Die einzelnen Fälle werden ohne Zeitschien und ohne territoriale Anaordnung nach und nach seitenweise aufgelistet (max. 100 Fälle pro Seite).
Einleitung
Unter allen Trieben, die uns die schaffende Natur in die Wiege gelegt und auf den Lebensweg mitgegeben hat, steht der Selbsterhaltungstrieb, die Lust zum Leben, obenan. Er ist stark genug, uns sogar an ein Leben von Krankheit und Elend zu fesseln, und der Gesetzgeber läßt in richtiger Erwägung dieses übermächtigen Triebes die Vernichtung eines fremden Lebens ungestraft, wenn sie in der Verteidigung des eigenen geschieht. Um so mehr mußte der Selbstmord, die Vernichtung des eigenen Lebens, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Man denkt sich psychologisch den Selbstmörder meist als einen Menschen, den in einer trüben Stimmung aus irgendeinem Grunde (Not, Eifersucht) der Lebensüberdruß, der Lebensekel erfaßt und der nun in diesen Gedanken verzweifelt ein Ziel setzt. Dieser Stimmung sind wohl am günstigsten die trüben Wintermonate, insbesondere die Allerseelenstimmung des November. Auch die Tatsache, daß im Winter die wirtschaftliche Not größer ist, weil geringere Arbeitsmöglichkeiten vorhanden sind, und das dadurch geringere Einkommen noch erhöhte Ausgaben verlangt für Heizung und wärmere Kleidung, müßte um diese Zeit die Selbstmordstimmung fördern. Aber trotzdem hat die Selbstmordkurve in den Wintermonaten, besonders im Dezember, bei uns keinen hohen, sondern ihren tiefsten Stand. Auf der südlichen Erdhälfte erreicht sie in den dort heißen Monaten Dezember bis Februar ihren Höhepunkt und ihren tiefsten Stand in den dort kalten Monaten Mai bis Juli. In den Tropen, wo die Temperaturen zweimal im Jahre ansteigen, hat auch die Selbstmordkurve zwei Höhepunkte.
Bei der Wahl der Mittel zieht die Frau das Gift vor, während der Mann mehr den Freitod durch Erhängen sucht. Die Zahl der Selbstmorde durch Erschießen ist bei den Frauen ganz gering, bei den Männern erheblich größer, umgekehrt ist es beim Tode durch Ertränken.
Häufig gibt auch der Beruf den Ausschlag: der Offizier greift zum Revolver, der Arzt oder Apotheker zum Gift, der Schlächter zum Messer.
Maisch (Bilder aus der Geschichte der Selbstmörder) berichtet von einem jungen Professor der Medizin, der während einer Vorlesung einige Tropfen Gift in eine Phiole goß und dabei seinen Tod in zwei Minuten ankündigte. Er leerte das Glas und alle Versuche seiner Zuhörer, ihn zu retten, waren erfolglos.
Ein Hutmacher stürzte sich einen langen Seidenhut über das Gesicht und erstickte, und ein junger Mediziner, dem das genommene Morphium zu langsam wirkte, versuchte sich das Herz herauszunehmen. Man fand ihn tot und auf dem Tische die blutüberströmten pathologischen Beobachtungen, die er bis zu seinem letzten Augenblicke fortgesetzt hatte. Ein schwangeres Mädchen stürzte sich von einer Brücke in den Rhein und kam dabei zur Geburt. Eine Frau tränkte ihr Bett mit Petroleum, legte sich hinein und zündete es an.
Durch Eintreiben eines Schlagbolzens, wie sie beim Schlachten der Tiere benutzt werden, in die Stirn, beging ein Fleischer Selbstmord.
Einen unfreiwilligen Freitod fand ein junger Mann, der den Wunsch hatte, genossene Lektüre praktisch zu erleben. Er versuchte, sich selbst zu fesseln und konstruierte dazu eine umfangreiche Vorrichtung in einem Wagen. Die Schlinge zog sich unvermutet um seinen Hals zu und tötete ihn.
Mannigfach ist die Art der Ausführung des Selbstmordes und vielleicht noch mannigfacher sind die Gründe des Freitodes. Es hat oft den Anschein, als ob das Leben in geradezu leichtfertiger Weise weggeworfen würde.
Ein junger Mann sprach mit Begeisterung vom wunderschönen Rhein, in dem er mit Freude begraben sein wollte. Er schrieb vor der Tat einen Brief an die Behörde, in dem er dieser Begeisterung Ausdruck verlieh, und fügte eine Skizze hinzu, um die Stelle seines Sprunges in den Strom deutlich zu machen.
