb eines etwas längeren Zeitabschnittes. Nach allem ist es daher sehr unwahrscheinlich, daß Voigt sich in der kritischen Nacht in einem epileptischen Dämmerzustande befand. Wenn er zweifellos eine Anzahl von Details erzählt, die erfunden sind, so ist es nicht wahrscheinlich, daß er sie sich deshalb konstruiert hat, weil er mit diesen Erzählungen eine Erinnerungslücke auszufüllen bestrebt war, sondern weil er die Darstellung der wirklichen Vorkommnisse mit der Mitteilung von solchen Daten ersetzen wollte, durch welche er seine Sıtuation am günstigsten zu gestalten hoffte“ usw.
Die Sachverständigen resumieren:
„Bei der Vorgeschichte Voigts und mit Rücksicht auf die besonders schwierige Situation, die dadurch gegeben ist, daß Voigt einerseits verlogen ist und anderseits den Bestand einer Epilepsie bei sich nicht zugeben will, sind die Gefertigten nicht in der Lage, mit voller Bestimmtheit einen epileptischen Dämmerzustand auszuschließen oder mit der gleichen Sicherheit einen Lustmord ohne Beimengung epileptischer Elemente anzunehmen, und beantragen, da sie bei der Schwierigkeit des Falles außerstande sind, eine dezidierte Äußerung abzugeben, die Einholung eines Fakultätsgutachtens.“

3.

Das Landesgericht Wien beschloß nunmehr die Einholung eines Fakultätsgutachtens.
Sohin bestellte die Wiener medizinische Fakultät einen Referenten und einen Correferenten für das Fakultätsgutachten. Dem Referenten der Fakultät gegenüber ließ Voigt nur die in Tettau bei einem Streit erlittenen Verletzungen als von ernstlichen Folgeerscheinungen begleitet gelten; von diesem Streite rühre die große Narbe an der Stirne her; damals habe er den Arzt Dr. Althaus holen lassen, übrigens sei dieser damals noch ein sehr junger Doktor gewesen. Davon, daß er (Voigt) damals regungslos dagelegen wäre, wisse er nichts. Er sei vielmehr ganz klar gewesen, als der Arzt kam. Weiter bestritt Voigt dem Referenten der Fakultät gegenüber, je sadistische oder masochistische Gelüste oder je wirklich epileptische Anfälle gehabt zu haben. Der Anfall beim Militär sei vorgeschwindelt gewesen. Es sei in der Putzstunde gewesen, er sei auf einem Schemel gesessen, da habe er sich von diesem herabfallen lasen, die Fäuste geballt, Speichel hervorgebracht, ein wenig nach auswärts geschlagen, das möge drei Sekunden gedauert haben, dann sei er ruhig liegen geblieben, habe sich ins Bett heben lassen, habe keinen Zungenbiß und keine Inkontinenz gehabt. Sohin sei er ins Garnisonslazarett überstellt worden. Als Dr. Althaus ihn untersuchte, habe er Wundfieber gehabt, sei aber nicht besinnungslos gewesen. Abgesehen vom Zustande „geistiger Derangierung“ — wie Voigt sich ausdrückt — zur Zeit des Mordes an der Protovsky, sei er nie besinnungslos gewesen.
In Jena habe er simuliert, in Meiningen wiederum mit Absicht und mit Bewußtsein auf den Fußboden defäziert. Bezüglich der Anfälle in der Jenenser Klinik bemerkt er, er habe es dort bequem gehabt, er konnte den Anfall „unter dem Waschen“ vormachen. Er habe sich das Gesicht eingeseift, um dieses zu maskieren, und sich dann einfach hinfallen lassen. Vorher habe er schon einmal absichtlich ins Bett uriniert. Das sei der erste „sogenannte Anfall“ in der Klinik gewesen. Beidemal seien bloß Wärter Zeugen gewesen. Von dem in Hildburghausen beobachteten kleinen Anfall will Voigt gar nichts wissen, er spottet darüber, daß er, wie die Krankheitsgeschichte berichte, Gras ausgerissen hätte. Im dortigen Anstaltsgarten gäbe es doch gar keinen Grashalm.
Aufgefordert, einen epileptischen Anfall zu beschreiben meint Voigt es gebe deren verschiedene: „Der eine redet vorher irre, ein anderer schimpft, den dritten schüttelt es bloß, der vierte sitzt nur so da, Leute
wieder, die umfallen, sind nachher matt, kraftlos, erholen sich erst nach einiger Zeit.“
Er habe eben vielerlei Anfälle gesehen. Auch die sonstigen psychopathischen Erscheinungen, über die die Krankheitsgeschichten Voigts berichten, stellt er in Abrede. Voigt erklärt, jetzt durchaus auf ein Todesurteil gefaßt zu sein, und bestreitet, sich jemals über die Inaussichtstellung eines solchen alteriert zu haben. Er habe diesmal aus reiner Wahrheitsliebe ein Geständnis abgelegt, ziehe Zuchthaus und Galgen dem Irrenhause immer noch vor.

Das Fakultätsgutachten

geht von folgenden Erwägungen aus:
„Die Fragestellungen, die sich für die Expertise im Konkreten Falle ergeben, zielen nach drei Hauptrichtungen :

  1. Ist das Geschlechtsleben des Christian Voigt ein normales, oder wird es, sei es dauernd, sei es zeitweilig resp. unter bestimmten Umständen durch krankhafte, insonderheit sadistische Antriebe beherrscht?
  2. Ist Voigt ein Epileptiker oder ist er es nicht?
  3. Welches war der Geisteszustand des Voigt zur Zeit, da er die jetzt inkriminierte Mordtat begangen hat?“

