Vom Mittelalter bis in die heutige Zeit.


Phrenologie


Das Wesen eines Menschen könne er an dessen Kopfform ablesen, behauptet Ende des 18. Jahrhunderts der aus Schwaben stammende Mediziner Franz Joseph Gall. So zeuge eine Wölbung über dem Auge von Ortssinn, ein langer Hinterkopf von Anhänglichkeit. Rasch wird Galls „Schädellehre“, die Phrenologie, populär und begründet sogar eine ganze Industrie.

Der König von Preußen ist skeptisch. Er hat diesen Franz Joseph Gall ins Potsdamer Schloss eingeladen, um ihn auf die Probe zu stellen: den aus Wien angereisten Arzt, der überall für Furore sorgt, wo er auftaucht. Behauptet Gall doch, er könne am Schädel ablesen, was für ein Mensch jemand ist. Ob er etwa Humor hat oder Wortwitz. Ob er scharfsinnig denkt oder zur Eitelkeit neigt.

Franz Joseph Gall (1758–1828) untersucht als junger Arzt die Schädel von Verbrechern und Geisteskranken von Streitsuchenden und Friedfertigen. Und glaubt fortan, an den Schädelwölbungen eines Menschen dessen Intelligenz oder Triebhaftigkeit, Mordlust oder Anhänglichkeit erkennen zu können. 

© Bettmann/CORBIS

Nun, Friedrich Wilhelm III. wird Gall testen. Offiziell hat er den Doktor zu einem Militärbankett gebeten. Tatsächlich aber sitzen an den Tischen Zuchthausinsassen in Uniform. Und Gall, so schildert es die Anekdote, besteht die Probe. Statt eines edlen Charakters liest er Angriffslust und Zerstörungswut aus dem Schädel eines vermeintlichen „Offiziers“. Das beeindruckt den König so, dass er dem Arzt die Wahrheit gesteht. Und ihm einen Brillantring schenkt.

Ein weiterer Triumph für Gall auf einer Reise voller -Triumphe. Zweieinhalb Jahre lang reist der gebürtige Schwabe von 1805 bis 1807 durch halb Europa. Und wo immer er Station macht, strömen die Menschen, um zu sehen, wie er die Gehirne von Toten seziert, wie er deren Schädelformen interpretiert. Eine Wölbung schräg über dem rechten Auge? Der Mensch hatte guten Ortssinn. Eine Delle in der Stirnmitte? Da war es mit dem Scharfsinn wohl nicht weit her. Auch den Charakter von Lebenden ermittelt der Arzt. Er hat einen Apparat gebaut, den er Menschen aufstülpt wie einen Hut. Dabei drücken die Wölbungen ihrer Schädel bewegliche Stifte durch ein Papier. Das Perforationsmuster verrate die Persönlichkeit, sagt Gall.

So begeistert sind die Menschen von dieser „wissenschaftlichen“ Charakterdiagnose, dass sie bald beginnen, sich gegenseitig die Köpfe abzutasten. Es zirkulieren - Gedenkmünzen mit Galls Porträt, und auf Schnupftabakdosen werden seine Schädelkarten abgebildet.

Sonderbare Schädelwölbungen elektrisieren den jungen Arzt.

Auf die Idee einer „Schädellehre“ kommt Gall rund drei Jahrzehnte zuvor während seiner Studienzeit. Der im Jahr 1758 geborene Kaufmannssohn hat sich noch nicht lange für Medizin eingeschrieben, als ihm auffällt, wie mühelos manche Studenten lateinische Begriffe lernen. Und all diese Lernkünstler haben große, vorquellende Augen.
Zufall? Der 19-Jährige erinnert sich an „klotzäugige“ Klassenkameraden in der Grundschule, denen auswendig lernen leichtfiel. Besitzen diese Schnellmerker vielleicht ein besonders großes Gehirnzentrum für das Behalten von Wörtern – so wie andere extralange Füße? Das würde auch die Glupschaugen erklären! Denn säße dieses Mega-Wortgedächtnis tatsächlich direkt hinter der Stirn, würde es vermutlich so viel Platz einnehmen, dass die Sehorgane aus dem Schädel gedrückt würden.

Porträts von Kriminellen aus einer Phrenologie-Studie von 1895. Bereits 100 Jahre zuvor untersucht Gall die Schädel von Raufbolden und postuliert, dass ihr Kopf hinter den Ohren breiter sei als der von Feiglingen.       © SPL/Agentur Focus

