Vom Mittelalter bis in die heutige Zeit.


Das neue Pitaval

Politisch relevante, merkwürdige und kuriose Kriminalfälle sind in diesem Pitaval vereinigt, Gerichtsverfahren, die in ihrer Zeit Aufsehen erregt haben und die auch für den Leser heute noch interessant sind. Sie werfen ein bezeichnendes Licht auf vergangene gesellschaftliche Zustände und fördern so manches, bisher Unbekanntes zu Tage.


(3.Seite mit 4 Fällen)

1. Ferdinand Gump und Eduard Gänswürger  -  1873


Kleines Vorwort zum Artikel:

Als Donaumoosräuber verübten Ferdinand Gump (* 1844) und Eduard Gänswürger (* 1843) zwischen 1871 und 1873 in den damaligen bayerischen Gerichtsbezirken Ingolstadt, Neuburg, Pfaffenhofen, Mainburg, Rottenburg an der Laaber, Schrobenhausen und Aichach zahlreiche Verbrechen, wobei ihnen das Altbayerische Donaumoos als Rückzugsgebiet diente. Was zunächst mit kleineren Diebstählen und Wildereien begonnen hatte, endete bei mehrfachen Raubmorden. Im Februar 1873 erschoss Gump seinen Komplizen, im Juni 1873 wurde er verhaftet. Gump starb in der Untersuchungshaft an Tuberkulose.
Am 3. Oktober 1843 kam in Grillheim bei Karlskron Eduard Gänswürger als zweites lediges Kind der Josepha Strobl zur Welt. Die Mutter heiratete kurze Zeit später den Kindsvater Andreas Gänswürger, worauf noch sieben weitere Kinder folgten. Trotz der ärmlichsten Verhältnisse war die Korbmacherfamilie stets darauf bedacht, den Kindern eine gute Erziehung zu ermöglichen. Bei den drei Söhnen fruchtete das elterliche Vorbild jedoch kaum. So wurde der älteste Sohn Andreas bereits in jungen Jahren wegen verschiedener Straftaten zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Im Jahre 1850 kam Eduard Gänswürger in die Volksschule nach Karlskron. Während der gesamten Schulzeit waren seine schulischen Leistungen nicht ausreichend, das Ergebnis führte nur zu einem dürftigen Lesen und Schreiben.
Im benachbarten Walding bei Reichertshofen bewirtschaftete die 26-jährige Ingolstädterin Walburga Seitz zusammen mit dem mittellosen Mooskolonisten Martin Gump ein kleines Anwesen. Am 29. Mai 1844 gebar sie einen als „illegitimus“ (ledig) eingetragenen Sohn, den sie auf den Namen Ferdinand taufte. Wenn auch die Eltern bald darauf heirateten, der mütterliche Geburtsname blieb zeitlebens ungewollt an Ferdinand hängen. Die Ortsbewohner nannten ihn abgekürzt „Fendi“, woraus er zum „Seitzfendi“ wurde. Er kam im Jahre 1850 ebenfalls in die Volksschule nach Karlskron, wo er bei allen Mitschülern bald als großer Raufbold gefürchtet war und deshalb auch von allen gemieden wurde. Bereits damals verlautete bei den Dorfkindern: „Wart nur Gump – du wirst mal ein großer Lump“. Als einziger Klassenkamerad verspürte jedoch Eduard Gänswürger keinerlei Furcht vor dem „Seitzfendi“, weshalb auch beide sehr bald Freundschaft schlossen. Dies hatte wiederum zur Folge, dass auch Gump kaum Interesse am Schulunterricht zeigte – von seinen weiteren neun Geschwistern bereitete er den Eltern stets die größten Sorgen.
Nach Beendigung der Schulzeit im Jahre 1860 begannen die beiden Schulkameraden Eduard und Ferdinand beim Schreinermeister Paul Heckersmüller in Reichertshofen eine Zimmererlehre. Heckersmüller bestätigte, dass sich zumindest der Lehrbub Gump „im höchsten Maße anstellig zeigte“. Gumps Mitlehrling dagegen schien der Arbeit stets aus dem Wege zu gehen und zog sein Geschick zur Wilderei dem ehrbaren Handwerk vor. Weitere Straftaten, wie Diebstähle und Körperverletzungen folgten, wofür beide zu empfindlichen Haftstrafen verurteilt wurden. Im November 1869 gelang Gänswürger die abenteuerliche Flucht aus einem Münchener Zuchthaus.