Da die Beantwortung der ersten beiden Fragen es notwendig macht, das Vorleben des Voigt zu besprechen, rekapituliert das Fakultätsgutachten die Ergebnisse der Gerichtsakten, Krankheitsgeschichten und Vorgutachten. Es nimmt als möglich an, daß Voigt familiär belastet sei, es entnimmt weıter den Berichten des Schullehrers und des Lehrherrn, daß dem Voigt gewisse Charaktereigentümlichkeiten, mögen sie sich in späterer Zeit immerhin noch schärfer markiert haben, mindestens im Keime schon von Hause aus anhafteten, daß sie infolge der Mangelhaftigkeit seiner Erziehung schon früh überwucherten, dab aber wahrscheinlich eine primäre Charakterdefektuosität vorliege, denn Erziehungsmängel allein könnten erfahrungsgemäß für Eigentümlichkeiten von solcher Art und Andauer wohl nicht verantwortlich gemacht werden.
Das Fakultätsgutachten bespricht die Vagabondagedelikte und die Eigentumsdelikte, welche Voigt zur Last liegen, und die ihn von einer weiteren Seite her moralisch defekt erscheinen lassen. Am wichtigsten aber sind nach Anschauung des Fakultätsgutachtens besonders für die Begutachtung des Mordes die Roheitsdelikte, deren erstes (nämlich die Münchner Affäre) in das Jahr 1897 fällt.
Das Fakultätsgutachten führt diesbezüglich folgendes aus:
„Ehe wir darauf näher eingehen, sehen wir uns zu einem kleinen Exkurse genötigt. Wir erinnern uns nämlich, daß in dem ersten der beiden Jenaer klinischen Gutachten expressis verbis eine Art Cäsur zwischen der Persönlichkeit des Voigt vor dem Herbst 1898 und jener seither gemacht wird. In den September jenes Jahres fällt bekanntlich das Schädeltrauma, welches Voigt in seinem Heimatsorte erlitt. Nun ist es mit den Schädeltraumen des Voigt eine eigene Sache. Sicher ist nur, daß er mehrere solche erlitten hat, weil erstlich die an seinem Kopfe sichtbaren Narben Zeugenschaft dafür ablegen, eines derselben andererseits und zwar eben jenes, welches er Anfangs September 1898 in Tettau erlitt, ärztlich verifiziert ist. Welche von den ernsteren Kopfverletzungen aber war die der Zeit nach erste? Diese Frage ist bis nun ungelöst, denn Voigt hat gelegentlich erzählt, daß er in Landau, Erfurt und anderwärts schon vorher schwere Kopfverletzungen erlitten habe, darunter eine durch Sturz aus einer Höhe von vier Stockwerken. Er hat aber andere Male wieder, speziell den Referenten der Fakultät gegenüber diese seine Angaben insofern desavouiert, als er erst die Tettauer Kopfverletzung und nur diese als ernstlich und von beträchtlichen Erscheinungen gefolgt gelten lasse wollte. Was uns hier interessiert, ist, daß das erste Jenaer Gutachten wesentlich eben auf Grund dieser Angaben und der Angaben von Voigts Mutter, welche durch den Bericht des Arztes Dr. Althaus ergänzt werden, das erste Auftreten epileptischer Manifestationen bei Voigt anscheinend in den September 1898 verlegte. Diese Manifestationen bei Voigt sollen sich ja eben gerade an das bewußte Schädeltrauma unmittelbar angeschlossen haben. Das zitierte Gutachten geht aber noch einen Schritt weiter und spricht auch noch von einer epileptischen Charakterveränderung, die etwa um jene Zeit in Erscheinung getreten sei. Unter anderem werden als Indiz für eine solche Charakterveränderung angesehen das synchrone Hervortreten von Gewalttätigkeitsdelikten bei dem vorher nur auf andere Art kriminell gewordenen Voigt.
Hiezu darf aber wohl bemerkt werden, daß das Münchner Roheitsdelikt, auf das wir noch später zu sprechen kommen, schon in das Jahr 1897, also in das Jahr vor dem in Tettau beobachteten posttraumatischen ersten Anfall Voigts zurückdatiert. Auch darüber hinaus läßt es der schon erwähnte Leumund, der dem Voigt vom Schullehrer und Lehrmeister ausgestellt wird, als mindestens wahrscheinlich annehmen, daß es nicht erst der Epilepsie bedurfte, um Voigts Roheit und Reizbarkeit manifest werden zu lassen. Daß er bis in sein 19. Lebensjahr keine aus der Strafliste ersichtliche Exzeßstrafe erlitten hat, ist gewiß kein Gegenargument. Pflegen doch die Ausschreitungen Jugendlicher vielfach etwas glimpflicher beurteilt zu werden und nicht gleich zu ernsteren Maßregelungen zu führen, nicht zu vergessen der bahnenden Wirkung des Alkohols, die sich doch erst voll zu entfalten vermag, wenn mit erlangter körperlicher Reife und größerer Selbständigkeit das konventionelle Bürgerrecht im Wirtshausleben gewonnen ist.
Wir können uns sonach nicht entschließen, in den Exzeßdelikten, speziell denen in München und Wildungen (1897 und 1898), die dem Voigt aktenmäßig zur Last liegen, mehr zu sehen, als den Ausfluß seiner gemeinen Roheit und Reizbarkeit, Eigenschaften, welchen freilich die durch den früheren Hang zu Alkoholexzessen erzeugte Depravation wesentlichen Sukkurs geleistet hat. Das Münchner Delikt fesselt aber durch einen speziellen, wenngleich zunächst vielleicht unscheinbaren und bisher anscheinend nicht beachteten Zug (Voigt leugnete die hier besprochene Mißhandlung der Orangenverkäuferin.), der ihm anhaftet, noch unsere Aufmerksamkeit.
Der Urteilsbegründung zufolge soll nämlich die unmittelbare Veranlassungsursache jenes Raufhandels die gewesen sein, daß Voigt ein Hausierweib, welches leidende Arme hatte, durch Mißhandlung derselben quälte. Dieser Roheitsakt des Voigt zeigt uns nun aber, daß eine gewisse Freude am grausamen Tun mit zu seinem Charakter gehört. Allerdings würde dieses eine Faktum an sich zunächst nur ganz im allgemeinen darauf hinweisen und es nicht ausschließen lassen, daß solche grausame Triebe bei ihm nur gelegentlich in trunkener Laune, — spielte sich ja doch die damalige Szene bei einem Zechgelage ab, — zutage treten. Aber im Zusammenhalte mit dem, was an Voigts Persönlichkeit in der Folge offenbar ward, gewinnt die in Rede stehende Episode doch ein markanteres Relief und darf vielleicht zunächst als ein Indicium für das Vorhandensein sadistischer Impulse schon zu damaliger Zeit angesprochen werden.“