Die Idee elektrisiert Gall. In Wien, wo er sich nach dem Studium eine erfolgreiche Praxis aufbaut, verschafft sich der junge Schwabe Zugang zu Gefängnissen und Irrenhäusern, betastet die Schädel von Verbrechern und geistig Kranken. Er lädt -Fiakerkutscher und Laufburschen zu sich ein und vergleicht die Köpfe der Raufbolde mit denen der Friedfertigen. Es sei auffällig, schreibt er, „dass alle Stänkerer unmittelbar hinter und im Niveau der Ohren den Kopf viel breiter hatten als die Feiglinge“.
Er obduziert Leichen und sammelt ihre Schädel – mehr als 300 –, dazu zahlreiche Wachsmodelle und Gipsabdrücke. Besonders Menschen mit Besessenheiten fesseln ihn. Der Student, der gern Tiere quält. Die Närrin, die Kleider zerreißt. Der Verrückte, der Häuser anzündet. Aus den Erhebungen und Einbuchtungen ihrer Köpfe hofft Gall zu lesen, wo im Gehirn die überdimensionierten „Organe“ sitzen, die sie zu ihrem Tun treiben.
Und was er nicht alles entdeckt! Die Anhänglichkeit etwa ortet Gall am Hinterkopf – deshalb falle dieser bei Frauen oft länger aus. Den Sinn für Zahlen siedelt er nahe der Augenhöhle an. Insgesamt findet Gall 27 „Hirnorgane“, von der Weisheit bis zum Fortpflanzungstrieb – der lasse sich an einem breiten Nacken erkennen.

Komplexe psychische Funktionen wie Intuition oder Wortwitz seien eingrenzbar und könnten im Schädel lokalisiert werden, nimmt Gall an. Im Gegensatz dazu glauben viele Zeitgenossen, solche Eigenschaften seien homogen im Hirn verteilt. Wenn sie eines sezieren, säbeln sie es in Stücke wie einen Käse.
Gall dagegen schlängelt sich mit Messern, Pinzetten und Scheren an den Fasern entlang, klaubt die Windungen behutsam auseinander. So entdeckt er als Erster, dass die graue Substanz, die einen Großteil des Gehirns ausmacht, auch im Rückenmark vorhanden ist.
Die Furore, die seine Thesen auslösen, veranlasst andere, ebenfalls ernsthaft die zerebrale Geographie zu erkunden. Und sei es nur, um Gall zu widerlegen.
Denn dessen Theorie, dass der Geist des Menschen – sein Denken, Fühlen und Wünschen – allein dem Gehirn entspringt, kommt gerade den Religiösen gotteslästerlich vor. Wäre dann nicht die Seele im Hirn angesiedelt? Wie kann sie dann unsterblich sein? Wie der Wille frei, wenn er das Produkt einer geistigen „Maschine“ ist, deren „Hebel, Räder und Springfedern“ bereits bei Geburt feststehen? Wenig nützt da, dass Gall auch ein „Organ der Gottesverehrung“ zu identifizieren glaubt. Es sitzt, wie es sich gehört, ganz oben im Kopf.

Am Weihnachtstag 1801 verbietet Kaiser Franz II., dass Gall seine religionsgefährdende Lehre in Wien weiterhin öffentlich verbreitet. Doch genau das macht Gall international berühmt – denn aus Sorge, wissenschaftlich zu versauern, verlässt er Wien im März 1805 und bereist mehr als 50 Städte, begleitet von seinem Assistenten Johann Caspar Spurzheim, zwei Affen, einem Diener, einem Wachsmodellierer und einer stattlichen Zahl Schädel.
Für die zunehmende Zahl von Menschen, die Zweifel haben an der kirchlichen Lehre, bietet Galls säkulare Version der Selbsterkenntnis eine willkommene Neuerung. Von Johann Spurzheim nach England und Amerika getragen und in „Phrenologie“ umgetauft, begründet die Schädellehre eine regelrechte Industrie. Berufsberater vermitteln Karrieren auf Basis der Kopfform, Heiratswillige suchen Partner mit kompatiblen Buckeln am Haupt.

Galls Mutmaßungen bewahrheiten sich nicht.

Zu Fall kommt die Phrenologie am Ende just durch jene Fortschritte in der Gehirnforschung, die sie inspirieren hilft. Je mehr die Anatomen über die Geographie des Schädelinneren lernen, je mehr sie neuronale Verletzungen studieren und erkennen, wie sie sich auswirken, desto mehr zeigt sich:

Funktionelle Gehirnzentren existieren zwar – und damit bestätigt sich eine wichtige Erkenntnis Galls. Doch repräsentieren sie nicht jene Eigenschaften, die der Phrenologie im Hirn verortet hat. Vor allem besteht kein Zusammenhang zwischen Schädelform und Charakter.
Bald nehmen nur noch Esoteriker sowie – viel später – Nationalsozialisten die Schädellehre ernst (die suchen darin Beweise für ihre vermeintliche rassische Überlegenheit).

Noch eine weitere Annahme Galls aber erweist sich als richtig. 1861 autopsiert der Franzose Paul Broca einen Patienten, der schwer sprachgestört war. Als Broca den Schädel aufsägt, sieht er, dass das Gehirn des Mannes in der dritten Frontalwindung links beschädigt ist – just dort, wo Gall das Sprachzentrum verortet hatte.
Da ist der revolutionäre Denker bereits 33 Jahre tot. Er stirbt am 22. August 1828 bei Paris. Ob den Trägern auffällt, dass der Sarg, den sie zur Grube schleppen, etwas leichter ist? Der Leichnam darin endet an den Schultern. So wie von Gall zu Lebzeiten verfügt, hat ein Schüler den Kopf abgetrennt und den Schädel Galls eigener Sammlung hinzugefügt. Unter der Katalognummer 19216 ist er noch heute im Musée de l’Homme in Paris ausgestellt.

Quellen: - GEOkompakt Nr. 15 - 06/08




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