Der Artikel: Das Neue Pitaval (Willibald Alexis)  - Band 5

In Mainburg, einem kleinen Flecken an der Grenze von Ober- und Niederbayern, wurde am 11. Dezember 1872, einem Mittwoch, der letzte Markt vor Weihnachten gehalten. Von allen benachbarten Dörfern zogen Männer und Frauen, Burschen und Mädchen nach dem Ort, um Einkäufe für das Fest zu machen, denn es war ein schöner Wintertag, der so manchen hinauslockte.
Auch der Seiler Xaver Gruber von Elsendorf, ein junger Mann von dreißig Jahren, der sechzigjährige Söldner Joseph Ettmüller aus dem gleichen Dorfe und Franz Ullinger, ein Söldner von Irnsing, achtundfünfzig Jahre alt, hatten sich auf den Weg gemacht und einander auf der von Abendsberg nach Mainburg führenden Straße getroffen. Sie zogen plaudernd und ihre Pfeife rauchend ihres Weges. Als sie das Dorf Meilenhofen hinter sich hatten, begegneten ihnen drei Männer. Der eine war ein hoch aufgeschossener, hagerer Mann von einigen zwanzig Jahren, die beiden anderen, breitschulterig und untersetzt, mochten dreißig bis vierzig Jahre alt sein.
Alle drei trugen Jagdranzen und waren mit Gewehren und Revolvern bewaffnet. Sie taumelten hin und her, als ob sie betrunken wären, so dass ein Bauer, den sie kurz vorher überholt hatten, äußerte: »Die können mit ihren Gewehren und ihren Räuschen leicht ein Unglück anrichten! « Sie schienen bei guter Laune zu sein, denn einen anderen ebenfalls nach Mainburg gehenden Mann namens Xaver Zimmerer fragten sie: »Wo aus, Landsmann?“ Er antwortete: »Nach Mainburg!“ und fragte seinerseits, wohin sie wollten. Sie welschten im Scherze einige unverständliche Redensarten daher, als ob sie Franzosen wären, und erkundigten sich dann in gebrochenem Deutsch, in das sie öfters Monsieur und andere französische Worte einfließen ließen, woher er komme und wie er heiße. Der größte hatte, wie Zimmerer bemerkte, an seinem Zwillingsgewehr bereits den Hahn gezogen und die Kapsel aufgesetzt. Lachend waren sie weitermarschiert, bis sie auf die drei genannten Marktgänger stießen.
Hier erwiesen sie sich weniger umgänglich. Die beiden älteren der anscheinend so lustigen Burschen, die wie Jäger aussahen, gingen ruhig vorbei; der dritte jüngere aber hielt ohne weiteres sein Gewehr dem Seiler Gruber entgegen und rief ihm drohend zu: »Legt ab!« Gruber, der nicht recht wusste, ob es Scherz oder Ernst war, entgegnete: »Oho! So wird's doch nicht pressieren? « Kaum waren diese Worte gesprochen, da krachte der Schuss, und Gruber stürzte tödlich getroffen nieder. Jetzt war an dem furchtbaren Ernst der Sache nicht mehr zu zweifeln.
Ettmüller sprang hinzu und wollte seinem Kameraden beistehen, aber im Augenblick feuerte der Mörder zum zweiten Male, und auch Ettmüller brach zusammen. Ullinger stand da wie vom Donner gerührt, er wagte weder zu fliehen noch um Hilfe zu rufen, sondern erwartete jeden Augenblick, dass auch seine letzte Stunde geschlagen hätte. Er sah den fürchterlichen Menschen, der ein Stilett in der Brusttasche trug, dicht an seiner Seite, er sah, wie er den Revolver in die Höhe hob und die Mündung gegen seinen Kopf richtete. Zitternd gab er den beiden anderen Räubern, die gleich nach dem ersten Schuss umgekehrt waren, seine ganze Barschaft – vierhundertundfünfzig Gulden – und bat, ihm das Leben zu schenken. Aber der eine der beiden älteren schien ebenfalls nach Blut zu lechzen, er legte das Gewehr – ebenfalls einen sogenannten Zwilling – auf ihn an, sein Leben hing an einem Haar und wäre wahrscheinlich ebenso verloren gewesen wie das seiner Gefährten, wenn ihm nicht ein Retter aus der Mitte der Räuber selbst erstanden wäre.
Der dritte, der der älteste zu sein schien, rief seinem Spießgesellen zu: »Halt! Gewehr a! ««, gab dem Ullinger einige Kolbenstöße und jagte ihn mit den Worten: »Mach, dass du fortkommst! « von dannen. Der arme, zum Tode geängstigte Mann ließ sich das nicht zweimal sagen, sondern eilte fort, so schnell ihn seine Füße tragen wollten. Die Räuber beraubten nun ihre beiden Opfer. Sie fanden bei Ettmüller nur acht bis zehn, bei Gruber nur vierzig Gulden. Den Rest von sechzig Gulden, der in den Rücken der Jacke eingenäht war, entdeckten sie nicht. Hierauf warfen sie kaltblütig die beiden Leichname in den Graben neben der Straße und entfernten sich nach Aggersdorf zu.
Sie hatten erst eine kurze Strecke zurückgelegt, als ihnen der Söldner Jakob Neumaier von Train entgegenkam. Auch ihm hielt einer der drei Straßenräuber die Mündung des Gewehrs vor das Gesicht und rief: »Leg ab! « Ohne erst darauf zu warten, schlug ihn ein zweiter mit dem Kolben nieder und nahm ihm seine Barschaft ab, die aus fünf Gulden bestand. Auch Neumaier schwebte am Rande des Grabes, denn einer der Räuber machte Miene, ihn zu erschießen, und wurde davon nur abgehalten durch den Zuruf seines Genossen: »Schieß nicht! « Der Beraubte kam mit dem Leben davon und eilte nach Hause. Die Räuber bogen von der Straße ab und wandten sich dem sogenannten Hagelholze zu. Mehrere Leute sahen, wie sie sich auf dem Wege dahin miteinander balgten; dann aber verschwanden sie hinter den Bäumen, man hörte im Walde noch etliche Schüsse fallen, aber gesehen wurden sie in der Gegend niemals wieder.
Der Raubmord, der am hellen Tage auf offener, belebter Straße mit solcher Verwegenheit und Grausamkeit verübt worden war, rief nicht bloß in den nächsten Ortschaften, sondern im ganzen Lande einen plötzlichen Schrecken und allgemeine Entrüstung hervor. Wer war seines Lebens noch sicher, wenn solche Greueltaten ungestraft begangen wurden! Wer konnte noch ohne Angst und Furcht über Land auf das nächste Dorf gehen, wenn Banditen es wagten, drei Männer anzufallen, zu plündern und zwei davon niederzuschießen, während zehn und zwanzig Marktgänger in der Nähe waren!
Die Stimme des Volkes verlangte von den Behörden, dass sie die größte Energie aufbieten und sich um jeden Preis der Straßenräuber bemächtigen sollten. Es wurden in der Tat auch alle möglichen Anstrengungen gemacht, eine Menge von Zeugen verhört, eine große Zahl von Personen, die das Gerücht als die Schuldigen oder Mitschuldigen bezeichnete, in Untersuchungshaft genommen, Streifen angeordnet und alle verdächtigen Orte durchsucht, aber die Verbrecher waren und blieben verschwunden, als hätte der Erdboden sie verschluckt, und auch sonst waren die Ergebnisse der angestellten Nachforschungen gering.
Es verursachte unsägliche Schwierigkeiten, auch nur eine einigermaßen genügende Personenbeschreibung zu erlangen. Ullinger war viel zu entsetzt und erschrocken gewesen, als dass er hätte ruhig und genau beobachten können. Er wusste kaum, wie die Wegelagerer ausgesehen hatten. Genau so war es mit Neumaier. Auch er hatte in seiner großen Angst nicht daran gedacht, den Gesichtszügen und der Kleidung der Räuber besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Die Personen aber, die ihnen sonst begegnet waren, hatten sie ebenfalls für Marktgänger gehalten und keine Veranlassung gehabt, sie genau zu beobachten.
So ließ sich denn nur folgendes ermitteln: die drei Banditen hatten Waffen und Ranzen getragen, zwei waren mit Pelzmützen bekleidet gewesen; der eine war klein und untersetzt gewesen und hatte ein volles Gesicht, eine stumpfe Nase und ein aufgedrehtes Schnurrbärtchen gehabt; der zweite war etwas größer und der dritte ein hochgewachsener Mensch und bedeutend jünger als die beiden anderen gewesen. Am 10. Dezember, dem Tage vor der Tat, waren alle drei in dem einige Stunden entfernten Markte Geisenfels in einem Wirtshause eingekehrt, hatten dort eine Flasche Branntwein gekauft und sie mitgenommen, als sie abends acht Uhr weitermarschiert waren. Am nächsten Tage morgens gegen halb sechs Uhr waren sie zum Wirt Michael Wegermaier in Lindkirchen, eine kurze Strecke von Meilenhofen entfernt, gekommen – sie mussten also die ganze Nacht marschiert sein, um von Geisenfels nach Lindkirchen zu gelangen.
Bei dem Wegermaier hatten sie ein Maß Bier und sechs Flaschen Wein getrunken, und nach jeder Flasche Wein waren sie heiterer geworden und hatten angefangen zu singen, bis sie endlich in sehr lustiger Stimmung das Wirtshaus und das Dorf verlassen hatten, um in der Richtung nach Meilenhofen zu weiterzugehen. In Lindkirchen hatten sie sich für Metzger aus Neuburg an der Donau ausgegeben und waren auch dafür gehalten worden. Nach der sehr bestimmten Versicherung des Wirtes hatten sie damals Gewehre nicht bei sich gefühlt. Vermutlich hatten sie die Waffen, um kein Aufsehen zu erregen, vor dem Dorfe versteckt gehabt und dann bei ihrem Weggehen wieder an sich genommen. Die Kellnerin, der sie die ziemlich hohe Zeche in Zweiguldenstücken bezahlt hatten, hatte gehört, wie der eine seine Genossen gewarnt hätte, sie sollten nicht zu viel trinken, weil sie sonst schlechte Geschäfte machen würden.
Das war alles, was über die schreckliche Tat und die Täter ermittelt werden konnte, und doch wurden schon am 11. Dezember 1872 die Namen von zweien der Mörder genannt. Ein Gendarm zeigte an diesem Tage an, dass das Signalement des Räubers in den dreißiger Jahren, der eine Pelzmütze getragen habe, so ziemlich auf Ferdinand Gump und das Signalement des anderen jüngeren auf Eduard Gänswürger passe.
Gump und Gänswürger wurden damals, als die erwähnte Gendarmerieanzeige den Verdacht wegen des Raubmordes bei Meilenhofen auf sie lenkte, im bayrischen Zentral-Polizeiblatt wegen mehrfacher Diebstähle und äußerst dreist begangener Raubanfälle, die sie im Donaumoos begangen hatten, steckbrieflich verfolgt. Beide waren schon mehrfach vorbestraft. Ferdinand Gump, genannt der Seitzfendl, war am 29. Mai 1844 zu Walding im Gerichtsbezirke Neuburg an der Donau geboren und hatte als Zimmermann gelernt. Er war schon in früher Jugend verschiedene Male wegen Diebstahls verurteilt, am 20. Januar 1871 aber vom Bezirksgerichte Freysing in Oberbayern wegen Widersetzlichkeit und Jagdfrevel mit einer Gefängnisstrafe von einem Jahr belegt worden. Als er diese Strafe verbüßt hatte, war er nach Walding zurückgekehrt, hatte von neuem gewildert und gestohlen, war wiederum zweimal zu je einem Jahre Gefängnis verurteilt worden, hatte aber diese Strafe nicht angetreten, sondern hatte ein wildes, zuchtloses Räuberleben begonnen.
Eduard Gänswürger, der Sohn eines Korbmachers in Grillheim, einem Nachbarorte von Walding, war jünger als Gump, etwa fünfundzwanzig bis siebenundzwanzig Jahre alt, aber noch ein Schulkamerad von ihm und bei früheren Unternehmungen, namentlich beim Wildern, sein Gefährte gewesen. Vom oberbayerischen Schwurgerichte war er wegen Diebstahls mit mehreren Jahren Zuchthaus bestraft und in das Zuchthaus nach München eingeliefert worden, aus dem er aber schon nach kurzer Zeit in abenteuerlicher Weise entsprungen war. Im Hofe des Zuchthauses hatte nämlich ein Bauer, der für die Anstalt Kartoffeln lieferte, seinen Wagen abgeladen und ihn dann mit den leeren Kartoffelsäcken stehen lassen.
Der Wagen war einige Augenblicke ohne Aufsicht geblieben, dann war der Bauer zurückgekehrt und durch das von einem Posten wohlbewachtes Tor hinaus seiner Heimat zu gefahren. Als er einige Stunden gefahren war und sich mitten in einem Walde befunden hatte, war es unter den Säcken plötzlich lebendig geworden, und zu seinem größten Erstaunen hatte sich ein graugekleideter Mensch erhoben, in dem der Bauer sofort einen Zuchthaussträfling erkannt hatte. Es war Gänswürger gewesen, der gerade im Hofe des Zuchthauses beschäftigt gewesen war und den günstigen Augenblick wahrgenommen hatte, sich unter den Säcken des Wagens zu verbergen und auf diese Weise seine Freiheit wiederzuerlangen. Er hatte eine fürchterliche Drohung gegen den ganz verblüfften Bauer ausgestoßen, war vom Wagen heruntergesprungen und im Dickicht des Waldes verschwunden.
Gänswürger und Gump waren zwei von den Räubern, die den Mord bei Meilenhofen ausgeführt hatten, der dritte Teilnehmer wurde nicht ermittelt. Die Geständnisse Gumps, in denen er nachmals seine und Gänswürgers Schuld unumwunden einräumte, haben über die Person des dritten Gefährten zu keinem Aufschluss geführt. Seine Angabe einem Gendarmen gegenüber, ein gewisser Johann Höckner, ein Landsmann von ihm, sei mit dabei gewesen, hat er, wie wir gleich sehen werden, zurückgenommen, so dass die Untersuchung gegen Höckner eingestellt werden musste. In einem Verhöre vor Gericht hat er sich über den Raubanfall so ausgelassen: »Am 10. Dezember 1872, eines Dienstags, war ich im Geisenfelser Forste mit Gänswürger nach längerer Trennung wieder zusammengetroffen.
Er hatte noch einen Menschen bei sich, einen Burschen von mittlerer Statur in den dreißiger Jahren, der von Fahlenbach sein sollte. Wir kannten uns nicht gleich, als wir einander trafen, und riefen uns an mit: »Halt, wer da!' Beim Näher kommen erkannten wir uns. Ich trug damals einen Lefaucheuxzwilling und einen sechsläufigen Revolver bei mir. Gänswürger gebärdete sich wie toll. So schoss er aus purem Mutwillen auf einen Hund und äußerte mehrmals: ›Heut muss alles hin werden, was mir in den Weg kommt! ‹ Gegen Morgen kamen wir nach Lindkirchen und gingen in ein Wirtshaus, wo wir zuerst einige Maß Bier, dann sechs bis acht Flaschen Wein tranken. Unsere Gewehre hatten wir außerhalb des Dorfes in einem Baume versteckt. Als wir uns sattgetrunken hatten, brachen wir auf in der Richtung nach Mainburg. Gänswürger war kreuzfidel, und auch ich machte einigem Spaße. Gänswürger sagte: ›Heute muss das Geschäft recht gehen! ‹«
Gump erzählte dann die beiden Überfälle auf der Straße nach Mainburg genau so, wie sie die Zeugen Ullinger und Neumaier dargestellt hatten, und fügte nur noch hinzu: »Nicht ich, sondern, so wahr Gott lebt, Gänswürger schoss die beiden Bauern nieder, und zwar so rasch wie der Blitz. Ich fürchtete, er wollte auch noch den dritten totschießen. Er stürzte sich wie ein Tiger auf die beiden Leichen. Der dritte von uns, so wahr Gott lebt, war nicht der Höcknerhans. Die Gendarmen haben wegen dieses Höcknerhans fortwährend in mich hineingebohrt, und so sagte ich endlich Ja, um nur Ruhe zu bekommen.
Ich habe diesen Dritten nach dem Morde bei Meilenhofen nicht mehr gesehen, und da ich durch die Leute erfuhr und auch in den Zeitungen las, dass in der Nähe von Mainburg ein schon verwester und von den Füchsen angefressener Leichnam gefunden worden sei, so hegte ich den Verdacht, Gänswürger habe den Dritten ermordet und ausgeraubt. Gleich nach dem Morde fing ich an, die Tat zu bereuen.
Ich machte, als wir die Straße verließen und nach dem Walde gingen, dem Gänswürger Vorwürfe über sein mörderisches Werk. Dieser aber ließ sich keine Reue beikommen. Er sagte nur: ›Wenn dir's nicht recht ist, mach ich's mit dir gerade so.‹ Er kam von neuem so in die Wildheit hinein, dass er wieder auf die Straße wollte und selbst im Walde noch mehrere Schüsse abfeuerte. Ich schrie, er sei ein Mörder und des Todes schuldig; darauf zankte er mich aus und wollte seinen Revolver aus der Tasche holen. Wir gerieten in ein Handgemenge. Gänswürger riss dem Dritten einen Ärmel aus dem Rocke, mir schlug er seinen Stutzen auf dem Rücken entzwei und warf heftig fluchend die beiden Stücke gegen einen Baum.
Später versöhnten wir uns, wir setzten uns im Walde nieder und teilten die Beute. Gänswürger erhielt den größten Anteil, der Dritte bekam nur siebenundzwanzig Gulden. Mir ekelte vor Gänswürger; ich würde auch nicht länger mit ihm weitergegangen sein, wenn ich nicht gefürchtet hätte, dass er noch viele Menschen umbrächte; das wollte ich verhindern. Er hatte allen Bauern Rache geschworen, weil er und sein Bruder früher einmal bei einem Diebstahl von Bauern ergriffen, an einen Baum gebunden und mit Mist- und Heugabeln misshandelt worden waren. Er hatte auch gelobt, nicht früher aus Bayern wegzugehen, als bis er dreißigtausend Gulden zusammengeraubt hätte. «
In der Nähe von Meilenhofen und Mainburg war den Räubern nach dieser Tat der Boden zu heiß geworden. Deshalb hatten sie diese Gegend so eilig als möglich verlassen. Die beiden – der Dritte blieb für immer verschollen – tauchten dann im Januar 1873 auf dem Schauplatze ihrer früheren Tätigkeit im schwäbischen Donaumoose wieder auf und wurden zur Landplage für die dortige Bevölkerung. Nacheinander wurden am Abend des 14. Januar auf der von Marxheim nach Bertoldsheim führenden Landstraße der Söldner Andreas Wegner, der Schneider Lorenz Müller und Joseph Mäudl überfallen und ausgeplündert.
Jeder von ihnen wurde von zwei Männern angehalten, die plötzlich hinter einem Baum vorsprangen, ihm die Pistole auf die Brust setzten und unter Todesdrohungen Geld verlangten. Ohne sich zu weigern, gab jeder sofort hin, was er bei sich trug. Ein gewisser Leitmaier zeigte etwas mehr Mut, er wollte sich nicht ohne weiteres ausrauben lassen, aber es bekam ihm schlecht. Im Augenblicke schlug ihn einer der Räuber mit dem Gewehrkolben auf den Kopf, so dass er bewusstlos niedersank. Nun wurde ihm alles abgenommen, was er an klingender Münze bei sich führte. Die Beute war freilich bei allen diesen Überfällen sehr gering, mitunter bestand sie sogar nur in wenigen Kreuzern. Desto ergiebiger fiel ein Raubzug aus, den Gump und Gänswürger am 16. Januar unternahmen. Dieses Verbrechen ist zwar von Gump geleugnet worden, man weiß nicht, aus welchen Gründen, aber es besteht kein Zweifel darüber, dass er und sein Genosse es verübt haben.
An dem genannten Tage gingen die Gütler Michael und Lorenz Guisl zusammen mit Joseph Bauer auf der von Lensching nach Vohburg führenden Straße, um den Viehmarkt in Neustadt zu besuchen. Plötzlich standen zwei vollständig vermummte und mit Gesichtsmasken versehene schwarzgekleidete Kerle vor ihnen, schlugen ihre Gewehre auf sie an und riefen gebieterisch: »Legt ab! « Zitternd gehorchten die Überfallenen. Auf den Befehl der Räuber legten sie ihre Barschaft auf den Boden: Michael Guisl einen Geldgurt mit einhundertundachtzig Gulden, Lorenz Guisl eine Geldtasche mit elf Gulden, Joseph Bauer einen Geldgurt mit zweihundertundfünfundachtzig Gulden. Die beiden Unbekannten nahmen das Geld an sich, der eine von ihnen gebot den Beraubten, die nach Hause zurückkehren wollten, mit ausgestreckter Hand: »Nicht dahin! Hier herunter! « und zwang sie auf diese Weise, einen anderen Weg einzuschlagen. Bald darauf waren die beiden Räuber ihren Blicken entschwunden.
Diese so schnell aufeinander folgenden und mit so unerhörter Frechheit ausgeführten Raubanfälle vergrößerten den Schrecken, der sich seit dem Morde bei Meilenhofen noch nicht gelegt hatte, und verbreiteten das Gefühl der Angst und der Unsicherheit in allen Ortschaften des Donaumooses. Wiederum machte man die möglichsten Anstrengungen, die beiden Bösewichte, die das Gerücht nun schon an die Spitze einer Bande stellte, einzufangen, wiederum wurde von der Gendarmerie in allen verdächtigen Häusern, in den großen Wäldern und in den Mühlen genau nachgesucht, ja um das Gebiet, in dem sie sich aufhalten sollten, eine Kette von Polizeibeamten gezogen.
Aber alles war umsonst. Gump und Gänswürger wussten Bescheid. Manche Winternacht brachten sie allerdings in einem dunklen Walde, unter einem Felsen, in einer Höhle zu, aber oftmals ruhten sie auch in einem warmen Bette und wurden gastlich verpflegt. Es gab Leute genug, die ihnen entweder um hohen Lohn oder aus Furcht vor ihrer Rache ein Obdach gewahrten und sie versteckten, wenn in dem Orte Jagd auf sie gemacht wurde.
Nicht selten kamen sie zu einem Einödbauern, gaben sich ihm zu erkennen und verlangten von ihm Herberge, Essen und Trinken. Er gab ihnen, was sie begehrten, verbarg sie vor der Polizei, und auch wenn sie ihn längst verlassen hatten, wagte er kein Wort von den furchtbaren Gästen zu sagen. Gump unterhielt sich einmal drei Stunden lang mit einem Manne, der später als Zeuge auftrat, und bedrohte ihn unausgesetzt mit der gespannten Pistole. Er zwang ihn, sich zu ihm zu setzen, ihm alle Auskunft zu geben, die Gump haben wollte, und entließ ihn sodann mit der Warnung, bei Verlust seines Lebens von dem Zusammentreffen kein Wort verlauten zu lassen.
Aber auch Liebe wussten sich die beiden gefürchteten Bösewichter zu erzwingen, denn nicht leicht getraute sich ein Mädchen, einem von ihnen seine Gunst zu verweigern. So hatte Gänswürger eine Geliebte, die in der ungefähr zwölftausend Einwohner zählenden Festung Ingolstadt in Diensten stand, und war keck genug, die Stadt zu besuchen, sich ganz behaglich mit seinem Mädchen in einer Kneipe niederzulassen und dort mit ihr zu kosen. Das Mädchen versicherte später, Gänswürger habe ihr nie gefallen, aber sie habe sich nicht getraut, seinen Umgang zurückzuweisen, weil er zu allem fähig gewesen wäre.
Oft war Gump nicht selten ganz in der Nähe der nach ihm suchenden Polizeidiener und befand sich manchmal mit ihnen nicht nur in demselben Dorf, sondern sogar in demselben Haus. So hatte er z.B. an dem Schuster Joseph Maier und dessen Frau Anna in Reichertshofen zuverlässige Freunde, die diese Freundschaft später freilich mit mehrjährigem Zuchthause büßen mussten. Am 6. Januar war er gerade bei ihnen, als eine allgemeine Streife in dem genannten Orte angeordnet worden war.
Die Polizei kam auch in das Maiersche Gehöft, und Gump hatte gerade noch Zeit, sich von der warmen Ofenbank, auf der er seinen Revolver liegen ließ, durch ein Fenster in den Hof und von da durch die Hintertür eines Stalles zu flüchten. In seinem Heimatdorfe Walding hatte Gump in der Behausung des Kolonialwarenhändlers Joseph Weckerle und seiner Frau Franziska eine förmliche Niederlage. Wertgegenstände, Geld, Leinwand, Kleider, Fleisch, Kartoffeln, kurz alles, was er und Gänswürger erbeuteten, wurde zu Weckerle hingeschafft, der die Waren mit den anderen weiterverkaufte und den Räubern dafür Waffen und Munition gab.
Gump hatte hinter einer eigens für ihn in einem Stalle gefertigten Doppelwand seinen Unterschlupf. Dort war er sicher und bequem untergebracht. Er gestand selbst, dass ihn die Gendarmen wohl fünfzehn- bis sechzehnmal dort gesucht hätten, während er im Heu lag. Übrigens war Gump auf diese Helfershelfer nicht besonders gut zu sprechen, vermutlich weil sie ihn, wie die Hehler zu tun pflegen, nach allen Regeln der Kunst ausgesogen hatten.
Er musste ihnen alles mögliche zuschleppen, so dass sie geradezu auf seine Kosten lebten, und namentlich die schon siebzigjährige Franziska Weckerle trieb ihn zu immer neuen Verbrechen an und fragte jedes Mal, wenn er wiederkam, was er ihr mitgebracht habe, sie sei alt und krank, er müsse besser für sie sorgen. Eine warme Suppe, die sie ihm eines Tages kochte, als er ganz erfroren bei ihr eintrat, musste er mit mehreren Talern bezahlen. Seinen Erzählungen lauschte sie mit wahrer Wonne und konnte nicht genug von seinen Abenteuern hören. Gump äußert in einem Verhör, es sei gewesen, als ob der leibhaftige Teufel ihr aus den Augen geschaut hätte; wenn sie nicht gewesen wäre, hätte er manches nicht begangen. Die beiden wurden denn auch später wegen Hehlerei zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt.