Das Fakultätsgutachten bespricht nun kritisch andere Berichte über angeblich rohes Benehmen und den rohen Ton in den Reden Voigts dem einen oder dem anderen seiner Arbeitskollegen gegenüber und fährt fort:
„Noch ein weiteres kommt hinzu, was den Voigt...von Haus aus kennzeichnet“, nämlich „seine Freude an prahlerischen Reden, seien diese auch brutalen Inhaltes. Die an Voigt konstatierte und konstatierbare Lügenhaftigkeit wurzelt gewiß zum Teil in dieser ihm anhaftenden Charaktereigentümlichkeit. Im engeren Connexe damit steht aber wohl auch ein anderer Zug, der sich bei Voigt mit der Zeit entwickelt hat und namentlich in Bayreuth und gelegentlich seines zweiten Jenaer Aufenthaltes in Erscheinung trat und der auch jetzt nicht ganz zu verkennen ist, nämlich das Renommieren mit autodidaktisch erworbenen Kenntnissen nach der geschmacklosen Art des Parvenus, insbesondere das groteske Protzen mit Fremdausdrücken, mit pseudowissenschaftlichen und pseudosozialistischen Phrasen am unpassenden Orte, eine Manier, die eine Zeitlang fast bis zur Schrulle auszuarten schien.“ Weiters aber auch steht in Connex damit „die Steigerung des Selbstgefühles, die Voigt lange Zeit zur Schau trug. Wir sagen ‚Zur Schau‘ trug, denn wir lernen den Voigt auf der anderen Seite als einen Menschen kennen, dem opportunistisches Sichanpassen keineswegs fremd ist. Hat er sich doch hier in Wien seinen Kollegen gegenüber im ganzen als ein guter Kamerad gezeigt und auch den hiesigen Ärzten gegenüber eigentlich angemessen und passend benommen. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, daß die saloppe Art, auf die Voigt mit den Folgen seiner furchtbaren Delikte spielt, stutzig machen und an ein extrem, vielleicht krankhaft gesteigertes Selbstgefühl denken lassen könnte.“