Ein anderer bekundete in einem hinterlassenen Schreiben, daß er in den Tod gehe, weil er nun einmal nicht auf Alkohol verzichten könne; um noch weiter zu trinken, fehlten ihm die Mittel, und er wolle nicht aus Sucht zum Alkohol auf die verbrecherische Bahn abgleiten.
Manchmal scheint auch der Entschluß recht schwer zu werden. Ein älterer Herr legte mehr als ein dutzendmal die Fahrt mit dem Fährboot zwischen beiden Rheinufern zurück, ehe er sich entschloß, über Bord zu springen. Gute Schwimmer fesselten sich selbst, um nicht zuletzt noch dem nassen Grab entrinnen zu können. Einer schwamm sogar in dunkler Frühe an einen Raddampfer heran und setzte sich unbemerkt in den Radkasten, um dann beim Anlauf der Maschine ein schreckliches Ende zu finden. Der Geldfälscher D., gegen den verhandelt werden sollte, trank kurz vor Beginn der Gerichtssitzung eine Flasche Brennspiritus aus und zündete dann im Gerichtssaal, vor dem Richter stehend, die seinem Mund entströmenden Alkoholdämpfe an. Er erlitt furchtbare Brandwunden, denen er bald darauf erlag. Der Kreidewerksbesitzer F., der bereits wiederholt Selbstmordabsichten geäußert hatte, begab sich in einer Nacht zur Ausführung seines Vorhabens in seinen Kreidebruch, steckte sich die Taschen voll Dynamit, streute die Sprengmasse um sich herum und zündete sie an. Er war sofort in Atome zerrissen. Die Explosion erschütterte die Häuser des Ortes so stark, daß zunächst ein Erdbeben vermutet wurde.
Ein, sich mit dieser Thematik befassender Wissenschaftler meint, daß die Widerstandskraft eines jeden Menschen einmal durch besondere Häufung unglücklicher Umstände gebrochen sein könne, aber solche Konstellationen seien nur ein einziges Mal im Leben gegeben, wenn man einmal darüber weg sei, begehe man im allgemeinen nie mehr Selbstmord.
Die Praxis spricht allerdings dagegen. Der dritte Selbstmordversuch eines Geschäftsmannes hatte Erfolg. Er starb, nachdem er sich in einen Sarg gelegt und Salzsäure getrunken hatte. Vorher hatte er schon versucht, sich zu erhängen und durch Aufschneiden der Pulsader das Leben zu nehmen.
Ein Arbeiter sprang in selbstmörderischer Absicht von der Höhe eines Steinbruchs in die Tiefe. Wie durch ein Wunder blieb er von jeder ernsthaften Verletzung verschont und konnte nach ein paar Tagen wieder aus dem Krankenhause entlassen werden. Bald darauf unternahm er einen zweiten Versuch und sprang von einem steilen Abhang auf einen 40 Meter tiefen felsigen Strand. Dabei hatte er das Glück, gerade auf einen Sandhaufen zu fallen, von dem er sich, abgesehen von einer kleinen Verstauchung, gesund und munter wieder erheben konnte.
Bei Bayreuth stach ein 22jähriger Geselle einen Wirt, dessen Tochter und den dazukommenden Polizeiwachtmeister mit einem Schlachtermesser nieder, dann stürzte er sich in einen Weiher, dort von Ortsbewohnern herausgezogen, erhängte er sich in einer Scheune.
Sensationsveranlagte scheiden mit theatralischem Gepräge. Eine junge Filmschauspielerin, die sich vergiftet hatte, hinterließ Briefe und umfangreiche Tagebücher, in denen zu lesen war, daß sie aus Gram über den Tod eines berühmten Filmschauspielers in den Tod gegangen sei. Er sei ihr mehr gewesen als allen anderen Frauen der Erde, ihr wirklicher Geliebter und vor Gott ihr Gatte, der ihr trotz der räumlichen Entfernung die Treue gehalten habe. Nachforschungen ergaben, daß die Verstorbene den Schauspieler nie mit eigenen Augen gesehen hatte, daß sie virgo intacta war und sich in ihre Rolle als des Filmhelden heimliche Gattin mit solcher Kraft hineingelebt hatte, daß sie gern und freudig dem vergeblich Geliebten mit einer heroischen Sensationsgeste in den Tod folgte. Der Wunsch „in Schönheit zu sterben" ist eine Besonderheit der Hysterischen und läßt Frauen vielfach den Freitod im Wasser suchen, damit ihr Äußeres nicht (wie etwa beim Erschießen oder Erhängen) entstellt werde; wenn sie sich eine Vorstellung von dem Aussehen einer Wasserleiche machen könnten, würden sie ihre Ansicht ändern.