Ob nicht bloß Gump, sondern auch Gänswürger bei Joseph Maier in Reichertshofen und bei Joseph Weckerle in Walding ein willkommener Gast gewesen ist, hat nicht festgestellt werden können. Dagegen ist erwiesen, dass beide mit einem gewissen Gersthauser und dessen Frau in freundschaftlicher Verbindung gestanden haben und von ihnen wiederholt aufgenommen und versteckt worden sind. Außerdem hatte Gänswürger Beziehungen zu dem Krämer Kufner von Karlskron, dessen Ehefrau seine Geliebte war. Kufner gestattete den Räubern den Zutritt in sein Haus, und seine Frau bewirtete sie in einem Hinterstübchen und verkaufte ihnen Lebensmittel.
Am 5. Februar 1873 wurde die Frau Kufners tot hinter ihrem Hause gefunden. An dem Leichnam zeigten sich zahlreiche Verletzungen im Gesicht, am Halse, an der Brust, an den Schultern und an der rechten Hand, die offenbar von Schroten herrührten. Als das Brusttuch weggenommen wurde, lag eine Lefaucheuxpatrone auf der nackten Brust. Da die Tote außerdem bis über die Schamteile entblößt dalag, kam man zu der Annahme, die Kufner sei geschlechtlich gebraucht worden, der auf ihr liegende Mann habe die Patrone aus der Seitentasche seines Rockes verloren, und zugleich sei – vermutlich aus Zufall – sein Gewehr losgegangen und habe den Tod der Frau herbeigeführt. In der Nähe fand man ein Messer, einen abgesprungenen Gewehrhahn, zwei Perlhuhnfedern und ein gelbes Sacktuch, in das das Haupt der Frau gehüllt gewesen war.
Schon am nächsten Tage, morgens halb sechs Uhr, fand man dann in der Nähe von Mansing die durch eine Schusswunde an der rechten Seite des Kopfes grässlich entstellte Leiche eines Mannes, den man bald als den längst gesuchten und allgemein gefürchteten Gänswürger erkannte. Der Tote war bekleidet mit Beinkleidern und einer Weste vom gleichen Stoff, einem Tuchjackett und einem Winterüberzieher von Buckskin; um den Hals trug er einen wollenen Schlips.
Was die Frau Kufner betraf, so bezeichnete die Stimme des Volkes mit aller Bestimmtheit den Ehemann als Mörder oder doch als den Anstifter des Mordes. Beide Eheleute hatten schon seit vielen Jahren in Unfrieden gelebt, einander die Treue gebrochen und sich infolgedessen innerlich immer mehr und mehr entfremdet. Zeugen, die vernommen wurden, sagten aus: »Sie war bei den Männern, was er bei den Weibsbildern war; sie sind beide nebeneinander hinausgegangen, und das war doch keinem recht. « Namentlich in der letzten Zeit hatte der Mann seine Frau barsch und roh behandelt, sie verschiedene Male bedroht, und eines Tages war es sogar zu ziemlich heftigen Tätlichkeiten gekommen: die Frau hatte einen Tabakreiber nach Kufner geworfen, und der Mann hatte eine Mistgabel mit solcher Gewalt gegen sie geschleudert, dass sie ein Scheffelmaß, das sie schützend vor sich hingehalten, durchbohrt hatte.
Die verehelichte Kufner war, wie wir bereits wissen, die Geliebte Gänswürgers gewesen. Er hingegen hatte sich durch den Umgang mit seiner Dienstmagd, einer hübschen jugendlichen Dirne, entschädigt, die, durch die Gunst ihres Dienstherrn keck geworden, der Frau nicht den erforderlichen Respekt bewiesen hatte. Die Kufner war im höchsten Grade eifersüchtig auf die Magd gewesen, hatte es aber nicht dahin bringen können, dass sie entlassen worden war, und hatte sie nun mit ihrer Rache und ihren Drohungen dauernd verfolgt.
Diese andauernden Zwistigkeiten der Eheleute, die allmählich die Herzen beider mit Hass erfüllt hatten, legten die Vermutung nahe, dass Kufner beim Tode seiner Frau beteiligt sei. Es kamen aber noch andere Umstände hinzu, die ihn schwer belasteten. In derselben Nacht, in der der Mord verübt worden war, hatte er zusammen mit dem Gütler Hufnagel und den Bauern Wimmer, Six und Schalk in Karlskron die Nachtwache gehabt.
Hufnagel hatte den Krämer Kufner abgeholt und ihm von der Straße aus zugerufen, es sei Zeit, er möge herauskommen. Kufner war noch nicht vollständig angezogen gewesen und hatte den Zeugen genötigt, einzutreten. Als Hufnagel die Tür der Wohnstube geöffnet hatte, hatte er die Frau Kufner noch im Zimmer gesehen, gleich darauf aber hatte sie sich entfernt, das Haus verlassen und war nicht wiedergekommen. Während Hufnagel mit Kufner allein im Zimmer gesessen hatte, war leise an den Fensterladen geklopft worden. Kufner war hinausgegangen, hatte die Türen zur Stube und zum Hause offen stehen lassen und sich im Hofe umgesehen, war dann wieder hereingekommen und hatte gesagt: »Jetzt weiß ich nicht, was das gewesen ist. « Beide waren dann hinausgegangen, ohne dass Kufner sich weiter um seine Frau gekümmert hätte. Nach einiger Zeit waren sie mit den anderen Wachen zusammengetroffen und in das Dorf hinuntergegangen.
Sie selbst hatten während der Nachtwache keinen Schuss fallen hören, aber die Wächter, die sie dann abgelöst hatten und ihnen entgegengekommen waren, hatten sofort gesagt: »Habt ihr nicht schießen hören? « Nach vollbrachter Wache waren die anderen mit Kufner bis an sein Haus gegangen. Er hatte sie gebeten, sie möchten doch ein wenig warten, er wolle nur das Vieh füttern und dann mit ihnen wieder fortgehen.
Die Haustür war verschlossen gewesen, er hatte daher an das Fenster der Kammer geklopft, in der für gewöhnlich seine Frau schlief. Es war keine Antwort erfolgt. Hierauf hatte er an den Fensterladen des Wohnzimmers geklopft, weil er dort die Magd vermutet hatte. Diese hatte geöffnet und auf die Frage, wo ihre Herrin sei, angegeben, sie werde in ihrer Kammer sein. Aber weder dort noch im übrigen Hause war sie gewesen. Nun hatte die Dienstmagd gesagt: »Die ist fort, die kommt nicht wieder. Wenn sie wiederkommen wollte, wär' sie längst schon da! « Die Männer hatten Licht gemacht und im Hause, im Stadel und dessen nächster Umgebung gesucht, aber keine Spur entdeckt. Kufner hatte die anderen gebeten, bei ihm zu bleiben, weil ihm die Sache unheimlich vorkomme. Einer von ihnen war auch bis fünf Uhr früh bei ihm gewesen, dann aber nach Ingolstadt gegangen, wo er von dem Auffinden der Leiche gehört hatte.
Zwei andere Zeugen, Franziska und Barbara Lex, Verwandte von Kufner, berichteten, Kufner sei früh um sechs Uhr zu ihnen gekommen, habe gejammert, dass seine Frau verschwunden sei, und sie gebeten, bei ihm zu bleiben. Sie hatten ihn begleitet und waren dabei gewesen, als die Leiche hinter dem Hause gefunden worden war. Kufner, der vorher so ängstlich und besorgt gewesen war, hatte sich nun allerdings auffällig benommen. Barbara Lex bekundete, er habe sich gar nicht weiter um die Sache bekümmert, sondern seine Ladengeschäfte besorgt, als ob ihn dies alles nichts anginge. Der Bauer Wimmer sagte, Kufner habe zwar ab und zu gejammert, aber während die Leiche hereingeschafft worden sei, habe er sich auf das Bett gelegt und Zigarren geraucht.
Mehrere Personen wollten übrigens einen Schuss, aber nur einen einzigen, gehört haben, und eine andere Zeugin glaubte zwei dumpfe Töne, die sie für Schüsse gehalten hätte, vernommen zu haben.
Am 22. April 1872, also fast drei Monate nach der Tat, wurde dann eine deutlichere Spur entdeckt. Als bei dem Schuster Joseph Meier in Mendelfeld wegen seiner Beziehungen zu Gump eine Haussuchung stattfand, fand man bei ihm ein Zwillingsgewehr und einen Gewehrhahn. Der Hahn glich völlig dem Hahne, der in der Nähe der toten Frau Kufner gelegen hatte, beide Hähne waren graviert wie das Gewehr und stimmten auch dazu, wie auch die in der Leiche der Kufner gefundenen Rehposten genau zu dem Gewehr passten: es war also höchst wahrscheinlich das Werkzeug des Mordes gewesen.
Gleichzeitig erfuhr man von einem anderen mit Gump in Verbindung stehenden Manne, dem Joseph Weckerle, dass er dieses Zwillingsgewehr um Weihnachten 1872 bei Gump gesehen habe und Gump am 5. Februar 1873, dem Tage nach dem Morde, zu ihm gekommen sei und bei der Gelegenheit erzählt habe: »Gänswürger wollte auf mich schießen, aber es sprang ihm der Hahn weg, da hab' ich doch gesehen, dass mich unser Herrgott noch lieb gehabt hat.«
Mehr konnte man indessen vorläufig nicht von der Mordsache ermitteln. Gump unternahm währenddem nach dem Tode seines Freundes Gänswürger eine Reihe neuer Diebstähle, und bald ereignete sich auch wieder ein tragischer Vorfall, der ein weiteres Menschenleben kostete.
Mitten auf der Wiesen- und Moorgrundfläche, die sich zwischen dem an der Landstraße weit hingedehnten Orte Karlskron im Landgerichtsbezirk Neuburg an der Donau, dem sogenannten Adelshäuser Erlholze und dem Waldinger Wäldchen gegen die Berge zu hinzieht, lag etwa zehn Schritte von der Landstraße entfernt ganz einsam ein kleines Häuschen. Es gehörte dem Jäger Nikolaus Pleiner von Eschelbach und wurde von seinen beiden Kindern Therese und Ursula bewohnt. Der Vater stand im Dienste des Grafen Törring-Eschelbach und wohnte in Eschelbach; Ursula war eine Schwägerin des Eduard Gänswürger.
Dessen Bruder Andreas war ebenfalls in enge Berührung mit den Strafgerichten gekommen und wegen Diebstahls zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Er war, nachdem er einen Teil seiner Strafe verbüßt hatte, beurlaubt worden, hatte sich nach Karlskron gewendet und dort die Ursula Pleiner geheiratet. Bald darauf aber war er vermutlich wegen schlechter Führung wieder eingezogen und in das Zuchthaus zu Kaisheim eingeliefert worden. Seine Frau und deren Schwester Therese, die zwei außereheliche Kinder hatte, bewohnten nun das erwähnte Häuschen allein. »Am 21. März 1873«, so gibt Therese Pleiner über den Vorfall selbst an, »war meine Schwester Ursula zu meinem kranken Vater auf Besuch gegangen, und ich war mit den Kindern allein zu Hause. Nachts um zwölf Uhr wurde an das Fenster geklopft und leise gerufen: ›Die Gendarmen sind da! ‹ Ich machte sofort auf, denn Gendarmeriestreifen waren damals in unserer Gegend etwas Alltägliches.
Es war aber kein Gendarm da, sondern ein Mann mit einem Vollbarte. Er hatte einen Revolver in der Hand und sagte zu mir, er sei der Seitzenfendl, ich müsse ihm eine Suppe kochen. Vor fünf bis sechs Jahren hatte ich den Ferdinand Gump gesehen, und ich erinnerte mich seiner als eines Menschen mit blonden Haaren. Seit jener Zeit hatte ich ihn aber nicht wieder gesehen, und ich würde ihn in dem schwarzbärtigen Menschen nicht wieder erkannt haben. Als er mir seinen Namen nannte, fiel mir gleich das Schicksal der Kufner ein. Ich wagte es nicht, ihn abzuweisen oder seine Bitte abzulehnen, denn ich war ohne männlichen Schutz und fürchtete, er würde mir ein Leid zufügen.
Deshalb ließ ich ihn eintreten, kochte ihm einen Kaffee, den er trank, gestattete ihm, sich in der Kammer in mein Bett zu legen, und legte mich auf seinen Befehl hin zu ihm. Ich musste aber gleich wieder aufstehen, weil die Kinder in der Stube anfingen zu schreien. Gleich darauf holte mich Gump mit Gewalt wieder in die Kammer und zog mich von neuem zu sich in das Bett. Ich hätte ihm nichts abgeschlagen, weil ich zu große Furcht vor ihm hatte, aber kaum lag ich bei ihm, da klopfte es an das Fenster, und wieder hieß es: ›Die Gendarmen sind da!‹ Gump sagte drohend: ›Du machst nicht auf, sondern lügst den Gendarmen vor, ein Kammerfensterer sei bei dir.‹ Ich tat, wie er mir geheißen hatte.
Einen Augenblick glaubte ich mich unbewacht, ich wollte die Haustür öffnen und die Flucht ergreifen, aber Gump bemerkte mein Vorhaben noch zu rechter Zeit und hinderte mich, es auszuführen. Ich wusste mir nun vor Angst nicht mehr zu helfen und kroch mit meinen Kindern unter das Bett. Gleich darauf wurde in die Stube hinein und aus der Stube hinausgeschossen. Ich hörte eine Stimme: ›O weh, ich bin getroffen! ‹ Darauf sah und hörte ich nichts mehr. Ich blieb noch lange unter dem Bett liegen, endlich aber fror mich gar zu sehr. Ich kroch wieder hervor, und nun war Gump weg und alles still. «
Am folgenden Tage wurde das Häuschen durchsucht. Man fand die allerärmlichste Einrichtung, aber außer einigen Männerhemden, über deren Erwerb die Therese Pleiner sich nicht genügend ausweisen konnte, nichts weiter Verdächtiges. Man nahm an, dass Gump öfter zu der Pleiner gekommen sei, eine Liebschaft mit ihr unterhalten, ihr auch einen Teil seiner Beute zugesteckt und sie ihm dafür die Wäsche besorgt habe. Sie wurde deshalb als Hehlerin verhaftet und in das Untersuchungsgefängnis zu München eingeliefert.
Aber auch hier blieb sie standhaft dabei, dass sie den Gump seit fünf bis sechs Jahren nur jenes einzige Mal, eben in der Nacht vom 21. zum 22. März, gesehen und nie mit ihm in vertrautem Verkehr gestanden habe. Sie wies auf ihre Armut hin und sagte, wenn das wahr wäre, was man vermutete, so würde sie nicht in so bitterer Not sein. Mit inniger Liebe gedachte sie in den Briefen aus dem Gefängnis ihrer Kinder, empfahl sie der Obhut der Schwester und ermahnte sie zur Frömmigkeit.
Sie sollte ihre Kinder nicht wieder sehen. Am 8. Oktober 1873 erkrankte sie an der Cholera und starb noch am nämlichen Tage. Gump war, als er von diesem Todesfall erfuhr, sehr betroffen; die Angaben der Verstorbenen bestätigte er übrigens, und er versicherte insbesondere, die fraglichen Hemden erst an dem Abend, an dem er zum ersten Mal zu ihr gekommen sei, mitgebracht zu haben.
Auch die Aussagen der Gendarmen deckten sich mit denen der Therese Pleiner. Die Stationskommandanten von Reichertshofen, August Leupold und Anton Bauer, hatten in jener Nacht mit etwa fünfzehn Mann eine Streife beschlossen, um den Räuber endlich einzufangen. Das Adelshäuser Erlholz, die Kolonie Waldheim, Feuchtheim und Plebheim waren abgesucht, aber nichts Verdächtiges entdeckt worden. Leupold war schon im Laufe des Tages in dem Pleinerschen Hause gewesen, weil er wusste, dass dort Verwandte von Gänswürger wohnten, und nachts zwischen ein und zwei Uhr war ihm plötzlich eingefallen, das Häuschen nochmals zu untersuchen.
Er hatte geglaubt, das umso unbedenklicher tun zu können, als trotzdem die Postenkette vollständig blieb und man überdies annahm, dass Gump vor zwei Uhr nachts seinen Schlupfwinkel nicht verlassen werde. Zusammen mit dem Stationskommandanten Bauer hatte er an den Fensterladen geklopft und gerufen: »Urschel, mach auf! « Beide hatten darauf die Stimme eines Mannes vernommen: »Sag, es sei ein Kammerfensterer bei dir. « Therese Pleiner hatte auch herausgerufen, sie habe einen Liebhaber bei sich, hatte aber seinen Namen nicht genannt. Nun hatten sich beide Gendarmen, das gespannte Gewehr in der Hand, an den Ecken des Hauses aufgestellt, und jeder hatte eine Seite im Auge behalten.
Es war aber so finster gewesen, dass man nichts hatte erkennen können als das Blitzen der Gewehrläufe. Plötzlich war an der Seite, wo der Stationskommandant Bauer gestanden hatte, ein Fensterladen aufgeflogen, einige Sekunden lang war alles still geblieben, dann aber hatte ein Schuss gekracht, ein zweiter Schuss war gefolgt, und zugleich hatte Bauer, der auch zweimal geschossen hatte, gerufen: »Gustl, Gustl, o weh, ich bin getroffen!« Leupold war seinem schwer getroffenen Kameraden zu Hilfe geeilt, der trotz der Wunde und der schrecklichen Schmerzen, die er litt, noch pfeilgerade an dem Fenster gestanden hatte, aus dem der Schuss gefallen war, und es noch immer bewacht hatte.
Nachdem er ihm den ersten nötigen Beistand geleistet hatte, war er um das Haus herumgegangen und hatte die Stalltür verriegelt, so dass der Verbrecher, wenn er noch im Hause war, nun nur noch durch das Fenster hätte entweichen können. Aber es war schon zu spät gewesen. Gump hatte sich unmittelbar nach dem Abfeuern der beiden Schüsse auf Bauer durch die Stalltür auf- und davongemacht. Als Leupold zu der Postenkette gegangen war, um von dort Mannschaften zu holen, hatten aus einer Entfernung von etwa zweihundert Schritt zwei Kugeln an ihm vorübergepfiffen, und ein Mensch hatte mit verstellter Stimme, die der Gendarm aber doch als die des Gump erkannt hatte, gerufen: »Wart, ich will euch schießen lehren, ihr Sakramentslumpen!« Alle weiteren Nachforschungen waren in der Dunkelheit vergeblich gewesen. Gump hatte den nahen Wald erreicht gehabt, in dem er viel besser Bescheid wusste als seine Verfolger, und war wieder einmal in Sicherheit gewesen.
Inzwischen hatte der Gendarm Bauer sich nicht länger aufrecht erhalten können. Er war kraftlos zusammengebrochen und hatte ohnmächtig im Blute schwimmend vor dem Hause gelegen. Leupold und einige von der Mannschaft hatten schnell eine Bahre zurechtgemacht und ihn nach Karlskron getragen. Dort war er wieder zu sich gekommen und hatte vernommen werden können.
Er hatte den Vorfall genau so erzählt, wie wir ihn eben geschildert haben, und die Vermutung ausgesprochen, dass auch einer der Schüsse, die er abgefeuert hatte, getroffen und den Gump verwundet habe. Das war jedoch nicht der Fall gewesen. Der andere dagegen hatte trotz der Finsternis nur zu richtig gezielt und nur zu gut getroffen gehabt, und er hatte das auch gewusst, wie später bekannt wurde, denn nachdem er in seinem Versteck bei Joseph Weckerle angekommen war, hatte er sich nicht bloß nach dem Schicksal der Therese Pleiner, sondern auch nach der Schwere der Wunde, die er dem Stationskommandanten Bauer zugefügt hatte, erkundigt. Die Kugel des Wildschützen war durch den linken Arm gegangen, in die Brust eingedrungen und dort zwischen der sechsten und siebenten Rippe sitzen geblieben.
Am 12. April 1873 starb Bauer im Krankenhause zu Ingolstadt an der Wunde und wurde als Opfer treuer Pflichterfüllung allgemein betrauert. Unter der Teilnahme einer großen Menschenmenge wurde er beerdigt. Auch Gump befand sich, wie er später eingestanden hat, unter den Leidtragenden. Er hatte sich in der Uniform eines bayrischen Infanteristen in die Stadt gewagt und dem Trauergefolge angeschlossen. Niemand hatte in dem uniformierten Soldaten den Mörder erkannt, ja es wäre nicht einmal jemand eingefallen, dass Gump so maßlos verwegen hätte sein können.
Der Mord des Gendarmen war ein neuer Anreiz für die Polizei, alles daranzusetzen, um den Mörder endlich zu ergreifen. Schon damals, als Gänswürger noch lebte, war von München aus ein Regierungskommissar abgeordnet worden, damit der ganze Apparat, den man aufgeboten hatte, um die beiden Verbrecher unschädlich zu machen, von einer Hand in Bewegung gesetzt würde.
Jetzt nun schworen die Kameraden des verstorbenen Bauer dem Mörder Rache und streiften mit verdoppelter Wachsamkeit durch das ganze Donaumoos, um seiner habhaft zu weiden. Ganze Dörfer zogen aus, und militärisch organisierte Postenketten umstellten alle Schlupfwinkel, in denen man ihn vermutete. Mehrere Male fand man denn auch wirklich das Lager fast noch warm, auf dem er geruht hatte. Man sprach von Höhlen, in denen er hausen sollte, wie seinerzeit sein berühmter Vorgänger, der Raubmörder Masch in Preußen. Mitunter hieß es sogar, Gump sei der Gerechtigkeit in die Hände gefallen, an dem und dem Orte sei er verhaftet worden.
Aber stets stellte sich heraus, dass es nur ein Gerücht war. Man hatte einen Vagabunden oder einen gewöhnlichen Dieb festgenommen, aber nicht den Haupt- und Erzspitzbuben, auf dessen Fang alle Welt hoffte. Gump entging allen Verfolgungen, oft genug auf fast wunderbare Weise. Dabei trieb er sich nicht etwa bloß in den Einöden und den Wäldern umher, sondern ging in die Dörfer und auf die Märkte, um einzukaufen, was er am nötigsten brauchte, also vor allem Pulver, Blei und Lebensmittel.
Sein hauptsächlichster Erwerb war die Jagd. Da es viel Wild in jener Gegend gab, fehlte es dem Schützen auch nicht an Beute, für die er überall willige Abnehmer fand. Aber auch sonst gab er sehr handgreifliche Beweise dafür, dass er noch immer frei war und auf dem Kriegsfuße mit der bürgerlichen Gesellschaft stand.
So brach er am 18. Mai 1873, eines Sonntags, während der Kirchzeit aus der Mauer eines Stadels, der dem Gütler Johann Seemüller in Otterswied gehörte, acht Ziegelsteine heraus, riss ein Brett los, gelangte auf die Weise in den Stadel, von da aus in das Wohnhaus, sprengte eine Kammertür, zwei Kleiderkästen, dann noch eine Kammertür auf und nahm mit, was er fand: Kleidungsstücke, bares Geld, eine Uhr, ein Zwillingsgewehr, ein Pulverhorn, Pulver, ein Messer, einen Rosenkranz, goldene Ringe, silberne Nadeln und anderes. Am 27. Mai stattete er dem Gütler Baumann in Lowindenbuch in derselben Art einen Besuch ab und raubte auch dessen Haus aus.
Am 1. Juni, am Pfingstsonntag, bedrohte er die Witwe Anna Büchl und deren dreizehnjährigen Sohn in Daderhof bei Pfaffenhofen mit Erschießen und zwang dadurch den Knaben, der vor dem Hause stand, ihm ein Gewehr zu überlassen. Die Witwe hatte sich in das Haus geflüchtet und zugesperrt. Zum Glück widerstand die feste Tür den Versuchen Gumps, sie einzuschlagen, so dass er sich unverrichteter Dinge entfernen musste.
Am nächsten Tage kam er des Nachmittags um zwei Uhr zur Bauersfrau Maria Ettenhuber in Oberkauterbach und erpresste von ihr, indem er ihr gleichfalls das geladene Gewehr entgegenhielt, die Summe von achtundzwanzig Gulden. An demselben Nachmittag begegnete er dem Bauerssohne Gappelmaier, der nach Brunnen ging und am Stocke ein Fässchen mit Branntwein trug.
Er schlich sich von hinten heran, nahm das Fässchen ohne weiteres vom Stocke ab, und als Gappelmaier sich sehr verwundert umdrehte, stellte er sich ihm mit der freundlichsten Miene von der Welt als Ferdinand Gump vor, spielte aber dabei in so gefährlicher Weise mit seinem Gewehr, dass der Bauer jeden Moment befürchtete, es würde losgehen und ihn treffen. Er ließ den Branntwein im Stiche und lief, was er laufen konnte, um nur aus der Nähe des gefährlichen Menschen zu kommen.
Am 4.Juni 1873 endlich telegraphierte der Gendarm Voit an den in Ingolstadt weilenden Untersuchungsrichter: »Gump soeben, abends neun Uhr, in Wolnzach verhaftet. « Diesmal war die Nachricht begründet: den Räuber und Mörder hatte sein Schicksal ereilt. Die schriftliche Anzeige, in der der Vorfall genau geschildert wurde, lautete folgendermaßen: »Schon mehreremal war beobachtet worden, dass Gump abends nach Eintritt der Dunkelheit nach Wolnzach kam und verschiedenes einkaufte. So war er eines Tages im Laden der Krämerin Erker gewesen und hatte, als er hatte zahlen wollen, einige Münzen zu Boden fallen lassen.
Er hatte sie schnell aufgehoben und gesagt, es seien geweihte Münzen, die den, der sie bei sich führte, vor jeder Not schützten. Am Abend des 4. Juni nun kam er wieder nach Wolnzach und schickte ein kleines Mädchen auch in den Laden der Frau Erker mit dem Auftrag, ein weißes Sacktuch für ihn zu kaufen. Er selbst erwartete die Rückkehr des Kindes auf den Marktplätzen. Als er dort stand und sich umsah, bemerkte er die Uniform eines Gendarmen – Löffler – und machte sich sofort auf den Weg, der aus dem Orte ins Freie fühlte.