„Diese letzten Betrachtungen leiten hinüber zu Voigts intellektuellem Verhalten, dem wir einen Blick zuwerfen müssen. Daß Voigt von guter Intelligenz ist, wird von vielen Seiten übereinstimmend angegeben. In seinem Metier erscheint er auch, soweit es ihm gepaßt hat zu arbeiten, gut qualifiziert. Man darf aber auch wohl sagen, daß seine Bildung über den Durchschnitt seiner Kreise hinausreicht, und wenn man bedenkt, daß dieser Mensch sich die Elemente dieser Bildung z. B. französische Sprachkenntnisse autodidaktisch so weit angeeignet hat, daß er selbst einem Arzte eine Übersetzung zu arbeiten vermochte, wenn man weiters berücksichtigt, daß Diktion und Stil das in seinem Milieu übliche Maß weit hinter sich lassen, muß man...nicht ohne Bedauern sagen, daß Voigt ein geistig entschieden begabtes Individuum ist. Wenn er damit zu protzen liebt und mangels geschulten ästhetischen Sinnes ins Geschmacklose und Manirierte gerät, so ist das, wie schon erwähnt, mehr eine charakterologische Angelegenheit und involviert keinen Hinweis auf eine intellektuelle Störung sensu strictiori (im engeren Sinne). Daß die Eigenart des Charakters das Urteilen geradeso wie das Streben stark beeinflußt, bedarf ja keiner weiteren Erörterung.“ „Ganz gewiß auch kann bei Voigt von einer erworbenen geistigen Schwäche nicht die Rede sein, hat er doch gerade in den letzten Jahren seine Kenntnisse erheblich erweitert und tüchtig gearbeitet.“
Die Referenten der Fakultät betonen, an Voigt weder Wahnideen noch Hinweise auf Sinnestäuschungen, noch greifbare Gedächtnisdefekte gefunden zu haben. Das Gutachten geht nun über zur Besprechung der Frage, ob Voigt ein Epileptiker ist, und gelangt zu folgenden Erwägungen:
„Wir wissen bereits, daß Voigt mehrfache Schädeltraumen erlitten hat, nur deren Zeitpunkt und Schwere wird, eines ausgenommen, verschieden angegeben. Wir wissen aber auch weiter, daß Voigt schon frühzeitig dem Alkohol stark zugesprochen hat. Leider wissen wir...über seine Reaktion auf Alkohol ebensowenig Zuverlässiges, wie über die Folgeerscheinungen, welche dieses Gift bei ihm erzeugt hat, denn wir sind...auf seine eigenen Angaben angewiesen, die zu verschiedenen Zeiten verschieden lauten. Derzeit behauptet Voigt, gewohnheitsmäßig nur Bier getrunken zu haben, früher allerdings in beträchtlichem Ausmaße..., seit mehreren Jahren will er temperent, d. h. mäßig leben. Über Intoleranz erfahren wir nichts Präzises. Immerhin würde die Tatsache, daß Voigt Traumatiker ist und mindestens früher Potator strenuus war, genügen, es verständlich erscheinen zu lassen, daß Voigt das wurde, als was er gilt, ein Epileptiker.“  „Ist er wirklich ein solcher? Liegen zwingende Beweise für Epilepsie bei ihm vor? Überblicken wir, was an Tatsachen diesbezüglich vorliegt, so stoßen wir auf den Umstand, daß Voigt bislang nur ein einziges Mal in einem Anfalle von einem Arzt gesehen worden ist, und dies war nach jenem schon mehrfach erwähnten Raufhandel in Tettau, in welchem er die bewußte Blessur davontrug. Die Beschreibung dieses Anfalles, wie sie aus den Akten zu entnehmen ist, enthält zwar keine ausdrücklichen Angaben über Krämpfe, Zungenbiß usw., erwähnt aber immerhin von typischen Charakteristicis eines epileptischen Anfalles die Pupillenstarre und Empfindungslosigkeit. Leider aber büßt diese Beschreibung etwas an Beweiskraft aus dem Grunde ein, weil Voigt damals nach einer frischen Kopfverletzung, die er noch dazu in alkoholisiertem Zustande erlitten hat, zur Untersuchung kam. Er könnte also sehr wohl die Erscheinungen einer Comotio cerebri dargeboten haben. War er doch noch, wie Dr. Althaus erzählte, am folgenden Morgen benommen. Man kann daher nicht sagen, Voigt habe damals wirklich einen veritablen epileptischen Anfall erlitten. Auf schwankender Grundlage steht auch, was über die sonstigen Anfälle des Voigt wenigstens auf Grund der Akten bekannt geworden ist. Bezüglich der Anfälle beim Militär ist nirgends ein Hinweis darauf zu finden, daß ärztlicherseits solche beobachtet worden wären, vielmehr erfahren wir, daß nur Mitsoldaten Zeugen derselben waren, gewiß keine verläßlichen Beurteiler in der Frage: ‚Echt oder falsch‘. Die beiden Anfälle in Jena sind anscheinend auch nur von Wärtern beobachtet worden. Dagegen bietet die Beschreibung des in Hildburghausen beobachteten Anfalles soviel Anhaltspunkte, daß man ihn ohne Zwang als einen epileptischen (Petit mal) Anfall auffassen kann. Was sonst noch über epileptische Anfälle Voigts erzählt worden ist, sind teils eigene Angaben des Voigt, teils machen Angehörige, also zwar subjektiv interessierte Zeugen, Angaben, die aber doch viele der klinischen Erfahrung entsprechende Einzelheiten enthalten. Diesen Angaben steht allerdings Voigts wiıederholtes und entschiedenes Ableugnen von Anfällen, die er für Simulation erklärt, gegenüber. Es ist aber zu bemerken, daß bei seinem...Bemühen, der Irrenanstalt zu entgehen, sein Leugnen nur mit Vorsicht entgegenzunehmen ist. Zu anderen Zeiten hat er selbst über seine epileptischen Anfälle Angaben gemacht, die untereinander nichts weniger denn übereinstimmend sind.“ Bemerkenswert ist, daß weder die langen Jahre hindurch in der Anstalt in Bayreuth, in welcher Voigt anfangs keineswegs alkoholabstinent gehalten ward, noch in Wien Anfälle an ihm beobachtet werden konnten. „Daß die dem Voigt schon von Hause aus eigene Reizbarkeit nicht als Beweis von Epilepsie angesehen werden kann, wurde schon früher ausgeführt. Alles in allem muß man sagen, daß das Vorkommen von epileptischen Anfällen in früheren Jahren bei Voigt als wahrscheinlich zugegeben, mindestens nicht ausgeschlossen werden kann. Die Fähigkeit der Simulation epileptischer Anfälle, deren er sich beschuldigte, ist dem Voigt zwar zuzutrauen. Es wäre ja wirklich möglich, daß er solche einmal zu sehen Gelegenheit gehabt hat, (worauf es ankommt, weiß er im großen und ganzen so ziemlich) und daß er in unbequemer oder gar kritischer Situation diese seine Kentnisse auch fruktifiziert haben konnte. Doch ist nicht wahrscheinlich, daß Voigt die beschriebenen Anfälle etwa durchgehends simuliert habe.“
„Sicher ist, daß nach 1902 an Voigt keine wie immer gearteten epileptischen Anfälle beobachtet wurden. Die Epilepsie Voigts, wenn sie bestanden hat, ist also seither zurückgetreten, ein Verlauf, wie er besonders bei Degenerierten nicht selten beobachtet wird.“
„Wir gelangen nun zur Erörterung des Sexuallebens bei Voigt.“
„Da haben wir zunächst festzustellen, daß Voigt einer geschlechtlichen Betätigung in normaler Richtung nicht nur fähig ist, sondern daß ihm sogar eine ziemlich hohe Appetenz (Bedürfnis, Trieb, triebbedingtes Verhalten) zueigen ist. Sonach ist der Schluß gerechtfertigt, daß auch sein sexuelles Fühlen durchaus imstande ist, sich in normalen Wegen zu halten. Die Feststellung würde nun aber natürlich der Annahme keineswegs hindernd im Wege stehen, daß neben den normalen Geschlechtsimpulsen, sei es dauernd, sei es nur zu Zeiten oder in bestimmten Zuständen, abnorme Regungen oder Impulse auftauchen und jene zeitweilig sogar in den Hintergrund drängen können.“

„Die ganze Vorgeschichte Voigts weist nun mit unverkennbarer Deutlichkeit in die Richtung der Annahme, daß es sich bei Voigt um Impulse sadistischer Natur handelt. Daß eine gewisse Freude an Grausamkeit in ihm wurzelt, und daß sie, sonst vielleicht latent, gerade unter Alkoholeinfluß manifest werden könnte, lehrt die bisher wenig beobachtete, von uns bereits erwähnte Münchener Episode. Mag
nun zwar auch nichts darüber bekannt sein, ob Voigt damals bei Mißhandlung des Weibes sexuelle Wollust empfunden hat, oder nicht, so ist doch jedenfalls sicher, daß den Sadisten nicht nur im Sexualimus grausame Neigungen häufig nicht fremd sind, so daß der besagte Vorfall mindestens als Indiz — als mehr wollen wir ihn ja nicht werten — bezeichnet werden darf.“
„Während der Untersuchung der Sache Schilling hat Voigt behauptet, seine Frau gewürgt zu haben.“ Schwerwiegender sind die Überfälle „auf Frauenspersonen (Gams und Schilling), welche er unter argen Mißhandlungen und Bedrohungen zum Coitus zwingen wollte“...
...„Am allerschwierigsten freilich sind die beiden Mordtaten, die Voigt am Gewissen hat, der Fall Protowsky in Lauscha und der gegenwärtige Fall Peer. Die sorgfältige Leichenbeschau, wie sie insbesondere im letzten Falle von den hiesigen Gerichtsärzten vorgenommen worden ist, bezeugt zur Genüge, daß ein Lustmord, kein Affektmord vorlag.“ Angesichts „des zum Teil förmlich präparatorischen Charakters der auch noch postmortal gesetzten Verwundungen an der Leiche und der Läsionen an ihren Kleidern, — die Ähnlichkeit der Ausführung in gewissen Details in den Fällen Protowsky und Peer ist eine auffällige — verliert die Annahme eines anderweitigen Tötungsmotives an Bedeutung. Alles convergiert dahin, daß es sich um einen Lustmord handelt, und es erscheint uns eigentlich kaum noch notwendig zu bedauern, daß nicht auch nach Spermaspuren in Voigts Leibwäsche gefahndet worden ist."