Um sich zu erschießen, stellte sich ein Selbstmörder an das Ufer eines Flusses, damit er nach dem Schuß ins Wasser fiel. Er wollte ertrinken, wenn der Schuß nicht tödlich war.
Eine Selbstmörderin erhängte sich im Liegestuhl.
Gemeinsamer Freitod kommt bei Geschwistern, Liebespaaren und alten Eheleuten vor; auch bei Frauen, die innige Freundschaft oder gemeinsames Schicksal verbindet.
Gemeinsamen Selbstmord verübten zwei Frauen, « die von demselben Manne betrogen worden waren. Größtes Aufsehen erregte der Freitod zweier junger Mädchen, deren Verlobte bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen waren; die beiden Schwestern sprangen eng umschlungen aus etwa 1700 Meter Höhe aus einem Verkehrsflugzeug.
Es gibt eine Veranlagung zum Selbstmord, und in manchen Familien konnte sie in mehreren Generationen nachgewiesen werden. Auch Selbstmordepidemien sind aufgetreten.
Eine Gruppe von 9 jungen Chinesinnen, die im Alter von 13—19 Jahren standen, band sich mit Stricken zusammen und stürzte sich in einen Fluß, der in der Nähe ihres Heimatortes vorüberfließt. Massenselbstmorde sind auch in der übrigen Welt nicht selten und die Ansteckungsgefahr, die der Freitod in sich birgt, hat mehrfach Selbstmordepidemien verursacht.
Der Tour St. Jacques in Paris mußte geschlossen werden, um den fast täglichen Selbstmorden durch Herabspringen vom Turm ein Ende zu machen.
Nachdem sich in einem dunklen Durchgang des Hotels des Invalides einer der Insassen des Hauses an einer Säule aufgehangen hatte, erhängten sich in kurzer Zeit weitere zwölf, bis der Gang zugemauert wurde.
Im New Yorker Zentralpark gab es eine Selbstmörderbank und in Berlin am Ufer eines Sees eine „Ewigeruhebank".
Vom Kraterrand des japanischen Vulkans Mihara stürzte sich zuerst am 13. Februar 1933 eine 20jährige Studentin in die glühende Lava, innerhalb eines Jahres folgten ihr weitere 900 Selbstmörder, noch vor einigen Monaten lösten sich dort bei einem Touristenbesuch 3 junge Leute aus der Menge, während der Führer seine Erläuterungen gab, traten (zuerst zwei, dann der dritte) auf das etwas über den Kraterrand vorgeschobene Brett, von dem aus man das Brodeln in der Tiefe besser beobachten kann, und warfen sich mit einem Aufschrei vor den Augen der entsetzten Zuschauer in die Tiefe.
Im Oktober 1955 sprang ein 16jähriger Schlosserlehrling von einer Brücke über die Isar in den Strom. Er war der 200. Selbstmörder, der dort den Freitod suchte und fand.
Selbstverständlich wird sich die Macht der Ansteckung dort am stärksten erweisen, wo sich die meiste Veranlagung findet. In dieser Weise wirkt auch die Presse nachteilig ein, indem sie durch eine möglichst ausführliche Schilderung interessanter Fälle die Aufmerksamkeit aller Selbstmordkandidaten auf sich zieht und sie dadurch zum Selbstmorde anregt. Die Gründe, welche in den Freitod führen, sind schon deshalb schwer zu erfassen, weil die Selbstmörder nach der Tat über die Ursachen ihres Verhaltens keine Auskunft mehr geben können.
Man hat darum versucht, das Wissen um die Selbstmörderpsyche durch die eigenen Aufzeichnungen der Verstorbenen zu ergänzen und verschiedene Forscher haben die hinterlassenen Schriftstücke von Selbstmördern daraufhin einer Untersuchung unterzogen. Viele von diesen Schriften waren mit voller Klarheit abgefaßt. Sie verhehlten nicht die Absicht des Verfassers, und sie beweisen, daß man sich den Tod auch bei vollem Bewußtsein geben kann. Andere unterlagen dem Drucke der Verhältnisse oder ihrer Krankheit, und während die einen ihr Begräbnis und ihre anderen Angelegenheiten auf das sorgfältigste anordnen, ist dies den andern offenbar gleichgültig.
Als Beweggründe des Selbstmordes nennt eine Statistik Geistes- und Nervenkrankheiten, körperliche Leiden, wirtschaftliche Not, Lebensüberdruß, Gemütsbewegungen und führt von den Letzteren auf: Liebeskummer, Familienzwist, strafbare Handlungen, gekränktes Ehrgefühl, Tod eines Familienmitgliedes, Alimentenzahlungen, außereheliche Schwangerschaft. Mannigfach sind die Irrwege der Seele, die zum Freitod führen. Vom plötzlichen, zynischen Abbrechen der Lebensbeziehungen bis zum Abschied nach qualvollem Ringen finden sich viele Zwischenstufen.