Allein schon war er bemerkt worden. Die Gendarmen Löffler und Voit setzten ihm nach, Voit feuerte sechsmal seinen Revolver auf den Fliehenden ab und rief den Einwohnern von Wolnzach, die, durch den Lärm und das Schießen erschreckt, aus den Häusern stürzten, zu: ›Fangt ihn, es ist der Gump!‹ Der Räuber wusste, dass es um sein Leben ging, mit voller Kraft eilte er deswegen wie ein gehetzter Hirsch durch die Straßen und wäre sicher auch entkommen, wenn sich ihm nicht zwei mutige Bürgerssöhne entgegengeworfen hätten. Als er am Hause der Frau Glück vorüberstürmte, vertraten ihm Georg Glück und der Schüfflergeselle Horn den Weg. Der letztere warf ihn zu Boden, wurde aber von Gump mit einem langen Messer in den linken Arm und in die Schläfe gestochen und so verwundet, dass er ihn loslassen musste. Gump, der keine Zeit zu verlieren hatte, schnellte in die Höhe und wollte weiterrennen, aber Georg Glück packte ihn zum zweiten Male und riss ihn zur Erde nieder.
Ehe er sich von ihm losgemacht hatte, waren die beiden Gendarmen zur Stelle und überwältigten ihn. Er wehrte sich zwar aus Leibeskräften, bis den Gendarmen Voit in den Finger, schrie, er sei nicht der Rechte, er sei nicht Gump, endlich aber musste er sich doch ergeben. Er wurde gebunden, in die Gendarmeriewachtstube gebracht, dort sorgsam die Nacht hindurch bewacht und am anderen Tag unter sicherer Bedeckung nach München geführt. Noch auf dem Transport dahin gestand er, mit dem Gänswürger gemeinsam eine ganze Reihe von Verbrechen – so auch den Mord bei Meilenhofen – begangen und dann auch den Gänswürger erschossen zu haben.
Im Gefängnis in der Badstraße in München wurde er schnell zahm. Er fühlte offenbar, dass seine Rolle ausgespielt war, und hielt es, wie so mancher noch berühmtere Räuber vor ihm, für seiner nicht würdig, Winkelzüge zu machen und das Gericht zu belügen. Schon am 6. Juni 1873 legte er in einem Verhöre, das mit kurzen Unterbrechungen von früh acht bis abends zehn Uhr dauerte, die umfassendsten Geständnisse ab. Wir lassen es wenigstens bruchstückweise folgen, um die Ereignisse, die uns zum Teil schon berichtet worden sind, in der Darstellung des Täters – oder Mittäters – selbst kennen zu lernen.
»Ich bin der Sohn des Kolonialwarenhändlers Gump von Walding, wo ich die Werk- und Feiertagsschule besuchte. In meinem sechzehnten Jahre kam ich nach Reichertshofen zum Zimmermeister Heckersmüller, bei dem ich das Zimmerhandwerk erlernte und ein paar Jahre blieb. Dort war es, wo ich den Eduard Gänswürger, mit dem ich bereits in die Schule gegangen war, näher kennen lernte: er war bei Heckersmüller mein Mitlehrling. Dann habe ich auch im Pfarrhofe zu Oberlauterbach als Knecht gedient.
Überall bekam ich gute Zeugnisse. Schon damals, als ich und Gänswürger bei Heckersmüller waren, ist Gänswürger mit dem Christlhannes (Johann Schneider) aufs Wildern gegangen. Sie stellten mir vor, dass man sich mit dem Wildern an einem einzigen Abend mehr verdienen könne als sonst in einer ganzen Woche. Nach vielfachem Zureden Gänswürgers entschloss ich mich endlich, ihn und seinen Genossen zu begleiten. Das erste Mal ging ich ohne Gewehr.
Wir waren glücklich: Gänswürger schoss zwei Rehe, diese verkaufte er, und ich bekam aus dem Erlöse fünf Gulden. Damit war der Anfang gemacht. Zu meinem Unglück begann ich in jener Zeit auch zu spielen; ich verlor nach und nach all mein Geld, weil ich höher und immer höher spielte, und musste nun versuchen, mir auf irgendeine Weise Geld zu verschaffen. Gänswürger hatte bereits für ein Gewehr gesorgt, ich ging daher von da an öfter, teils mit ihm, teils allein, im Geisenfelder und Fahlenbacher Forste auf die Jagd und wilderte. Gänswürger und Christlhannes besorgten den Verkauf des Wildes, das teils nach München, teils nach Ingolstadt ging. Zur gleichen Zeit fing ich auch an zu stehlen. Zusammen mit meinem Bruder entwendete ich einen Baumstamm, den wir nach Hause schafften. Wir machten unserem Vater vor, dass wir den Stamm auf redliche Weise erworben hätten. Aber die Geschichte kam heraus. Wir Brüder, und mit uns der Vater, erhielten eine Strafe,
Später, als ich wiederum mein Geld verspielt hatte, stahl ich auf der Dult in Freising eine lederne Hose, ich bekam deshalb einen Monat und wegen eines anderen Diebstahls, den ich bald darauf beging, nochmals drei Monate Gefängnis. Auch wegen meiner Wildereien wurde ich zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die ich in Ebrach abbüßte. Dies war – obwohl ich noch eine oder zwei weitere Strafen, wie ich höre, zudiktiert erhalten haben soll – die letzte Strafe, die ich wirklich absaß.
Am 1. Januar 1871 wurde ich entlassen. Als ich aus der Anstalt kam, traute ich mich vor Schande nicht mehr nach Hause und blieb deshalb bei meinem Bruder Martin Gump. Hier suchte mich der Christlhannes wieder auf – Gänswürger war inzwischen wegen Diebstahls ins Zuchthaus nach München gekommen – und mit dem Hannes, der mir einen Gebirgsstutzen verschaffte, ging ich wieder einige Wochen wildern.
Wir lebten mehrere Wochen lang in den Wäldern, in die uns die Geliebte des Hannes und deren Verwandte, die auch den Verkauf des Wildes besorgten, Decken, Lebensmittel und andere Dinge, die wir nötig hatten, brachten. Der Christlhannes schwindelte mir dazumal vor, dass er schon viel Geld beisammen habe, damit nach Amerika auswandern und mich mitnehmen wolle. Er machte jedoch keine Miene, diese Absicht auszuführen, ich entschloss mich deshalb, zu meinem Vater zu gehen und ihn zu bitten, er möchte mir doch sein Anwesen übergeben. Diese Bitte wurde mir jedoch abgeschlagen.
Ich wandte mich nunmehr an den alten Hauser und frug ihn um Rat, was ich anfangen sollte. Der alte Hauser aus Walding war mir von Jugend aus bekannt, und ich hatte die Bekanntschaft mit ihm fortgesetzt, weil die Adelheid Fuchs, die Geliebte des Christlhannes, zu seiner Verwandtschaft gehörte. Ich glaubte immer, dass er an unserer Wilddieberei ein gewisses Interesse hätte, denn vieles von dem, was wir erbeuteten, kam ihm und den Seinigen zugute.
Dieser alte Mann ist eigentlich mein Unglück gewesen. Denn ich hatte, als mein Vater die Übergabe des Anwesens an mich verweigerte, die Absicht, mir mein Muttergut im Betrage von fünfundsiebzig Gulden auszahlen zu lassen, in ein kleines Anwesen hineinzuheiraten und mich von meiner Hände Arbeit zu ernähren. Davon wollte aber der alte Kerl nichts wissen. Ich weiß noch genau, wie er auf ein an der Wand seiner Stube hängendes Gewehr zeigte und zu mir sagte: ›Fendl, da hängt mein Stutzen, den nimmst, und mit dem tust, was d' vorher getan, und mir folgst!‹ Ich habe ihm gefolgt und bin wieder ans Wildern und ans Stehlen gegangen, teils allein, teils mit anderen, bis ich endlich mit Gänswürger wieder zusammengetroffen bin, und das ist so gekommen.
Eines Abends, kurz nachdem Gänswürger aus dem Zuchthause in München entsprungen war, ging ich nach Eintritt der Dunkelheit mit einem Revolver versehen auf der Straße von Reichertshofen nach Karlskron. Da kam mir eine lange hagere Mannsperson entgegen. Ich sprang rasch von der Straße in den Graben hinab, um mir meinen Mann anzuschauen. Der aber hatte mich schon bemerkt und rief mir zu, ich solle herauskommen, er müsse sehen, wer ich sei. Ich stieg nun wieder herauf, ging mit gespanntem Revolver auf den Menschen, der mir bewaffnet zu sein schien, zu und redete ihn an.
Kaum hatten wir einige Worte gewechselt, so erkannten wir uns und waren beide hocherfreut. Gänswürger machte nun auch gleich Pläne für die Zukunft, die auf ein förmliches Räuberleben hinausgingen, wie wir es dann auch wirklich miteinander geführt haben. Er sagte unter anderem: ›Wenn du der Gescheitere bist, machst du den Hauptmann; jetzt heißt es Rache nehmen; gleich auf dem nächsten Viehmarkte muss einer hin werden. Er bat mich um zwei Gulden, und ich gab ihm in meiner Wiedersehensfreude gleich das Achtfache. «
Weiter erzählte dann Gump die von ihm und Gänswürger begangenen Verbrechen, die wir bereits kennen. Über die Ermordung der verehelichten Kufner durch Gänswürger und die des letzteren durch ihn selbst machte er folgende Angaben:
»Schon im letztverflossenen Winter sagte Eduard Gänswürger einmal zu mir, die Krämerin von Karlskron sei eine gute Bekannte von ihm und eine brave Frau, wir könnten bei ihr stets Lebensmittel und Unterkunft haben. Einige Zeit darauf teilte er mir mit, die Krämerin sei begierig, mich kennen zu lernen, und führte mich eines Sonntags in der Nacht zu ihr. Sie nahm uns freundlich auf. Wir tranken dort Wein und sind von da an öfters hingegangen.
Es ist freilich so ein Ding, wenn man einen Mann, der Haus und Hof besitzt und dem alles zugrunde geht, wenn er eine Zeitlang eingesperrt wird, ins Zuchthaus bringen soll. Ich muss es aber doch sagen, dass mit unseren Besuchen im Kufneischen Hause, bei denen wir uns jedes Mal reichlich mit Wein und mit Lebensmitteln versahen, auch Peter Kufner, der Mann der Krämerin, einverstanden und bei ihnen auch oft zugegen war.
Von einem Verhältnisse zwischen Gänswürger und der Kufner habe ich nichts bemerkt, wohl aber habe ich den Kufner einmal bei seiner Magd so liegen sehen, dass ich mir dachte: die können es auch gut miteinander. Beherbergt hat uns Kufner niemals. Gänswürger beabsichtigte aber, dort ein Standquartier zu nehmen, und bat in der Nacht vom 4. zum 5. Februar 1873, in der nachher der Mord begangen wurde, den Krämer, uns eine ständige Wohnung in seinem Gehöft zu überlassen.
In jener Nacht, oder vielmehr schon am Abend, kam Gänswürger in mein Versteck nach Reichertshofen, wo ich im Seitzschen Stadel lag. Ich sagte zu ihm, ich wollte in den Forst und wildern. Das war ihm recht, er war bereit, mitzugehen. Wir brachen nach dem Walde zu auf, in der Nähe von Karlskron aber schlug Gänswürger vor: ›Komm, gehen wir zur Krämerin und holen uns ein paar Flaschen Wein, die können wir brauchen und auf die Jagd mitnehmen.‹ Ich wollte anfangs nicht dahin, es ist mir grad so vorgekommen, als wenn es nicht sein sollte; aber schließlich bin ich eben doch mitgegangen. Wir kamen von rückwärts über die Felder und Wiesen etwa gegen neun Uhr an das Kufnersche Haus, Gänswürger klopfte an den Fensterladen, wir hörten aber nur die scheltende Stimme der Magd und eine heftige Gegenrede der Krämerin, die zur Magd sagte, sie solle nicht so schimpfen, man wisse nicht, wer draußen sei.
Ich hatte an jenem Abende einen Zwilling und einen Revolver bei mir, Gänswürger seinen Lefaucheux und auch einen Revolver; er trug eine Pelzmütze und einen schwarzen langen Überzieher. Nicht lange, nachdem wir geklopft hatten, kam die Kufner, und zwar ganz leicht gekleidet, heraus und sagte, als sie uns sah: ›So, ihr seid's.‹ Auf unsere Bitte um Lebensmittel brachte sie uns ein paar Flaschen Wein, Zucker und Konfekt, ging dann wieder ins Haus und kam bald darauf vollständig angekleidet zu uns. Wir hatten uns hinter dem Hofe auf einen in der Nähe befindlichen Streuhaufen niedergelassen. Sie setzte sich zu uns, trank mit uns und ging ab und zu, um uns Käse, Heringe und anderes aus dem Laden zu holen.
Ungefähr eine Stunde, bevor die Nachtwächter den Kufner dann riefen, ist auch dieser zu uns hinter das Haus gekommen. Er trank mit von unserem Weine, hatte aber noch Geschäfte zu besorgen und hielt sich deshalb an diesem Abende nicht lange bei uns auf. Seine Frau dagegen leistete uns Gesellschaft und plauderte mit uns. Ich erinnere mich noch, dass ich sie um ein Sacktuch bat, worauf sie mir ein gelbes Tuch mit Tupfen gab. Allein Gänswürger veranlasste sie, anstatt des weißen Tuches, das sie um den Kopf gebunden hatte, und das man von weitem gut sehen konnte, dieses gelbe Tuch umzulegen. Das ist dann auch später bei der Leiche gefunden worden.
Die Kufner saß zwischen uns beiden auf dem Streuhaufen, aber etwas Unrechtes ist ihr nicht geschehen. Ich würde mich nicht geniert haben, in Gegenwart eines Dritten so etwas zu tun, und auch Gänswürger hätte gar keine Rücksicht auf mich genommen, aber weder ich noch er haben uns damals mit ihr abgegeben.
Nach einiger Zeit kam die Nachtwache, die eingeführt war, um auf uns zu streifen. Kufner ging mit ihr fort, seine Frau sagte, sie wolle in das Haus gehen, sich wärmer anziehen und dann wiederkommen und uns mit in die Stube nehmen. Es verging eine geraume Zeit, ohne dass sie zurückkehrte. Wir hatten genug Wein getrunken, es war bereits Mitternacht vorüber, deshalb beschlossen wir, nicht länger zu warten, sondern aufzubrechen.
Als wir etwa hundert Schritte gegangen waren, fiel mir ein, dass ich meinen Revolver auf dem Streuhaufen hatte liegen lassen; Gänswürger, dem ich das sagte, schimpfte mich deswegen derb aus, ich kehrte aber doch um und wollte die Waffe holen. Ehe ich zurückging, verlangte Gänswürger meinen Zwilling. Erstaunt fragte ich ihn: ›Wozu brauchst du ihn denn? ‹ Er entgegnete: ›Ja, zu was brauchst du ihn denn auf die kurze Strecke? ‹ Da ich nun so ein guter Kerl bin, der niemand etwas abschlagen kann, so gab ich ihm das Gewehr, denn ich ahnte nichts Böses. Im Zurückgehen nach dem Streuhaufen, ungefähr acht Schritte von Gänswürger entfernt, traf ich auf die gerade wieder aus dem Hause kommende Margarethe Kufner. Als ich sie kommen sah, wandte ich mich um und sagte zu Gänswürger: ›Schau, da kommt die Grete. Was will die denn noch? ‹ Gänswürger erwiderte: ›Ist auch wahr.‹ Ich traf mit der Kufner zusammen und teilte ihr mit, dass ich meinen Revolver vergessen hätte.
Sie fragte mich, warum wir denn auf einmal fort wollten. Während dieses kurzen Gesprächs zwischen mir und der Krämerin rief der von uns, wie schon gesagt, kaum acht Schritte entfernte Eduard Gänswürger: ›Halt, wer da! Ist es vielleicht ein Wächter, oder sonst jemand anderes?‹ Er musste wissen und sehen, dass die Kufner bei mir stand, überdies erwiderte sie auch: ›Ich bin's!‹ und ich rief: ›Die Gretel ist's!‹ – dennoch feuerte der Unmensch einen Schuss auf die etwa einen oder zwei Schritte von mir entfernte Kufner ab. Er traf sie in die Brust, denn sie fuhr mit beiden Händen dahin und stöhnte: ›Nun, jetzt schießt er gar auf mich‹; ich aber rief voll Entsetzen: ›Na, dämischer Kerl, die Gretel ist's! ‹ Kaum hatte ich das gesagt, als Gänswürger einen zweiten Schuss auf die Kufner abfeuerte. Die Frau fuhr gleich mit beiden Händen ins Gesicht, rief: ›Mein Gott! ‹ und stürzte rücklings zu Boden.
Als er den zweiten Schuss abgefeuert hatte und die Kufner niedergestürzt war, legte er auch noch auf mich an. Die Kapsel ging mit einem mächtigen Knall los, aber der Schuss, der mich unfehlbar getroffen und getötet haben würde, versagte. Ich glaubte es gar nicht anders, als dass unser lieber Herrgott, der mich in mancher Not und Gefahr beschützt hatte, nicht zulassen wollte, dass ich von Gänswürger meuchlings ermordet werden sollte.
Ich kroch dann auf allen vieren die Wiese entlang, bis ich das Kufnersche Haus aus dem Gesicht verloren hatte. Nach einiger Zeit, als ich nichts mehr von Gänswürger hörte und sah, kehrte ich zurück auf den Platz, wo die Kufner niedergestürzt war, damit sie, wenn sie noch am Leben wäre, in ihr Haus geschafft würde und noch beichten und die heiligen Sterbesakramente empfangen könnte. Sie lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken, der untere Teil des Körpers war vollkommen zugedeckt. Ich schüttelte sie noch einmal bei der Achsel und rief sie beim Namen; allein ich hörte nur noch ein leises Röcheln und überzeugte mich bald, dass sie tot war. Ich eilte von dannen mit dem Gedanken, dem Gänswürger nachzugehen und ihn zu verraten. Die Ermordung der Kufner hat ungefähr eine oder anderthalb Stunden nach der Entfernung des Hufnagel und des Peter Kufner stattgefunden. «
In einem späteren Verhör hat Gump freilich andere Angaben gemacht und behauptet, Gänswürger habe die Kufner erschossen, noch ehe deren Ehemann auf die Wache gegangen sei und noch während Hufnagel sich bei ihm befunden habe. Hufnagel hätte dann allerdings die beiden Schüsse hören müssen, was er, wie wir wissen, in Abrede stellte. Gump will an das Fenster getreten sein, den Krämer leise herausgeklopft, ihm die schreckliche Tat mitgeteilt und dabei gesagt haben: »Jetzt erschieß ich den Schuft, den Gänswürger, den Schlechten, weil er auch die Gretel noch umgebracht hat.« Kufner sei äußerst bestürzt und betroffen gewesen und habe ihn händeringend gebeten: »Jetzt mach nur wenigstens, dass du fortkommst! « Hierauf hätten der Krämer und er die Leiche auf den Streuhaufen getragen, wo man sie am anderen Morgen gefunden hatte. Er aber sei auf dem Stege zwischen Reichertshofen und Karlskron nach Mendelfeld zugegangen, weil er vermutet habe, dass Gänswürger dort vorbeikommen würde.
Völlig aufgeklärt ist durch die Geständnisse Gumps das Verbrechen also nicht. Am wahrscheinlichsten ist es, dass die Tat verübt worden ist, während Kufner bei Hufnagel in der Stube war; denn als Hufnagel und Kufner zu ihren Kameraden gestoßen waren, die mit ihnen zu wachen gehabt hatten, waren sie mit den Worten empfangen worden: »Habt ihr nicht schießen hören?« Es waren also bereits damals Schüsse gefallen, die Hufnagel eben nicht gehört hatte. Ferner hat Hufnagel bezeugt, es sei, während er bei Kufner war, an den Fensterladen geklopft worden, und der Krämer sei hinausgegangen, dann aber wiedergekommen und habe gesagt: »Jetzt weiß ich nicht, was das gewesen ist. « Wahrscheinlich hat ihn Gump damals herausgeklopft und in Kenntnis gesetzt von dem, was geschehen war.
Es ist übrigens nur von geringer Wichtigkeit, den Zeitpunkt des Mordes genau festzustellen. Viel wichtiger ist die Frage, wer der Mörder gewesen ist, Gump oder Gänswürger. Beide waren mit der Ermordeten unmittelbar vor deren Tod zusammengewesen, zu jedem von ihnen hatte sie in einem freundlichen Verhältnis gestanden. Für die Täterschaft Gumps spräche, dass das Blei, das ihr den Tod gebracht hatte, aus dem Zwillingsgewehre des Gump abgeschossen worden war, denn die im Körper der Toten gefundenen Rehposten hatten in den Lauf dieses Gewehres gepasst.
Aber diese Tatsache ist doch durch die Schilderung Gumps einigermaßen erklärt. Außerdem ist nicht zu verkennen, dass Gump im Ganzen die Wahrheit angegeben und keineswegs den Versuch gemacht hat, seine eigene Schuld zu verkleinern und sich auf Kosten seines Gefährten zu entlasten. Es ist daher nicht recht abzusehen, weshalb er in diesem Falle gelogen haben sollte. Vor allem aber fehlt es an jeglichem Beweggrunde für den Mord, wenn man Gump für den Mörder halten will; er hatte nicht die mindeste Veranlassung, die Krämerin zu töten. Anders bei Gänswürger. Die Kufner war seine Geliebte, und er war eifersüchtig.
Er hatte vielleicht auch Grund zu glauben, dass sie nicht ihm allein zu Willen war und insbesondere auch seinem Genossen Gump ihre Gunst zuwendete. Charakteristisch ist eine Äußerung Gumps, die er zu einer Zeugin getan, später aber in Abrede gestellt hat, Gänswürger habe, als er die Frau erschoss, die Worte gemurmelt: »Weibsbild, schlechtes, hast du nicht genug an mir?« Vielleicht ist die Sache so zugegangen: Als die verehelichte Kufner zwischen Gump und Gänswürger saß und mit ihnen trank, mag sie nicht immer vorsichtig gewesen sein, sondern sich für Gänswürgers Geschmack Gump gegenüber etwas zu freundlich benommen haben.
Als sie sich getrennt hatten und Gump nun umkehrte, um seinen Revolver zu holen, aber wiederum mit der Grete zusammengetroffen war, wird Gäuswürger wohl ein Stelldichein der beiden vermutet haben, und in seiner eifersüchtigen Wut, die durch den Weingenuss noch wilder geworden war, mag er auf den Gedanken gekommen sein, die seiner Meinung nach untreue Frau und den Freund, den er für einen Verräter hielt, zu erschießen.
Eine Beteiligung des Ehemannes an dem Verbrechen ist unwahrscheinlich, ebenso, dass er Gänswürger zu dem Morde angestiftet haben sollte. Denn das wäre doch unnatürlich genug, wenn sich der Liebhaber von dem Gatten dazu gebrauchen ließe, die Frau, die ihm zuliebe die Ehe gebrochen hat, aus dem Wege zu räumen, um ihren Ehebruch zu rächen. So schwer empfand Kufner den Treubruch aber auch gar nicht, dass er nach dem Blute seines Weibes gedürstet hätte.
Wenn er nicht sofort, als er von dem Morde in Kenntnis gesetzt wurde, zur Leiche ging, sondern erst die Nachtwache verrichtete und nachher sich stellte, als wüsste er nicht, was aus seiner Frau geworden und wohin sie gekommen sei, so erklärt sich das daraus, dass er sich hüten musste, seine nahen Beziehungen zu den verrufenen Räubern kund werden zu lassen. Gump wird wohl das Richtige getroffen haben, wenn er wiederholt vor Gericht erklärt hat: »Ich glaube an kein Einverständnis des Peter Kufner, sonst hätte er nicht so erschrocken sein können, als ich ihm den Tod seiner Frau mitteilte. «
Über das, was in der Nacht des 5. Februar weiter geschah, fuhr Gump in seinem Geständnis folgendermaßen fort: »An dem bei Mendelfeld über den Donaukanal führenden Stege setzte ich mich nieder und wartete auf Gänswürger. Er musste hier vorbeikommen, wenn er in sein Versteck in Mansing oder Mendelfeld gelangen wollte. Ich nahm mir vor, den Gänswürger, der mir doch ein gar zu schlechter Mensch zu sein schien, zu verraten. Ich hätte dies so gemacht, dass ich einen Zettel an die Gendarmen geschrieben und darin mitgeteilt hätte, wo sie ihn antreffen könnten.
Um fünf Uhr morgens kam Gänswürger auf mich zu. Ich saß am rechten Ufer des Kanals. Er hatte seinen Lefaucheur und seine Doppelpistole, aber meinen Zwilling trug er nicht mehr bei sich. Als ich ihn erkannt hatte, rief ich ihm in freundlichem Tone zu: »Eduard! « Er entgegnete: »Ja, Fendl, bist du's? Weil nur du da bist, ist mir jetzt alles recht; ich hab gemeint, du bist gestorben; da wären mir schon lieber hundert andere hin wie du. « Ich stellte ihm hierauf vor, wie er habe so unsinnig sein und ohne irgendeinen Grund auf die Krämerin schießen können. Er erwiderte, jetzt sei es schon geschehen, ich solle ihm nur verzeihen, er wisse selbst nicht, wie er dazu gekommen sei. Er erwähnte nichts mehr über die Sache. Als ich ihn fragte, wo er meinen Zwilling gelassen hätte, gab er mir zur Antwort, der sei gut aufgehoben, ich würde ihn schon wiederbekommen. Was wir dann weiter gesprochen haben, weiß ich nicht mehr. Ich dachte immer daran, dass ich ihn verraten wollte, da sind mir die Worte nicht mehr vom Herzen gegangen, und ich musste mit ihm scheinheilig umgehen.
Wir sind nun nach Reichertshofen und von da am linken Ufer die Paar – das ist ein kleines Flüsschen, das in die Donau mündet – entlang nach Mansing gegangen, wo wir erst um zehn Uhr ankamen. Dort wollte ich ihn verraten. Dass wir zu der an und für sich nicht langen Strecke den ganzen Tag gebraucht hatten, lag daran, dass wir unterwegs geschlafen und bei langen Rasten unsere Lebensmittel verzehrt hatten, und so war uns denn der Tag so dahingegangen.
Während wir so herumlungerten, sagte Gänswürger, der mir wohl die Unruhe anmerken mochte, zu mir: ›Ich weiß nicht, wie du mir heut vorkommst, grad so wie nach der Meilenhofer Geschichte.‹ Als ich ihm erwiderte, es sei auch nichts Kleines, dass er die Kufner und die beiden Bauern so ohne weiteres erschossen habe, fing er an: ›Ach was, du machst dir immer ein Gewissen daraus und meinst, es gebe einen Herrgott; aber es gibt keinen Gott; der Mensch lebt, und das Leben ist der Geist; wenn der Mensch tot ist, dann ist der Geist ausgehaucht, und dann ist's mit ihm aus!‹In ähnlicher Weise sprach er sich noch längere Zeit über Gott und Unsterblichkeit aus.