„Es ist also sicher, daß dem Voigt sadistische Regungen innewohnen. Nun aber tritt an uns die sehr entscheidende Frage heran: Gehören dieselben seinem geistigen Habitualzustande eventuell von Hause aus an, oder treten sie — wie das ja bekanntlich vorkommt — nur ab und zu, sei es mehr minder periodisch aus endogener, sei es aus exogener Ursache, in specie unter Alkoholisierung in Erscheinung? Und wenn letzteres der Fall ist, welcher Art sind diese Seelenzustände“, ist insbesondere „das Bewußtsein des Voigt darin getrübt und handelt es sich in letzterem Falle um Dämmerzustände speziell epileptischen Charakters, in denen ja sexuelle Impulse abnormer Art nicht so ganz selten auftauchen?“
„Eine präzise Beantwortung der Frage, ob in Voigts Bewußtsein sadistische Regungen stets parat liegen, ist wohl nicht möglich. Wohl leugnet es Voigt, allein seine Angaben, soweit sie nicht durch Tatsachen kontrollierbar sind, können angesichts seiner erweislichen Unaufrichtigkeit nur mit Mißtrauen entgegengenommen werden. Ein klarer Einblick in sein Innenleben ist also in dieser Richtung nicht möglich und wir müssen uns mit der Konstatierung der Tatsache genügen lassen, daß sadistische Impulse bei ihm wiederholt zutage getreten sind.“
„Lassen wir die einzelnen bekanntgewordenen Facta Revue passieren, so stoßen wir zuerst auf den Münchener Fall, und damals stand Voigt sicher unter Alkoholwirkung. Dann kommt der Fall Gams, bezüglich dessen Voigt bekanntlich leugnet, und da er damals  nicht erwischt, erst späterhin als Täter agnosziert wurde, wissen wir nichts über seinen damaligen Zustand. Es folgt nun der Fall Schilling. In diesem Falle hat sich Voigt zuerst hinter Erinnerungslosigkeit geflüchtet, in der Folge aber bekanntlich eine ganz andere, man Voigt gewiß der letzte, dessen Angaben Glauben zu schenken ist. Andererseits aber erscheint es, soweit heute retrospektiv über diese, Jahre zurückliegende Affaire ein Urteil abgegeben werden kann, jedenfalls gewagt, auf Voigts damalige Behauptung einer Erinnerungslosigkeit den Beweis für das Bestandenhaben eines Dämmerzustandes zur Zeit des damaligen Deliktes aufzubauen, selbst zuzugeben, daß Voigts Erinnerungslosigkeit mit ihrer weiten Begrenzung und ihren Inseln der Erfahrung nicht vollkommen widerspricht.“
„Fazit: Die Frage nach dem Geisteszustande — Voigts : zur Zeit des Faktums Schilling kann ehrlicherweise nur mit einem „Non liquet“ (Keine Klarheit)  beantwortet werden.“
Bald nachher ereignete sich der Fall Protowsky. Welches war damals der Geisteszustand Voigts? Die reichsdeutschen Psychiater haben diese Frage nahezu eindeutig dahin beantwortet, Voigt habe sich damals in einem epileptischen Dämmerzustande oder doch, welche Eventualität das Jenenser Gutachten als eine mögliche Alternative gelten läßt, in einem krankhaften Affektzustande befunden, in welchem er seine wilden Triebe nicht zu bezwingen vermochte und der somit einem epileptischen Dämmerzustande gleichwertig sei.
„Mit jener Reserve, die durch den Umstand geboten ist, daß der Fall Protowsky jetzt nur mehr nach den Akten beurteilt werden kann, läßt sich sagen, daß ein epileptischer Dämmerzustand zur Zeit dieses Verbrechens nicht auszuschließen ist, wenn sich auch manche Bedenken gegen die Annahme eines solchen aufdrängen. Voigt ist der Simulation fähig, hatte damals allen Grund zu einer solchen und hat anscheinend im Gefängnis in Meiningen wirklich Geistesstörung simuliert.“
„Faßt man dies alles zusammen, so muß man sagen, daß man nach der Vorgeschichte des Voigt an dem Vorhandensein sadistischer Impulse nicht zweifeln kann, aber nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob sie bei ihm dauernd bestehen, oder nur zeitweise auftreten und ob in letzterem Falle exogene Momente“, inbesondere der Alkohol „die Rolle des agent provocateur (provokanter Faktor) spielen oder nicht. Für die Annahme einer Periodicität im strengen Sinne fehlt jeder Beleg. Ein bloß periodisches Auftreten solcher Impulse müßte man sich ja vor allem als allerdings dominierendes Symptom einer periodischen Geistesstörung denken, nach den psychiatrischen Erfahrungen vor allem einer epileptischen. Von einer anders gearteten Geistesstörung, gar von einer periodisch auftretenden zu reden, fehlt jeder Anhaltspunkt. Nur in der Zeit der Untersuchung in Meiningen und in...der kurz daran anschließenden Zeit hat Voigt Wahnbildungen, Sinnestäuschungen, motorische und affektive Störungen von sensu strictiori psychotischer (im engeren Sinne psychotischer) Höhe gezeigt, die aber nach dem früher Gesagten simuliert scheinen.“
„Gleich in diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß Voigt auch in der Zeit der jetzigen Strafuntersuchung hier in Wien, keinerlei im engeren Sinne psychotische Züge dargeboten hat, vielmehr bis auf die gewissen charakterologischen Eigentümlichkeiten vollkommen frei erschienen ist.“ „Es bleibt also nur noch die Annahme eines endogenen periodischen Auftretens sexueller krankhafter Impulse ohne weitere psychotische Beimengung zu erörtern, speziell mit Rücksicht auf die in Verhandlung stehende Straftat.“
"...Trotz des großen Reichtums an Daten ist es eine hinsichtlich ihrer kritischen Verwendbarkeit größtenteils „sehr schwanke anamnestische Grundlage, auf der fußend an die Beantwortung der letzten und entscheidendsten Frage herangetreten werden muß“
, d.i. der Frage nach dem Geisteszustand Voigts zur Zeit des jetzigen Deliktes. „Gleichwohl dürfte es bei präziser Fragestellung gelingen, wenigstens einen Teil des schwierigen Komplexes von Fragen zu lösen. Das Vorleben Voigts wurde ja in erschöpfender Weise diskutiert und es ist kaum nötig noch hinzuzufügen, daß sich auch für die letzte Zeit vor dem Delikte nichts ergeben hat“, was auf das Bestehen einer veritablen, sei es dauernden, sei es vorübergehenden psychotischen Störung oder auf eine Periode abnorm hoher oder sonst abnorm geschlechtlicher Erregung an ihm hingewiesen hätte „Ein Mädchenjäger war er ja seinem Leumunde nach immer und auch bis in die letzte Zeit hatte er hier in Wien vielfache, aber ganz normale Sexualbeziehungen ....... Mit der ihm in den Mund gelegten Geschichte von dem mit Nägeln zusammengesteckten Weiberrocke, mit welcher Geschichte Voigt angeblich im Kameradenkreis geprotzt haben soll, läßt sich doch eigentlich gar nichts Rechtes anfangen. Man hätte demnach das Augenmerk so gut wie ausschließlich dem kritischen Zeitabschnitte im engsten Sinne zuzuwenden.“
„Voigt hat am Nachmittage vor der kritischen Nacht wie gewöhnlich gearbeitet. Er ist am Abende zuletzt gegen 10 Uhr im Lokale seiner Organisation gesehen worden, wo er sich pünktlich zwecks Leistung seines Wochenbeitrages eingefunden hat. Von irgendeiner Störung, die an ihm da oder dort bemerkt worden wäre, hören wir nichts. Seine Angabe, daß er an dem Abend mit der Lichtenegger, seiner Geliebten, ein von dieser nicht eingehaltenes Stelldichein hätte haben sollen, ist...durch die Aussage des Mädchens verifiziert. Also ist, da Voigt sich alles dessen erinnert und darüber spontan und in logischer Entwicklung erzählt hat, wohl nicht anzunehmen, daß schon an jenem Abende sein Bewußtsein in greifbarem Maße getrübt gewesen wäre. Er hat dann in vollkommen kontinuierlicher Ordnung erzählt, was er an jenem Abende und in jener Nacht weiter unternommen hat“, daß er noch mehrere Schanklokale am Praterstern, im Prater, in Erdberg in Gesellschaft von Zechgenossen überall Alkohol konsumierend besuchte. Leider konnten diese Zechgenossen nicht eruiert werden, so daß „Zeugenaussagen über sein damaliges Verhalten nicht vorliegen. Nur aus seinem eigenen Munde wissen wir, daß er keineswegs berauscht war, als er sich in früher Morgenstunde an der Schlachthausbrücke von seinen Gefährten trennte. Immerhin dürfen wir wohl das eine feststellen, daß seine Erzählungen über das, was sich bis dahin abspielte, noch keinen absonderlichen oder unglaubwürdigen Charakter an sich tragen.“
„Weniger eindeutig liegen wohl die Dinge von dem Momente an, wo seiner Schilderung nach, auf die wir für die Begebnisse des wichtigsten Zeitabschnittes leider allein angewiesen sind, die unglückliche Peer in seinen Gesichtskreis trat. Es war auf den Wiesengründen nächst der Schlachthausbrücke, wo auf Voigt die gewisse Schattengestalt zukam, die sich bald als ein Schutz und noch mehr suchendes Mädchen entpuppt haben soll. Voigt gibt weiter an, daß er sich im Dunkel der Nacht vor dem gespenstischen Schatten eine Weile gefürchtet habe. Es ist fraglich, ob er, der Hüne, Grund hatte, das schwächliche Mädchen ernstlich zu fürchten, zumal die Angst vor einem in der Nähe lauernden Zuhälter doch schon dadurch gegenstandslos werden konnte, daß ihm“ nach seiner eigenen Angabe das Mädchen „quer durch den ganzen unteren Prater mit seinen weiten offenen Wiesengründen bis zum Handelsquai gefolgt sein soll, ohne daß ein solcher geheimer Beschützer sichtbar geworden ist“.....
„Das Mädchen wird, wie Voigt erzählt, geradezu unerhört zudringlich. Voigt jedoch, der keine Geschlechtslust verspürt haben will, weist sie barsch ab.