Ein junges Ehepaar hatte nach einem Leben in Üppigkeit riesige Schulden. Vor dem gemeinsamen Selbstmord wurden Briefe an die Gläubiger geschickt, daß sie leider nicht zahlen könnten, mit dem Zusatz: „Denn störend hier, wie überall, wirkt der eigene Todesfall" (Zitat aus Wilhelm Busch).
Im Rock eines Selbstmörders fand man folgendes Gedicht:
Immer enger wird mein Denken,
Immer blinder wird mein Blick;
Mehr und mehr erfüllt sich täglich
Mein entsetzliches Geschick.
Kraftlos schlepp' ich mich durchs Leben,
Aller Lebenslust beraubt;
Habe keinen, der die Größe
Meines Elends kennt und glaubt.
Doch mein Tod wird euch beweisen,
Daß ich Jahre, Jahre lang
An des Grabes Rand gewandelt,
Bis es jählings mich verschlang.
Oft bleiben die Selbstmorde im Versuch stecken, und auch von großen Männern wird berichtet, daß sie solchen Stimmungen unterlegen sind. König Friedrich I. von Preußen brachten seine Gichtanfälle zur Verzweiflung, Napoleons wechselvolles Schicksal brachte ihn mehr als einmal dem Freitode nahe, und Goethe bekennt im 13. Buch: von „Dichtung und Wahrheit" seine eigenen Selbstmordgedanken, die im Egmont und Werther Gestalt annahmen. Nicht selten gehen Selbstmörder ganz klaren Sinnes in den Tod und Selbstmörderklubs sind keineswegs nur dichterische Phantasieen.
Zumeist sind die Menschen, welche den Freitod suchen, weiche, oft melancholische Naturen, die sich vom Geschehen treiben lassen und dadurch auch letzten Endes in den Tod getrieben werden. Sie leben in einer dauernden Angst. Daß das Leben ein beständiges Auf und Ab ist, ein beständiger Wechsel von Gutem und Schlechtem, das sehen sie nicht. Ihre Gedanken sind nur auf das Ab, auf das Schlechte konzentriert, und selbst wenn etwas Gutes durchzuschimmern beginnt, dann sieht ihr „Geist, der stets verneint", auch darin nur wieder ein Minus.
Ihr gesamtes Denken, ihre ganze Einstellung zum Leben ist falsch. Die subjektive Betrachtung alles Geschehens und aller Dinge, die den meisten Menschen eignet, ist bei ihnen auf die Spitze getrieben. Weil sie immer nur Fehlschläge sehen, immer nur wieder Nackenschläge des Schicksals zu fühlen glauben, werden sie mutlos, und in dieser Mutlosigkeit sehen sie selbst in dem Positiven, das ihnen das Leben bringt, etwas Negatives. ,
Der gewaltigste Antrieb des Negativen im Menschen ist die Angst, die reale Lebensangst; der Gedanke, das Leben nicht mehr meistern zu können, wird meistens zur psychologischen Ursache der Selbstmorde. Bei wirtschaftlich un-günstigen Verhältnissen ist es die Notwendigkeit, sich immer mehr einschränken zu müssen und die Vorstellung, auf absehbare Zeit keine Besserung erhoffen zu können, welche diese Angst wecken und stärken.
Die Lockrufe des positiven Lebenstriebes sind zunächst kräftiger und machtvoller, bis eine an sich vielleicht geringe oder auch auf einem ganz anderen Gebiet liegende Ursache den Todestrieb übermächtig anschwellen läßt. Das dauernd auf Null stehende Lebensbarometer bedarf nur noch eines letzten Anlasses, um ganz unter Null zu sinken und damit den Lebensmüden zum Freitod zu treiben. Oft genügt eine einfache Steigerung des gewohnten Seelenzustandes, um das als Last empfundene Leben abzuschütteln, und diese Steigerung kann bereits durch ganz geringe Ursachen veranlaßt werden. Schon eine vermeintliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage läßt diese Menschen die Hoffnung, daß es noch einmal besser werden könne, völlig verlieren und zur Selbsttötung kommen.
Selbst der Zufall hat dabei seine Bedeutung, denn mancher letzte Entschluß zum Freitod wurde gefaßt, weil der Selbstmörder bei einem solchen Tiefstand seines Lebensbarometers einen Revolver zur Hand hatte oder gerade am Ufer eines Flusses stand.
Quellen: - Verbrechen in Tat und Bild (H. Gummersbach) Ausgabe etwa 1960 – S. 214