Die Fahndung nach Gänswürger und Gump läuft und die Öffentlichkeit mit einbezogen.

Ich hielt ihm vor, dass es einen Gott gebe, und dass man ja dessen Walten überall in der Natur erkenne, er aber widersprach mir heftig und sagte, dass er über diese Dinge von Zuchthaussträflingen, die oft sehr gescheite Leute wären, belehrt worden sei, und noch mehr derartiges. Wir waren in diesem Gespräch noch eine Viertelstunde vor Gänswürgers Tode begriffen. So wurde es Nacht. Gegen zehn Uhr, als wir in der Nähe von Mansing lagerten, sagte Gänswürger, dass er drüben im Altwasser der Sandrach ein Fischteichel wisse. Er wolle dort Fische holen, die könnten wir uns in irgendeinem Hause zubereiten lassen. Ich war damals zu einem Diebstahl nicht aufgelegt und suchte ihn abzuhalten; er ließ sich aber nicht irre machen, sondern ging fort, Ich blieb am Ufer der Sandrach liegen, und bald kam auch Gänswürger zu mir zurück.
Ich musste jetzt zur Sache kommen. Da ich sah, dass Gänswürger ein unverbesserlicher, gottvergessener Mensch war, der nicht nur mehrere Menschen ums Leben gebracht hatte und mit dem Vorsatze umging, noch mehr zu töten, sondern auch ohne alle Gottesfurcht und allen Glauben war, so wurde der Entschluss, ihn zu erschießen, noch fester in mir. Ich hatte das ja schon tun wollen, als er mit dem Fischkasten die Sandrach heraufkam, aber ich hatte es wieder auf einige Stunden verschoben, und so gingen wir denn noch einträchtig nebeneinander über die Sandrach und auf dem anderen Ufer noch eine ziemliche Strecke dahin.
Aber als wir uns wieder niedergelegt hatten und wieder aufstanden, beschloss ich endgültig, die Tat auszuführen. Ich schützte Müdigkeit vor und blieb ungefähr vier Schritte hinter Gänswürger zurück. In dieser Entfernung folgte ich ihm ungefähr eine Viertelstunde lang und kam auf den Gedanken, ob ich ihn ohne Reue und Beichte und ohne die heiligen Sterbesakramente in das Jenseits hinüberschicken sollte oder nicht. Ja, wahrlich, das habe ich gedacht; ich hatte von jeher eine gute Religion, und unser lieber Herrgott hat mich immer gnädig behandelt und aus manchen Gefahren gerettet; ich habe auch immer zwei Amulette getragen, eins auf der Brust und eins im Geldbeutel, dass mich die Heiligen in Schutz nehmen sollten, und dass ich nicht erschossen und so bei einem raschen Tode ohne Buße aus dem Leben scheiden möchte.
Als ich mir aber vorstellte, dass Gänswürger selbst drei Personen ohne Beichte und Buße ins andere Leben befördert hatte, so fühlte ich mich in meinem Gewissen wesentlich erleichtert. Als ich so – in der Nähe von Mansing war es – drei bis vier Schritte hinter Gänswürger dreinging, murmelte ich die Worte: ›Herr, gib ihm die ewige Ruh und vergib ihm seine Sünden!‹ und feuerte den rechten Lauf meines Lefaucheuxzwillings« – wie Gump wieder in dessen Besitz gekommen war, blieb dunkel –, »den ich aber nicht an die Wange legte, sondern an die rechte Brustseite andrückte, auf ihn ab. Der Schuss drang dem Gänswürger in die rechte Seite des Rückens, und er rief: ›Ha! ‹ aus und stürzte sofort mit ausgebreiteten Armen zu Boden. Er röchelte stark, ich wollte deshalb seinem Leiden rasch ein Ende machen und feuerte auch den zweiten Lauf meines Zwillings auf die rechte Seite seines Kopfes ab.
Mein Gewissen machte mir über die Tat keinen Vorwurf: ich betete für Gänswürger ein paar Vaterunser und verließ ihn mit leichtem Herzen, weil ich die Welt von einem Scheusal befreit hatte. Und das ist er gewesen; er hat oftmals gedroht, dass er alle Gendarmen in Reichertshofen und den Kommandanten von Geisenfels ermorden würde. Dem Herrn Regierungsrat, der wegen der Räubereien eigens von München abgesendet worden war, hatte er geschworen, das Fleisch stückweise vom Leibe zu reißen, wenn er ihn erwischte. «
Hiermit endigen die Angaben Ferdinand Gumps über den Mord, den er an seinem Kameraden verübt hatte. Der Befund der Leiche bewies, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Ein Eisenbahntagelöhner, Alois Donaubauer, hatte die Leiche am Morgen des 6. Februar früh ein Viertel sieben Uhr gefunden. Daneben hatten ein geladenes Lefaucheuxgewehr, eine geladene Lefaucheuxpistole, mehrere Patronen, ein Stück Brot, etliche Wachskerzen, Zigarren, ein Sacktuch mit Fischen und eine Tabaksdose gelegen. In den Taschen waren nur zwei Gulden vierundzwanzig Kreuzer bares Geld gefunden worden. Gänswürger hatte in der vorhergehenden Nacht bei dem Krämer eine Fünfzigguldennote gewechselt und viel Geld herausbekommen gehabt. Man schloss daher, Gump möge vielleicht den Toten beraubt haben.
Gump aber stellte es unter den feierlichsten Beteuerungen beharrlich in Abrede. Der Arzt hatte festgestellt: Schuss von hinten, vollständige Zersprengung des Rückens, brandige Zerreißung der geschwärzten Haut und der Rückenmuskeln über der zehnten und zwölften Rippe auf der rechten Seite in Form und Größe eines Talers, Bruch und Zertrümmerung der Rippen und Zerreißung der Zwischenrippenschlagadern; auch die vierte, fünfte und zweite Rippe der Vorderbrust, in der noch zweiundzwanzig Schrote gefunden worden waren, waren zerschmettert, das Zwerchfell war angerissen und die Risse waren mit Leberfetzen ausgefüllt gewesen. Durch den zweiten Schuss waren das rechte Auge, das rechte Nasen-, das Pflug-, das Stirn- und das rechte Schläfenbein zerstört worden. Im rechten Scheitelbeine hatte sich eine Fissur gezeigt.
Aus diesen furchtbaren Wirkungen der Schüsse und der Schwärzung der Haut hatte das ärztliche Gutachten den Schluss gezogen, dass der Mörder aus unmittelbarer Nähe gefeuert haben müsse, wie ja auch Gump selbst angegeben hatte.