Dr. Georg Ilberg, der bereits in einer früheren Anmerkung zitiert wurde, führt unter anderem auch aus: "Mehrfach haben wir jetzt gesehen, daß eintretende Impotenz (Schlappwerden des Gliedes, Verzögerung der Erektion und Ejakulation), vermutlich auch manchmal Unfähigkeit überhaupt, die Wut des gierigen Attentäters zu den entsetzlichsten Handlungen steigerte. Auch das Begegnen eines mechanischen Hindernisses gegen die Ausführung und Vollendung des Koitus kann schreckliche Grausamkeiten auslösen...Mehrfach hatten wir schon gesehen, daß sich der sexuell Erregte, namentlich wenn ihm der Beischlaf nicht gelingt oder nicht gestattet wird, nicht mit der Tötung seines Opfers begnügt, sondern dasselbe noch verstümmelt.“ (Ilberg.)
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß auch die Gonorrhöe des Voigt, welche ihn zwar am Geschlechtsverkehr nicht absolut gehindert zu haben scheint, und eine durch diese Gonorrhöe hervorgerufene sexuelle Depression eine mitauslösende Rolle rücksichtlich der sadistischen Handlungen des Voigt bei diesem Lustmorde gespielt zu haben scheinen. So wurde mir über eine Äußerung des Voigt berichtet, die ich in den mir abschriftlich übergebenen Akten allerdings nichts gefunden habe, in der er gegen Prostituierte seit seiner Infektion eine Abscheu und eine Wut gehabt habe. Voigt verneinte unter anderem die Frage, ob er mit der Lichtenegger geschlechtlich verkehrt hätte, wenn dieselbe zum Stelldichein erschienen wäre. Auch erzählt Voigt dem Referenten der Fakultät, daß seine Potenz geringer werde, wenn er Alkohol getrunken habe. Weiters sei auch auf die Stelle der Autobiographie Voigts hingewiesen, laut welcher er den Anforderungen seiner angeblich zu begehrlichen Gattin nicht habe nachkommen können.

Man müßte jetzt, da die Peer zwar allerdings Prostituierte war, aber doch als eine ruhige Person und nicht als eine freche Dirne beleumundet wird, meinen, daß ein energischer Laufpaß, den sie von einem Manne von der Statur des Voigt erhalten hätte, reichlich genügt haben müßte, sie in die Flucht zu jagen. Indes will Voigt sich ihrer förmlich nicht haben erwehren können. Dies klingt wieder nicht so recht wahrscheinlich, zumal angesichts der Tatsache, daß die Peer nach Statur und Körperkraft an Voigt nicht entfernt herangereicht hat. Ein Ähnliches gilt von der Geschichte bezüglich der schier erdrückenden Umarmung durch das Mädchen und von dem Küchenmesser in ihrer Rocktasche“.....
Die Art, wie Voigt seine Bluttat motivieren möchte, es hätten drei verschiedene Affekte (Furcht, Ekel, Zorn) sein Vorgehen determiniert, dieses angeblich so komplizierte Affektdelikt, diese ganze sonderbare Konstellation von Motiven einer so furchtbaren Bluttat erscheint der Fakultät nicht eben plausibel, „denn wie ließen sich alle die so sehr eindeutig auf einen Lustmord hinweisenden Verletzungen an der Leiche und die Zusammenhangstrennungen an ihren Kleiderstücken — dem Befunde an der Protowsky in vielen
glauben machen will?“

„Es liegt also,“ führt das Gutachten aus „auf der Hand, daß dieser Teil seiner Darstellung, der sich mit der Exposition und der Ausführung der Tat befaßt, nicht wenig innerliche Unwahrscheinlichkeitan sich trägt.“
„Nun stehen wir vor der Alternative: Liegt hier vielleicht eine bewußt erlogene Darstellung seitens des Voigt vor, oder aber handelt es sich um Konfabulationen, durch welche Erinnerungslücken ausgefüllt werden? Letztere Eventualität würde ja die Annahme eines Zustandes von Bewußtseinstrübung zur Zeit der Tat in sich schließen. Mangels des Vorhandenseins von Tatzeugen bleibt nichts übrig als der Weg der Rekonstruktion.“
Im allgemeinen müßte man gewiß die Möglichkeit zulassen, daß Jemand einen Dämmerzustand durchmacht und hinterher die durch ihn gesetzte Erinnerungseinbuße, sei diese nun komplett oder nicht, durch Konfabulationen ausfüllt, welche den Tatsachen sogar mehr oder minder nahekommen können, zumal wenn ihm etwa durch gemachte Vorhalte — und auch dem Voigt sind solche bekanntlich beim Polizeiverhör gemacht worden, ehe er gestand, — Material dazu dargeboten wird. Allein es fällt auf, daß Voigts Darstellung bezüglich der Vorgeschichte und der Motive der Mordtat zwar in kleinen Details schwankend, im übrigen aber in den Hauptzügen durchaus in sich geschlossen ist, nirgends eine Lücke aufweist und fließend von jenem Momente, wo er in keiner Weise auffällig zuletzt gesehen worden ist (Organisationslokal gegen 10 Uhr abends) bis zu jenem Momente hinüberleitete, wo er wieder (um 9 Uhr morgens) in einem Wäscheladen mit eruierbaren Zeugen zusammentraf, und nur erhitzt, aber sonst wieder nicht auffällig aussah. — Schon das würde zu der Annahme bloßer Konfabulation, die ja, zumal es sich um einen gewiß komplizierten Tatbestand handelt, doch viel schwankender und da und dort zusammenhangsloser erscheinen müßten, nicht ganz stimmen. Weiter ist nach Anschauung der Fakultät auffällig, daß Voigt vom Anbeginn zuerst es versucht hat, ganz ungewöhnlich zu leugnen und zwar in einer Weise, die in nichts auf eine damals etwa noch bestehende Bewußtseinstrübung hinweisen würde, dann aber über eindringliches Zureden seitens des Polizeiorganes zu einem Geständnis der Tat als solcher schritt und dabei in der Hauptsache gleich die nämliche geschlossene Darstellung brachte, wie später dem Untersuchungsrichter, den Gerichtspsychiatern und den Delegierten der Fakultät gegenüber. Schließlich fällt aber, wie schon im Gutachten der Gerichtspsychiater ganz richtig hervorgehoben wird, ins Gewicht, daß Voigt bei seiner Schilderung der Hergänge solche Details reproduziert, welche einerseits durchaus den Tatsachen entsprechen, welche andererseits aber wegen ihrer Belanglosigkeit und auch aus zeitlichen Gründen dem Voigt kaum von irgendwem vorgehalten, bzw. suggeriert worden sein konnten. So stimmt Voigsts Angabe, daß er den ersten Stich in den Rücken geführt habe, ganz zu der Annahme der Gerichtsanatomen. Dies konnte Voigt aber vom Polizeikommissär, der es ja selbst nicht wissen konnte, wohl nicht erfahren haben. So stimmt es weiter, daß Voigt die Leiche aus dem Kassahäuschen ins nahe Gebüsch geschafft haben muß, denn auf diesen Weg wiesen die vorgefundenen Blutspuren hin, welche sich am Schauplatz der Tat, am Fundorte der Leiche und in der Umgebung fanden. Endlich erzählt Voigt, daß er Kleiderfetzen der Leiche in der Umgebung weggeworfen habe, und solche Kleiderfetzen sind dann auch tatsächlichdort gefunden worden.