Ferdinand Gump unmittelbar nach seiner Festnahme.


Eine der ersten bayerischen Kriminalfallaufnahmen zeigt Eduard Gänswürger wenige Stunden nach seiner Ermordung.

Über die Motive zu der Tat haben die Geständnisse des Angeschuldigten keinen genügenden Aufschluss gegeben. Niemand konnte ihm glauben, dass er seinen Kameraden getötet habe, weil ihm dieser zu schlecht für diese Welt erschienen sei und er es deshalb für seine Pflicht gehalten habe, die Menschheit von diesem Scheusale zu befreien. Wir können auch hier nur Vermutungen aussprechen, werden aber kaum fehlgehen, wenn wir annehmen, dass Gump erbittert war durch den Schuss, den kurz vorher Gänswürger auf ihn abgefeuert hatte. Stand es einmal so, dass Gänswürger sich nicht einen Augenblick besann, erst auf seine Geliebte und dann auf den Freund zu schießen, so schwebte sein Leben in beständiger Gefahr. Es war nur ein Akt der Rache und der Notwehr, wenn er den Menschen, der ihn etliche Stunden zuvor hatte töten wollen, für immer unschädlich machte und sich dadurch zugleich eines Genossen entledigte, der doch noch einmal zum Verräter werden konnte.
Gänswürger, die Kufner, Therese Pleiner und noch andere Personen, die in diesem Drama mitgespielt hatten, waren tot, und auch an der Hauptperson, an dem Räuber Gump, sollte die irdische Gerechtigkeit die Freveltaten nicht sühnen können. Mitte September 1873 wurde er im Gefängnisse krank, im Oktober verschlimmerte sich sein Zustand, und am 25. November 1873 starb er. In den letzten Tagen seines Lebens wurde er wiederholt aufgefordert, den dritten Genossen zu nennen, der mit Gänswürger und ihm den Raubmord in der Nähe von Meilenhofen ausgeführt hatte. Er blieb dabei, Gänswürger habe diesen dritten Burschen mitgebracht, und er, Gump, habe ihn nicht gekannt.
So ist er in die Ewigkeit gegangen, und nur an den untergeordneten Personen, den Hehlern und Helfershelfern der Räuber, hat die Strafe des Gesetzes vollzogen werden können.