„Selbst wenn man sich nun vor Augen hält, daß auch im Rahmen von Amnesieen nach echten Dämmerepisoden es Erinnerungsinseln gibt, muß man doch sagen, daß ein so verschiedenartige und so
sehr auseinanderliegende Momente betreffendes Detailgedächtnis wie im konkreten Falle gegen die Annahme einer greifbaren Bewußtseinstrübung und damit auch gegen die Annahme eines Dämmerzustandes zur kritischen Zeit schwer in die Wagschale fällt. Umgekehrt aber fehlt für die Annahme eines solchen Dämmerzustandes jeglicher strikte Beweis. So furchtbar und grauenhaft die Tat auch ist, so ist sie ja damit noch nicht als Symptomhandlung einer Dämmerepisode determiniert“.
Wenn es ja auch denkbar ist und hier zugegeben wird, daß Voigt an Epilepsie gelitten haben mag, ist damit noch nicht bewiesen, „daß seine Lustmorde, in spezie der jetzige, gerade in epiIleptischen Dämmerzuständen unternommen sind. Daß Voigt in der kritischen Nacht einen Krampfanfall erlitten hat, dafür fehlt jeder Anhaltspunkt.“
Das Fakultätsgutachten sieht sich veranlaßt, auch die Frage zu erörtern, inwieweit Voigt sich absichtlich belastet, um einer längeren Irrenanstaltsinternierung zu entgehen, erörtert weiter, daß für die Annahme einer melancholischen, hysterischen, katatonen, paranoischen oder sonstwie gearteten Geistesstörung, auf deren Grundlage krankhafte Selbstanklagen erwachsen, kein Anhaltspunkt bestehe, und faßt schließlich das Gutachten in folgende Schlußsätze zusammen:

  1. "Christian Voigt ist ein von Hause aus degeneriertes, vorwiegend ethisch defektes Individuum mit einer besonderen Neigung zu Gewalttätigkeiten.
  2. Es ist sicher, daß bei Voigt sadistische Impulse bestehen. Ob sie immer, oder ob sie nur zeitweise, insbesondere unter dem Einflusse des Alkohols vorhanden sind, läßt sich nicht sicher sagen.
  3. Es ist wahrscheinlich, daß Voigt an epileptischen Anfällen litt. In den letzten Jahren sind keine epileptischen Anfälle beobachtet worden, auch lassen sich unzweifelhafte epileptische Charakterzüge an Voigt nicht feststellen.
  4. Überhaupt sind derzeit an Voigt keinerlei Züge zutage getreten, die auf eine über den Rahmen der Degeneration hinausgehende psychische Anomalie oder Krankheit hinweisen würden.
  5. Ein Zustand greifbarer Trübung des Bewußtseins bei Voigt während der Zeit, in welche der Mord an der Peer fällt, ist nicht nachweislich.
  6. Wenn als wahr angenommen wird, daß Voigt zu jener Zeit unter Alkoholwirkung stand, so konnte durch diese, auch wenn es sich nur um eine leichte Alkoholisierung handelte, die geschlechtliche Erregbarkeit und Affekterregbarkeit im allgemeinen gesteigert worden sein.“

7. Schluß.

Die Staatsanwaltschaft erhob nunmehr gegen Christian Voigt am 20. Oktober 1911 die Anklage wegen Verbrechen des gemeinen Mordes (§ 134 u. 135 des österr. Strafgesetzes). Die Verhandlung wurde vor dem K. K. Landesgerichte Wien in Strafsachen als Schwurgericht durchgeführt. Die Geschworenen bejahten die auf Mord lautende Hauptfrage mit 12 Stimmen und verneinten die auf abwechselnde Sinnesverrückung lautende Zusatzfrage mit 10 Stimmen.

Christian Voigt wurde sohin zum Tode durch den Strang verurteilt. Über erfolgte Begnadigung wurde die Todesstrafe vom obersten Gerichts- und Kassationshofe in lebenslänglichen schweren Kerker
umgewandelt. 


Seinen weiteren Lebensweg und seinen Tod finden Sie ganz am Ende dieses Beitrages.


Quellen: Archiv für Kriminalanthropologie. 55. Bd. - E. Wulffen, Der Sexualverbrecher - Tagespresse Österreich - erichs-kriminalarchiv.com


Der Prozeßverlauf in der österreichischen Tagespresse

(Prozeßbeginn 20.Oktober 1911)

































































































Sein weiterer Lebensweg und sein Tod.

Sein Verteidiger versuchte, die Hinrichtung wegen Geisteskrankheit des Verurteilten aussetzen zu lassen. Durch einen Gnadenakt des Kaisers Franz Joseph wurde die Todesstrafe am 19. Februar 1912 in eine lebenslange, verschärfte Kerkerstrafe umgewandelt. Der Verurteilte wurde in das Zuchthaus Garsten in Oberösterreich gebracht und 1930 vom Bundespräsidenten Wilhelm Miklas begnadigt.
Nach seiner Freilassung zog Christian Voigt nach Bayern zurück, heiratete 1934 in Nürnberg die Tochter eines Kaufmanns und arbeitete im Geschäft seines Schwiegervaters mit. Er unterstützte die NSDAP. Sein Ansuchen, Mitglied dieser Partei zu werden, wurde aber abgelehnt.

Der zweifache Lustmörder Christian Voigt starb 1938 „resozialisiert“ in Nürnberg.

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