Quellen: - Das Neue Pitaval (Willibald Alexis)  - Band 5


2. Ludwig Christian von Olnhausen - 1800

In dem Wirthshause des ansbachischen Dorfes Guzberg stiegen am 8. Juni 1800, um 2 Uhr Nachmittags, zwei wohlgekleidete junge Männer ab. Sie waren in einer Postchaise aus Nürnberg gekommen und schickten den Postillon sogleich wieder dahin zurück.
Sie setzten sich in der gemeinschaftlichen Wirthsstube bei einem Kruge Bier nieder und waren bald in einem eifrigen Gespräch begriffen. Augenscheinlich waren es Kaufleute, denn sie rechneten mit einander ab, und die Anwesenden hörten von sehr ansehnlichen Summen. Das Gespräch war eifrig, aber friedlich; sie nannten sich gegenseitig Du und ihr ganzes übriges Betragen verrieth eine brüderliche Vertraulichkeit. Somit erregten sie weder Verdacht, noch eine besondere Aufmerksamkeit.
Nach zwei Stunden, etwa gegen 4 Uhr, standen sie auf, um einen Spaziergang zu machen. Man sah sie auf der Landstraße, die nach Ansbach führt, ruhig neben einander gehen; bald indeß verloren sie sich seitwärts in einen Wald.
Etwas nach 5 Uhr hörte ein Bauer, der auf seinem Felde in der Nähe des Waldes beschäftigt war, einen Schuß und sah auch Pulverdampf im Walde aufsteigen. Es dauerte nicht lange, so kam Jemand aus dem Walde mit wankenden Schritten heraus, der ein Schnupftuch um den Kopf gewunden hatte. Er blutete stark, ging auf den Bauer zu und fragte ihn ängstlich, ob er Niemand gesehen?
Auf die Frage, was ihm begegnet, antwortete er:
»Ich habe einen Schuß bekommen, bin darauf hingestürzt und weiß nun nicht, wo mein Bruder ist. – Ich möchte doch nur wissen, wo mein Bruder ist.«
Vermuthlich mit Unterstützung des Bauern schleppte sich der sichtlich schwer Verwundete nach dem Dorfwirthshause, wo seine einzige Sorge der ihm entrissene Bruder war. Seine eigenen Wunden schienen ihn nicht zu kümmern, denn er bat flehentlich die Anwesenden, mit ihm in den Wald zurückzugehen, um seinen Bruder zu suchen. Wahrscheinlich habe der auch einen Schuß bekommen.
Den Leuten im Orte schien die Sache gleich anfangs verdächtig. Der Verwundete war der eine der beiden vorhin eingekehrten Fremden, er war in diesem Zustande allein zurückgekommen und der andere war verschwunden. Man fragte ihn daher geradezu, ob nicht der Bruder selbst auf ihn geschossen habe? Er erwiderte: »Ach nein, wie könnte es mein Bruder sein! Er hatte ja keine Waffen bei sich. Wir waren uns immer gut und hatten keinen Wortwechsel mit einander.«
Diese Antwort schien dennoch nicht geeignet, den aufgestiegenen Verdacht zu entfernen. Wohl aber mußten die Zeichen seiner Bruderliebe, die mächtiger war als aller Schmerz, die Anwesenden rühren. Gegen vier Mal raffte er sich auf, wankte zur Thür hinaus auf die Tenne und rief in dringender Bitte zu den dort stehenden Weibern:
»Liebe Frauen, geht doch mit mir in den Wald! Helft mir doch meinen Bruder aufsuchen; der ist wahrscheinlich auch verwundet.«
Man hatte alle Mühe, den augenscheinlich seinem Tode entgegen Blutenden nur zur Ruhe zu bringen. Die ärztliche Hülfe erwies sich umsonst. Bis auf die letzten Augenblicke, wo es ihm zu sprechen möglich war, wiederholte der Verwundete mit liebender Sorgfalt die Bitte, man möge doch nach seinem Bruder suchen. Er starb nach 9 Uhr Abends.
Der Vorfall war sogleich dem Justizamte zu Cadolzburg gemeldet worden. Noch in derselben Nacht trafen die Gerichte in dem genannten Wirthshause ein. Gegen 1 Uhr rollte noch ein Wagen vor, aus dem ein junger, dem Anscheine nach sehr bestürzter Mann sprang, der sich für den Kaufmann Ludwig Christian von Olnhausen zu erkennen gab. Er habe in Nürnberg von der tödtlichen Verwundung eines Menschen hier gehört, der nach der Beschreibung sein Bruder sein könne; in der Angst habe er sich in einen Wagen geworfen, um sich nähere Auskunft zu verschaffen. Man führte ihn nach der Bank, auf welcher die Leiche lag, und er erkannte sogleich seinen Bruder, unter allen den Anzeichen von Schmerz und tiefer Erschütterung, welche man unter diesen Umständen erwarten durfte.
Sobald er etwas zu sich gekommen, gab er den Umstehenden folgende kurze Erklärung: Dieser sein Bruder habe mit ihm die Förster- und Reuter'sche Handlung in Nürnberg übernehmen wollen. Zu diesem Zwecke hätte er von Augsburg nach Nürnberg kommen sollen. Am verwichenen Mittwoch habe er ihn erwartet und sei ihm deshalb von Nürnberg bis nach Stein entgegengegangen, ohne ihn zu treffen, was ihn bei dessen fester Zusage sehr verwundert. Nun sehe er freilich die entsetzliche Ursache ein. Wahrscheinlich habe ein tückischer Freund sich an seinen Bruder gemacht und ihn unterwegs ermordet und beraubt. Doch könne er keinem seiner Brüder eine solche That zutrauen.
Es war Nacht und die Leute im Wirthshause hatten den einen verschwundenen von den beiden jungen Männern vorhin nicht so fest ins Auge gefaßt, um ihn sogleich wieder zu erkennen; doch kam es ihnen vor, als sei der angekommene Herr von Olnhausen derselbe mit dem fortgegangenen Bruder des Todten. Das Gericht beschloß deshalb seine vorläufige Verhaftnahme, indem auch der Leichnam nach Cadolzburg gebracht wurde.
Dort traf am nächsten Morgen derselbe Postillon zufällig ein, welcher die beiden Fremden am vorigen Nachmittage von Nürnberg nach Guzberg gefahren. Er erkannte den ihm vorgestellten Herrn von Olnhausen als einen der beiden Herren, die gestern in der Postchaise gesessen und in Guzberg abgestiegen waren.
Olnhausen blieb aber standhaft dabei, es müsse hier ein Irrthum obwalten; er sei gestern während des ganzen Tages mit seinem Bruder nicht zusammengekommen. Ja er ging noch weiter, er bestritt jetzt, was er vorhin zugegeben. In der Leiche, die er in der Nacht, als er von Angst und Phantasie aufgeregt war, für die seines Bruders erkannt, könne er diesen nicht mehr bestimmt wiedererkennen. Ja er blieb noch dabei, daß es ein fremder Leichnam sein könne, während sie obducirt wurde, was in seiner Gegenwart geschah.
Gefängnißwarter haben zu allen Zeiten und überall, ob das Gerichtsverfahren nun öffentlich oder geheim war, wie die Erfahrung lehrt, einen Einfluß auf ihre Gefangenen ausgeübt, der meist außer der Controle der Richter, der Gesetze und der Obrigkeit liegt; einen Einfluß der Heimlichkeit, der bestehen wird, auch wenn das Princip der Oeffentlichkeit in aller Welt gesiegt haben wird. Leider, daß es oft ein sehr gefährlicher Einfluß war, wie uns die Beispiele in den Processen Fualdes', Fonk's, Pivardiere's u. A. zeigten, und daß dieser Einfluß immer in sofern ein mislicher sein wird, als es zwar an Bewerbern zum Gefangenwärterdienst nirgends fehlt, aber von den Candidaten, welche sich dazu drängen, nicht der Grad von Bildung und moralischer Würde gefordert werden kann, welchen der Staat bei andern Beamten beansprucht. Der Gefangenwärter in Cadolzburg gehörte nicht in jene Classe; er mußte seinen Gefangenen von der Seite des Gemüths zu fassen gewußt haben, denn schon am folgenden Abend bekannte er ihm, daß der Todte allerdings sein Bruder und er der Mörder desselben sei.
Inständigst bat er sofort um ein Verhör, daß er seine Seele durch ein offenes Bekenntniß entlaste. Als man ihn im Zustande solcher Reue sah, war die Frage natürlich, wie er jetzt erst, und nach so kurzer Zeit, dazu käme, da er vor 24 Stunden noch frech Alles bestritten und sogar den Leichnam seines Bruders verleugnet hätte? Er erklärte, es sei geschehen, weil der Justizamtmann bei seiner provisorischen Verhaftung schonend zu ihm gesagt: »Sie sehen mir zu rechtschaffen aus, als daß Sie einer solchen That fähig sein können.« Das Gefühl der Scham hatte ihn zum Lügner gemacht, zum thörichten Lügner sogar, indem er den Leichnam des Bruders verleugnete, den er eben noch anerkannt. Aber er hatte es nicht vermocht, nun vor so vielen Anwesenden, denen der Gerichtsbeamte seine bessere Meinung von ihm mitgetheilt, sich schlechter darzustellen. Die Scham hatte ihn versteinert, wie er selbst sagte, und es gehörten erst die Schauer der Einsamkeit und das warme, zutrauliche Wort eines wackern Mannes dazu, daß sein Gewissen über seinen Stolz den Sieg davon trug.
Dennoch verließ ihn dieser auch beim Bekennen keineswegs. Schnell hatte er sich in die Rolle des Heroismus hineinstudirt. Statt reuig oder wenigstens gerührt zu erscheinen, trat er dreist vor den Richter hin, und in einer angenommenen Seelengröße, als handele es sich um eine That, deren er sich nicht zu schämen habe, sagte er: »Ich bin nicht gewohnt, etwas zu leugnen. Es ist die Wahrheit, ich habe es gethan. Keine andere Ursache, als daß er sich nicht in meinen Entschluß gefügt. Er wollte nicht in das Geschäft nach Nürnberg. Er kam in den Gasthof zum Mondschein nach Gastenhof (einer nürnberger Vorstadt). Er hat ungefähr noch hundert Gulden Geld bei sich gehabt. Schon das hat mich crepirt. Ich sagte, entweder der Eine oder der Andere muß sterben. Wir kamen in den Wald, und da ist es geschehen. Ich will nun auch sterben, denn das Leben hat keinen Reiz für mich. Weiter will ich nichts sagen, sondern nur verlangen, daß mir gestattet werde, letztwillige Disposition zu machen und dann zu sterben.«
So lautete sein erstes Bekenntniß in dem nächtlichen Verhör, um das er so dringend gebeten. Zu einem Mehr war er nicht zu bewegen und wies alle Vorstellungen des Richters schnöde und stolz von sich. Wenn man sich nach dem Vorangehenden eine interessante Vorstellung von dem Brudermörder gemacht, so wird sie nicht allein durch diese barsche Art des Bekenntnisses, durch die abgerissene und schneidende, der beste Ausdruck scheint uns renommistische, Sprache getrübt, sondern es tritt auch eine Rohheit und Gemeinheit heraus, die den Verbrecher uns auf einer weit niedrigern Stufe der Bildung und des Standes zeigt, als sein Name glauben machte.
Er war in seinem Rechte, ein Recht, was er sich selbst machte, und je mehr er innerlich daran zweifelte, um so lauter pochte und trotzte er äußerlich, um die innere Stimme zu übertäuben. So geschah es auch noch in dem zweiten Verhör. Auch als er hier wenigstens einige Auskunft mehr über die That gegeben, schloß er so: »Ich habe sonst weiter nichts anzugeben, es mag mir gehen, wie es will. Ich habe doch einen nagenden Wurm, wenn es auch gut geht. Um mich ist es mir nicht; aber das ärgert mich, daß Herr Förster nun nicht nach Augsburg ziehen kann. Und der Schandfleck!«
Zu Olnhausen's, als eines Adeligen, Untersuchungsgericht ward eine besondere Regierungscommission bestellt, und er machte vor derselben allmälig ein vollständiges Bekenntniß, welches mit allen Umständen, die zu ermitteln waren, übereinstimmte und an dessen Wahrhaftigkeit kein Grund zum Zweifeln war.
Ludwig Christian von Olnhausen war gerade 29 Jahr alt, denn er war im October 1772 in Schwaben geboren, und zwar an der Jaxt, auf Götz von Berlichingen's Stammgut Jaxthausen. Sein Vater war dort lutherischer Prediger gewesen und hatte bei seinem Tode 1780 eine Familie von einer Tochter und vier Söhnen hinterlassen. Der Ermordete war der Aeltestgeborene, der Brudermörder folgte auf ihn. Jener hatte, wie dieser, die Kaufmannschaft erlernt, und nachdem er bei zwei verschiedenen Principalen, in Speier und Oehringen, gedient, trat er 1799 als Buchhalter in die Förster- und Reuter'sche Buchhandlung in Nürnberg. Seine Besoldung betrug 200 Gulden.
Ludwig Christian von Olnhausen war mit Leib und Seele Kaufmann, d. h. er übertrug allen persönlichen Eifer auf seinen Beruf. Seine Principale müssen dies und seine Rechtlichkeit anerkannt haben, indem sie ihm einen Vorschlag machten, der nur aus einem vollen Vertrauen hervorgehen konnte. Sie waren Beide gesonnen, ihr Geschäft in Nürnberg aufzugeben, der eine, Reuter, um sich ganz zur Ruhe zu setzen, der andere, Förster, um eine Fabrik in Augsburg zu übernehmen. Sie trugen ihrem Commis Olnhausen die käufliche Uebernahme ihrer Handlung an, wobei, dem Anscheine nach, auf kein großes Angeld gerechnet werden konnte, sondern mehr auf Olnhausen's Rechtlichkeit und Credit gesehen wurde.
Olnhausen hielt diesen Kauf für außerordentlich vortheilhaft, da die Handlung von ansehnlichem Werthe in seinen Augen war. Er wollte aber, entweder weil ihm allein die Mittel fehlten, oder um die Arbeit und den Gewinn mit seiner Familie zu theilen, daß auch sein älterer Bruder daran Theil nehme.
Gerade diesen hinzuzuziehen hatte er noch einen moralischen Grund. Der Bruder hatte tüchtig gelernt und verstand die Handlung, aber er war von zu weicher Gemüthsart. Ludwig Christian, der jüngere, scheint nach des Vaters Tode, als von mehr energischem Charakter, eine Art Principalitat über die Familie ausgeübt zu haben. Ihm lag die Versorgung der einzelnen Mitglieder ob; auch hatte er den ältern Bruder ziemlich vorteilhaft in einer augsburger Handlung untergebracht. Aber er war nicht mit ihm zufrieden. Er war ihm zu gutmüthig und, wenn nicht leichtsinnig, doch zu freigebig, sodaß er nichts zurücklegte, um Mittel zu erhalten, dereinst zu einer Selbständigkeit zu gelangen. Ihm diese zu verschaffen und zugleich auf ihn zu wirken, daß er unter seinen Augen seine Fehler ablege, hatte er ihn zum Compagnon gewählt.
Reuter und Förster hatten Olnhausen gegen Ende 1799 den Vorschlag gemacht. Nachdem er, nach reiflicher Ueberlegung, darauf im Allgemeinen eingegangen war, machte er im Januar 1800 dem Bruder den Vorschlag der Compagnonschaft, indem er ihm vorstellte, daß sein und seiner Familie Glück dadurch begründet würde. Der nachgiebige Bruder willigte ein. Bald darauf besann er sich aber eines Andern und schrieb ihm wieder ab. Christian Ludwig erwiderte ihm, es sei nun zu spät, das Geschäft lasse sich nicht mehr rückgängig machen und ohne seinen Beitritt nicht ausführen. Er müsse sich daher entschließen. Der leicht Bestimmbare erwiderte darauf, er sei mit ihm einverstanden.
Die Sache erforderte indeß ernsthafte Vorbereitungen. Auch seine Verwandten, auch seine Mutter mußten dafür gestimmt werden, vermuthlich, weil sie von ihrem Wenigen zur Kaufsumme zuschießen sollten. Ludwig Christian stieß indeß hier ebenfalls auf einigen Widerstand, den zu bewältigen ihm jedoch gelang.
Bei seiner Rückkehr wurde der Kaufcontract zwischen ihm und seinen Principalen förmlich abgeschlossen und der 1. Juli als Tag der Uebergabe der Handlung angesetzt. Der ältere Bruder sollte aber schon am 1. Juni eintreffen, um bei der Aufnahme des Inventars zu helfen und während dieser Arbeit sich vom Stande der Handlung naher zu unterrichten.
Er war schon am 6. Mai von Augsburg abgereist, aber noch am 6. Juni erwartete ihn Ludwig Christian vergeblich. Seine Sachen waren angekommen, er kam nicht. Der Ungeduldige schickte eine Staffette an seinen jüngern Bruder, daß er den ältern treibe. Er ging ihm an zwei Tagen vergebens entgegen. Endlich brachte ihm am 8. Vormittags der Hausknecht aus dem Gasthause zum Mondschein in der Vorstadt ein Billet, in welchem der Saumselige seine Ankunft meldete.
Ludwig Christian eilte sogleich hinaus. Er hatte den Bruder seit drei Jahren nicht mit Augen gesehen. Nach der ersten Bewillkommnung sah er, wie es mit dem Willen des Andern stand. Er war ein gepreßter Freiwilliger, andere Einflüsse waren thätig gewesen. Er hatte allen Muth zur Uebernahme des Geschäfts verloren. Die Achseln zuckend, sprach er von der bedenklichen Lage des damals noch reichsfreien Nürnberg. Sein Gemeinwesen sei verschuldet, der Bankerot stehe vor den Thoren. Welche Aussichten sollten sich da unter diesen Umständen für den Handelsstand eröffnen?
Man darf sich Ludwig Christian's Stimmung dabei denken, dem nicht allein ein lange gehegter Plan zu Schanden ging, an dem er mit ganzer Seele hing, sondern der auch, seinen Principalen gegenüber, nun in Gefahr gerieth, als ein Wortbrüchiger zu erscheinen. Indeß scheint er damals sich noch zusammengenommen zu haben. Er wollte noch operiren, er hoffte das schwankende Rohr wieder umzubiegen. Als der Bruder erklärte, er wolle in seinem Gasthofe zu Mittag speisen und Nachmittags zu ihm in die Stadt kommen, antwortete er ihm kurz, wenn er keine Lust habe, sich in das Geschäft einzulassen, brauche er gar nicht in die Stadt zu kommen.
Durch diese Spannung und Zurückweisung hoffte er auf das weiche Gemüth des Bruders neue Gewalt auszuüben. Doch schlug er ihm dann freundlich vor, Nachmittags mit ihm einen Spaziergang zu machen. Er hoffte, unterwegs seine Grillen zu verscheuchen und ihn dabei durch lockende Vorstellungen und Auseinandersetzungen für seinen Plan zu gewinnen. Der Bruder willigte ein.
Wie es bei gewissen Charakteren zu geschehen pflegt, stieg der Zorn erst nachher in Ludwig Christian auf. Er malte sich auf dem Rückwege die erbärmliche Unentschlossenheit des Bruders lebhaft aus, sein grundloses Zweifeln; ihn verdroß sein unaufhörliches Kritisiren aller der Punkte, über die er, Ludwig, längst im Klaren war und in denen der schwächlichere Bruder vertrauungsvoll seiner Ueberzeugung hätte folgen sollen. Als er zu Hause war, loderte der Zorn in hellen Flammen auf und plötzlich stand der Gedanke vor ihm, er wußte nicht wie er kam: »Entweder mußt Du, Bruder, zu Grunde gehen, oder ich, oder wir Beide.«
Zu Hause angekommen, verschwieg er seinen Principalen die Ankunft des erwarteten Bruders. Er sagte ihnen nur, heute hoffe er bestimmt, daß er komme, und wolle ihm deshalb Nachmittags entgegengehen. Nach Tische wollte er sich eine reine Halsbinde aus der Schublade nehmen, als ihm dabei eine Pistole zu Gesicht kam, welche er vor einiger Zeit ohne weitere Absicht in Fürth gekauft. Da stieg der fürchterliche Gedanke von vorhin, beim Nachhausegehen, in ihm wieder auf. Der Gedanke ward schon zur halben That, ohne daß ein anderes Anreizungsmittel hinzugekommen wäre, und er lud die Pistole mit einer Kugel, wie er wörtlich sagte: »in dem Gedanken, diese ihm oder mir in den Kopf zu jagen, wenn er sich nicht mit voller Ueberzeugung in meinen Plan ergebe.«
Die geladene Pistole in der Tasche, ging er in die Vorstadt hinaus, holte den Bruder ab und setzte sich mit ihm in eine Postkutsche. Die Brüder sprachen indessen, während sie im Wagen saßen, nur wenig mit einander von der wichtigen Sache, weil der Postillon Alles hätte hören können.
Am Schenktisch zu Guzberg fing Ludwig Christian wieder mit seinen eindringlichen Vorstellungen an. Er rechnete dem Andern vor, was sie bei eifrigem Betriebe, bei genauer Sparsamkeit gewinnen könnten. Schon in ihrem vierzigsten Jahre könnten sie eine ganz schuldenfreie Handlung haben. Ihm behagte dies nicht, ihm schien jenes bedenklich. So schien ihm die Commandite mislich, welche die Handlung in Frankfurt a. M. unterhielt. »Nun, wenn Frankfurt zu Grunde geht, so setzen wir sie nach Mainz,« sagte Ludwig. Allein nichts überzeugte, nichts überredete ihn; er hatte gegen Alles Bedenklichkeiten und zuckte die Achseln, wenn Ludwig Christian in allem Feuer seiner eigenen Ueberzeugung sprach.
»Diese Zweideutigkeit,« sagte Ludwig, »diese verdächtige Unentschlossenheit, diese beleidigende Kälte gegen meinen so wohldurchdachten Plan kränkte, ärgerte, erbitterte mich aufs Aeußerste.« Er führt zwei Entschuldigungsgründe an, wenn dies Entschuldigungsgründe sind. Ihm sei vorgekommen, als rühre das ganze Zaudern und der entschiedene Widerwille des Bruders gegen die Geschäftsübernahme von seiner Faulheit her. Er sei vor der Arbeit, die sich vor ihm aufthürmte, erschreckt gewesen. Ein zweiter: Da sei ihm in den Sinn gekommen, daß er vor einigen Wochen aus Augsburg einen Brief unter seiner Adresse erhalten, welcher ihn (den Bruder) verdächtig machte, seinem Principal zu Augsburg Waaren entwendet zu haben. Seltsam, wenn dieser Einwand ihm jetzt erst, in diesem Augenblicke gekommen wäre, da er, wenn er an diese Unredlichkeit glaubte, doch früher ernsthaft daran hatte denken müssen, als er die Compagnonschaft mit diesem Bruder für so wichtig, ja nothwendig erachtete!
Einen dritten – keinen Entschuldigungs- – aber einen Grund, daß sein Zorn so mächtig auflodern konnte, führt er nicht an, obwol er nahe genug liegt: seine beleidigte Eitelkeit, seinen gekränkten Stolz. Der Bruder, der wie ein schwankendes Rohr, wie eine weiche Masse allen Eindrücken von außen nachgab, der sich von ihm zwei-, dreimal umstimmen lassen, der inzwischen von Andern bearbeitet worden war, zeigte sich plötzlich gegen ihn, wenn nicht entschlossen, doch unempfänglich. Andere hatten mit zweifelhaften Reden, ohne Sachkenntnis einen Sieg über ihn gewonnen und er, mit aller seiner brüderlichen Autorität, seiner Ueberredungskraft, seinen einleuchtenden Gründen, konnte jetzt über den Schwächling nicht siegen.
Sie brauchten frische Luft, und Ludwig Christian schlug dem Bruder einen Spaziergang vor. Dieser wußte, wie der Mörder selbst angibt, daß er eine geladene Pistole in der Tasche trug; er wußte, daß ihm der Bruder, entweder leise in der Chaise oder im Wirthshause, gedroht, er wolle ihn niederschießen, wenn er nicht einwillige, aber er ging vertrauensvoll mit ihm.
Der Verbrecher gestand mit klaren Worten, er ging an der Seite des Bruders mit dem Gedanken aus dem Dorfe: entweder vereinigt er sich mit dir auf dem Spaziergange, und dann gehen wir noch am Abend nach Nürnberg, oder er entschließt sich nicht mit voller Ueberzeugung, und dann schieße ich ihm eine Kugel vor den Kopf.
Sie gingen auf der Landstraße, die nach Ansbach führt, zwischen dem Walde fort spazieren. Nachdem sie ungefähr eine halbe Viertelstunde vom Dorfe waren, hub Ludwig Christian wieder an:
»Jetzt entschließe Dich! denn ich gehe heute noch nach Hause. Entweder sage mit ganzer Seele ja oder nein, oder ich, oder Du, oder wir Beide gehen zu Grunde.«
»Thue, was Du willst,« entgegnete der Bruder.
Unter diesen und ähnlichen Gesprächen, wie der Mörder sagt, kamen sie gemach wieder ins Dorf zurück. Hier schlug der Andere sich Feuer und zündete seine Pfeife an. Dann machten sie kehrt und gingen abermals auf dem Wege nach Ansbach zurück. Aber Ludwig Christian wandte nach mehren Schritten links ab in den Wald hinein, theils des Staubes wegen, theils in der Absicht, um sich selbst oder seinen Bruder zu ermorden, wenn dieser in seinen zweideutigen Erklärungen beharrte.
Aufs Neue wurde im Walde das alte Thema vorgenommen. Der Erfolg blieb derselbe. Ludwig Christian ward hitziger und sprach: »Uebernimmst Du nicht freiwillig die Handlung mit mir und mit ganzer Seele, so wie ich selbst, so hänge ich mich entweder auf oder ich – schieße Dich todt.«
»Thue, was Du willst,« antwortete kaltblütig der Bruder, wie zuvor.
Es waren die letzten Worte, welche beide Brüder mit einander sprachen. Sie befanden sich gerade auf einer Anhöhe zwischen Wald und Feld, als – doch hier die Worte des Verbrechers selbst: »Er war mir zur rechten Seite um zwei bis drei Schritt voraus, und da zog ich bei jenen Worten die Pistole hervor und schoß sie, von hinten zielend, auf ihn ab.«
Es war also kein neuer Moment der Aufregung eingetreten. Der alte Zorn, nur so lange vom Aeußersten zurückgehalten, brach durch. Er vollführte, was längst in seinem zerstörten Innern prämeditirt war. Die Gleichmüthigkeit, die Kälte des Bruders, der eine Pfeife sich anzünden und gemächlich rauchen konnte, während es in ihm glühte, war nur der letzte Anstoß.
Der Getroffene stürzte zu Boden; das Blut floß ihm aus der linken Seite des Kopfes heraus. Er gab keinen Laut von sich. Ludwig Christian hielt ihn für tödtlich verwundet, doch bemerkte er keine Verletzung des Gehirns. In der Furcht, daß er noch eine Weile leiden würde, beschloß er, seine Marter zu endigen. Er nahm deshalb die Pistole beim Lauf und schlug ihn dreimal mit dem Schlosse, das erste Mal neben den rechten Schlaf, das zweite Mal auf den Kopf. Dies gab sichtliche Wunden. Fünf bis acht Minuten blieb der Mörder, erst starr den Sterbenden betrachtend, neben ihm stehen; dann weinte er, wie er sagte, aus Mitleid über ihn und sich. Ein Zucken fuhr über seinen ganzen Leib und er schleuderte die Pistole fünf bis sechs Schritte in den Wald hinein.
Nach einigen Momenten dumpfen Hinstarrens und einer völligen Willenlosigkeit ging er einige Schritte weg. Da erschienen ihm vier bis fünf Raben, die ihn laut schreiend umflatterten und ihn anzupacken drohten; wahrscheinlich eine Vision seines geängstigten Gewissens. Ein innerer Schauer faßte ihn und er eilte jetzt, was er konnte, am Dorfe vorbei und durch die Waldspitze nach Nürnberg zu. Wie er angibt, weinte er auf dem ganzen Wege bis zur Vorstadt und kam dort etwas vor 7 Uhr an.
Was er bei sich damals beschlossen, gibt er nicht an. Wahrscheinlich damals noch nichts. Er aß zu Nacht mit seinen Principalen und ging, als wäre nichts vorgefallen, um 10 Uhr zu Bett. Doch konnte er nicht schlafen. Noch vor Mitternacht ward er von einem Bekannten geweckt. Dieser brachte ihm die Nachricht, sein Bruder sei geschossen und liege im Wirthshause zu Guzberg. Er behauptet, es habe ihn jetzt die Liebe zu seinem Bruder hinausgetrieben. Er habe gedacht, du gehst hinaus, siehst, was er macht, und übergibst dich Dem, der dich haben will.
Er suchte darzuthun, daß es nie seine Absicht gewesen, seine That zu verbergen. Mit ungewaschenen Händen habe er sich am Abend zu Tische gesetzt, so sei er auch in der Nacht nach Guzberg gefahren. Er habe nicht einmal untersucht, ob Blutflecken an seinen Kleidern oder an seiner Wäsche sich befanden, und hätte der Justizamtmann, den er dort im Wirthshause antraf, nicht die Worte an ihn gerichtet: »Sie sehen mir zu rechtschaffen aus, als daß Sie einer solchen That fähig sein könnten,« so würde er nie ans Leugnen gedacht haben. Wenn er die Absicht gehabt, sich der Strafe zu entziehen, würde er doch gleich mit der Post aus Nürnberg fortgefahren sein, in Schwabach, wo er Bekannte hatte, Geld aufgenommen haben und durch die Flucht aus Deutschland sich zu retten versucht haben.
Aufs Eifrigste protestirte er dagegen, daß er seinen Bruder aus Eigennutz, Neid oder Feindschaft getödtet haben könnte. Nein, es sei nur und allein aus Enthusiasmus für das ganze Geschäft geschehen.
Man hat keinen Grund gehabt, an der Wahrhaftigkeit dieser Versicherung zu zweifeln, und eben so wenig an der Glaubwürdigkeit hinsichtlich der Thatsachen und des ganzen Hergangs, wie der Verbrecher ihn schildert. Das Thatsächliche steht klar da, die Motive der That sind gegeben, und Olnhausen wiederholte sie in seiner Vertheidigung, die er zu Protokoll gab, mit folgenden Worten, welche den psychologischen Zusammenhang deutlich genug darstellen und klare Blicke in die Seele des Unglücklichen thun lassen:
»Ich hatte den Plan zu meinem und meiner ganzen Familie Glück so gut und so sicher entworfen; gleichwol tadelt ihn mein Bruder und zuckt beständig die Achsel. Dies ärgerte mich schrecklich. Seine wunderlichen Einwendungen über die politische Lage von Nürnberg und Frankfurt griffen mich auf der empfindlichsten Seite an. Mein Aerger wurde durch den fatalen Brief, der rücksichtlich seiner von Augsburg eingelaufen war, und durch seine phlegmatischen Antworten: »Thue, was Du willst!« auf das Aeußerste gebracht. Ich verlor die Besinnungskraft und drückte die Pistole, weil ich sie eben bei mir trug und wahrscheinlich mein Leben lieber hatte als das seine, unglücklicherweise auf ihn los. Stelle man sich nur vor, wenn man es so weit gebracht hat als ich; wenn man eine beträchtliche Handlung überkommt, durch die man sein und seiner Familie Glück gründen kann; daß unsere Firma auf unseren Handlungsplätzen zu Frankfurt, Bamberg und Würzburg schon angekündigt war; daß wir mit jeder Stunde das Waarenlager wirklich übernehmen sollten; daß Herr Förster äußerst hierauf drang, weil er schon einen Theil seiner Sachen nach Augsburg abgeschickt hatte: – und nun kommt ein Bruder, der gegen alles Erwarten nichts als Bedenklichkeiten hat, nichts als elende Einwendungen vorbringt, ob man da nicht toll werden und in Verzweiflung kommen muß! Vernunft und Religion sagen mir, daß ich strafbar gehandelt, – die Gesetze des Staates, daß ich das Leben verwirkt habe. Ich hätte besser gethan, wenn ich meinen Bruder ganz hätte gehen lassen; allein in der Hitze überlegt man so etwas nicht gleich. Da ich schon in meinem Plane die Handlung geordnet und dabei Jedem meiner Familie seinen Platz angewiesen hatte, so fiel mir nicht gleich ein, was in dem Falle zu thun sei, wenn mein Bruder nicht mit mir in das Geschäft eingehen sollte.«
Bei der richterlichen Beurtheilung kamen nur die Fragen über die Zurechnungsfähigkeit und das eventuelle Strafmaß zur Sprache. Ueber die erstere Frage waren die Gerichte verschiedener Ansicht.
In erster Instanz sprach die damalige preußische Regierung zu Ansbach ihr Urtheil nach geführter Untersuchung dahin aus: daß der Brudermörder seines Adels verlustig erklärt, ohne Begleitung eines Geistlichen in seiner Kerkerkleidung zum Richtplatz geschleift, daselbst mit dem Rade von oben herab gerichtet, sein Leichnam auf das Rad geflochten und die Pistole, womit der Mord verübt worden, an den Pfahl befestigt werden solle.
Dieses Urtheil wurde der Criminaldeputation des Kammergerichts zu Berlin zur Begutachtung vorgelegt und auf ein, wie Feuerbach versichert, trefflich ausgeführtes Gutachten des genannten Gerichts bestätigte das Justizministerium am 19. December 1801 das erste Erkenntniß.
Der Verurtheilte appellirte und die Regierung zu Baireuth bestätigte, als zweite Instanz, am 19. Juni 1802 das ausgesprochene Todesurtheil. In ihre Entscheidungsgründe flocht sie aber die Bemerkung ein: »daß, wiewol alle Rechtsgründe wider den Verbrecher entschieden, gleichwol bei dem Vorfalle manche psychologische Unerklärlichkeit obwalte und man sich nicht enthalten könne, auf verborgene Schwermuth, als Ursache der That, zu schließen; der dortige Gerichtsgebrauch habe schwermüthige Personen stets mit der Lebensstrafe verschont, daher allenfalls die verdiente Strafe des Todes, wenigstens aus königlicher Gnade, in lebenslänglichen Festungsarrest verwandelt werden dürfte.«
Ludwig Christian von Olnhausen war bis zum Augenblick der That das Muster eines gesitteten, rechtschaffenen Mannes. Kein Flecken haftete an seinem Namen. Er war arbeitsam bis zum Uebermaß, lebte zurückgezogen, war freundlich gegen Jeden, aber mit Wenigen befreundet; desto liberaler und sorgsamer war er gegen seine Familie. Wenn er karg war gegen sich, so war er desto freigebiger gegen die Verwandten, und indem er an seinem Glücke arbeitete, trennte er es nicht von dem der Seinen. Man fragte sich also: Wie konnte ein so tugendhafter Mann plötzlich ein so ruchloser Verbrecher werden? Wo sind die Uebergänge vom Guten zum Bösen? Mußte da nicht ein dämonischer Einfluß ihn überkommen sein, eine verborgene Schwermuth, wie der zweite Richter sich ausdrückt, der seine Zurechnungsfahigkeit vor dem Gesetze in Zweifel stellt? Der dämonische Einfluß war allerdings da, er ist aufs Klarste in der Geschichtserzählung dargethan; es ist aber ein solcher, der in der Mehrzahl der menschlichen Verbrechen vorkommt und, nähme die strafende Gerechtigkeit darauf Rücksicht, den Verbrechen Thor und Thür öffnete und die Sicherheit der menschlichen Gesellschaft untergrübe.
Olnhausen war bis da ein tugendhafter Mensch, aber die Versuchung war noch nicht an ihn herangetreten. Auch bei Solchen, die, unschuldig, freundlichen Gemüthes, den geraden Weg in Rechtlichkeit fortwandeln, kann irgend eine hervorstechende Neigung in der Stille wuchern, die, wenn ihr unerwartet von außen Widerstand geboten wird, aufwallt, das innere Gleichgewicht zerrüttet und, wo das sittliche Bewußtsein oder die religiöse Ueberzeugung fehlen, zum Verbrechen wird. »So tritt oft unerwartet selbst der Bessere in die Reihe der Verbrecher; so ist oft eines Menschen That abscheulicher als er selbst; so können sich oft die sträflichsten Handlungen sogar aus trefflichen Neigungen entwickeln.« – »So wahr es ist, was Jener sagte: Jeder habe seinen Preis, um den er verkäuflich sei, so wahr ist es, daß fast Jeder seine schwache Seite hat, welche ihm den Fall bereiten kann, sobald ihn dabei die Gelegenheit mit hinreichender Stärke faßt.«
Die vortretende Neigung, die in Olnhausen wucherte, war der Ehrgeiz, ein sehr specieller; denn er wollte ein selbständiger, angesehener, geachteter Kaufmann werden, in den Stand gesetzt, durch sein Geschäft das Glück seiner Familie zu machen. Dieser Gedanke, von außen unangefochten, war in ihm zur fixen Idee geworden, um so fester, als er durch moralische Impulse genährt wurde, nicht minder durch seinen Stolz, und jetzt war er besiegelt durch ein Versprechen gegen Andere. Sein einseitiger, von allgemeiner Bildung entfernter Geist fand keine Aushülfe. Auf dem schmalen, engen Geleise geradeaus trat ihm der feige, unmännliche Trotz des Bruders in den Weg. Dem negativ tugendhaften Manne aber fehlte, wie eine umfassende Bildung, auch ein tieferes, sittliches Element, ein religiöser Glaube, der stärker gewesen wäre als die Versuchung. So erlag er dieser, die dämonisch freilich in ihrer Erscheinung ist, aber auf ganz naturgemäßem Wege hervorgebracht.
Das Misverhältniß des Beweggrundes zur That, welches von den Vertheidigern und den Richtern zweiter Instanz hervorgehoben wird, kann eben so wenig als Beweis einer geistigen Verirrung gelten. Ihm, dem beschränkten Geiste des Mannes, der nur Kaufmann war, war, was er wollte, sein Alles. Es war das Höchste, was er wollen konnte, also auch des Aeußersten, was ein Mensch einsetzen darf oder nicht darf, werth. Allerdings ist die Gedankenverbindung: weil mein Bruder nicht mit vollem Herzen zu meiner Unternehmung ja sagt, so muß ich ihn tödten, eine verrückte Logik; aber noch nicht die Logik eines Verrückten, sondern nur die eines von der äußersten Leidenschaft erregten Menschen. Sollte eine solche Leidenschaft, welche den Menschen unvernünftig im Denken und Handeln macht und ihn Dinge begehen läßt, welche, geradezu seinem erstrebten Zwecke entgegen, denselben sogar vernichten, für wahnsinnig erklärt werden, so hörte die Strafjustiz auf; denn sie hat es in der Mehrzahl von Fällen mit Solchen zu thun, welche von einem Affecte zur bösen That getrieben werden. Nur die Minderzahl wird aus kalter Ueberlegung oder aus Vernunft Verbrechen begehen.
Feuerbach widmet der Widerlegung der Ansicht, daß Olnhausen in einem Zustande der Unzurechnungsfähigkeit gehandelt habe, eine jener meisterhaften Abhandlungen, welche diesen großen Criminalisten als noch größern Psychologen zeigen und die an Umfang der ganzen Relation nahe kommt. Indessen ist Vieles von Dem, was der ausgezeichnete Jurist seiner Zeit zur Belehrung jüngerer niederschrieb, seitdem in das allgemeine Bewußtsein übergegangen, ohne daß man immer an die Quelle zurückdenkt, aus der es kam. Auch in dem vorliegenden Falle wird, nach der genauen Erörterung der Motive, heute wol Niemand mehr einen Wahnsinn annehmen, welcher die Strafe ausschlösse, und wir begnügen uns, mit voller Beistimmung die Schlußworte des Meisters herzusetzen, indem er sagt: »So zeigt denn Alles den geraden Weg einer Leidenschaft, welche in dieser Seele Das werden mußte, was sie geworden ist, und unter den gegebenen Umständen zu keinem andern Ausweg führen konnte, als zu welchem sie wirklich geführt hat. Nirgend findet sich irgend ein Zeichen der Verstandesverwirrung. Von Anfang bis Ende zeigt sich vielmehr Ueberlegung, Besonnenheit als Begleiterin des Entschlusses zur That. – – Seine That floß nicht aus einem verwirrten, seiner selbst ohnmächtigen Verstande, sie war nur die Folge von der Schwäche seines Willens, welcher sich an die Uebermacht der Begierde ergab.«
Zum Ueberfluß ist auch im Gutachten des Arztes, welcher Olnhausen dreimal im Gefängnisse besucht und genau beobachtet hat, bezeugt, daß an demselben keine Spur weder von Melancholie, noch von körperlicher Anlage zur Schwermuth zu entdecken gewesen, daß sich derselbe vielmehr höchst verständig und dabei in lebhafter Munterkeit mit ihm unterhalten habe.
Das Urtheil zweiter Instanz ward nach Berlin zur Bestätigung eingesandt, und am 30. Juli 1802 erließ König Friedrich Wilhelm III. folgendes merkwürdige Cabinets-Rescript an die Regierung zu Baireuth:
»Die Regierung zu Baireuth hat zwar auf geführte weitere Vertheidigung des Handlungs-Commis Ludwig Christian von Olnhausen in dem anliegenden Urtheile das von Euch abgefaßte Erkenntniß erster Instanz lediglich bestätigt; jedoch zugleich auf dessen Begnadigung und auf Verwandlung der Todesstrafe in lebenswierigen Festungsarrest angetragen, weil sie es nach den ausgemittelten Umständen für wahrscheinlich hält, daß Inquisit sich bei Verübung der That in einem Zustande der Geistesabwesenheit befunden habe. – So wenig nun auch diese Vermuthung durch das Benehmen des Inquisiten vor und nach der That gerechtfertigt wird, weshalb der Antrag der Regierung zu Baireuth wol nur als eine Wirkung der vielfältigen für diesen Mörder eingekommenen Intercessionen, welche in dem Mitleiden mit seiner und des Erschlagenen Familie ihren Grund haben mögen, anzusehen ist, und so wenig sich der Richter durch dergleichen Nebenbetrachtungen in der Anwendung der Strafe irre machen lassen soll: so tragen Wir doch Bedenken, einen von ihm motivirten Begnadigungsantrag zurückzuweisen und ein Todesurthell zu vollziehen, in Rücksicht dessen die Richter selbst ungewiß sind, ob die That dem Verbrecher in vollem Maße zugerechnet werden könne. Wir wollen daher die in Antrag gebrachte Verwandlung der erkannten Todesstrafe in lebenswierigen Festungsarrest hiermit genehmigen.«
Daß Friedrich Wilhelm III. in seiner bekannten Scheu vor der Unterzeichnung von Todesurtheilen, besonders in den ersten Jahren seiner Regierung, diese Bestätigung erließ, darf nicht Wunder nehmen; dagegen rechnet Feuerbach den von der baireuther Regierung angeführten Zweifelsgrund »unter die merkwürdigsten Thatsachen in der Geschichte deutscher Urteilssprüche«.
Olnhausen hatte das Urteil erster Instanz mit Gelassenheit vernommen. Er für seinen Theil war bereit, sich demselben zu unterwerfen; nur um von seiner Familie die Schmach einer öffentlichen Hinrichtung abzuwenden, hatte er appellirt. Ihm mußte der schrecklichste Tod erträglicher erscheinen, als lebenslang in Gesellschaft der verworfensten Menschen gefangen zu sitzen. Er klagte daher die ihm gewordene Gnade einer unbarmherzigen Strenge an und versuchte auch später Mittel verschiedener Art, aus diesem drückenden Dasein sich zu befreien, einmal sogar durch eine betrügerischer Weise verfertigte königlich preußische Cabinetsordre. Ob das seine Haft auf dem Zuchthause zu Lichtenau verschärfte, wird uns nicht berichtet.
Inzwischen war nach Verlauf weniger Jahre Ansbach unter baierische Souverainetät gekommen. Aufs Neue machte nun die Olnhausische Familie und ihre Freunde Anstrengungen, ihren Verwandten zu erretten.
Daß er ein Verbrecher war, der mehr Mitleid als Abscheu verdiente, lag außer Frage. Er war kein Bösewicht, er war besser als seine That; er stand, moralisch beurtheilt, höher als vielleicht Mancher, der sich damit brüstete, daß er so tief noch nicht gefallen sei. Eine Schrift, die er in seinem Gefängniß aufsetzte, auch wichtig zur Beurtheilung über seine Zurechnungsfähigkeit (zu welchem Zwecke sie Feuerbach in seiner Abhandlung aufführt), spricht von seiner Reue, wenngleich sie auch von dem ihm innewohnenden Stolz nicht minder Zeugniß ablegt. Es heißt darin:
»So lange ich richtig denken konnte, habe ich für das Glück und die Ehre meiner lieben Familie gelebt. Es war mir außer Gott nichts heiliger als meine beste Mutter, meine einzige Schwester und meine vier Brüder. Mein einziges Bestreben war, meiner Mutter und meiner Schwester durch Mitwirkung meiner Brüder ein heiteres Leben und ein ruhiges Alter zu bereiten. Außer diesem Plane und meinen Berufsgeschäften fand ich an nichts sonderliche Freude, jedes andere Vergnügen war mir gleichgültig, ja lästig. Um meiner lieben Schwester von Zeit zu Zeit Geschenke zu machen, habe ich mir oft Ausgaben erlaubt. Sonst aber war ich äußerst sparsam, doch nie geizig; denn diesen Unterschied weiß ich sehr wohl. Ich habe mich nie mit Handlungs-Commis und andern dergleichen Personen abgegeben; ich suchte den Umgang solcher Männer, von denen etwas zu hören und zu lernen war, und nur in ihrem Umgange war mir wohl. Ich war von jeher nicht hochmüthig, aber stolz auf meine innere Kraft, auf mein männliches Bewußtsein. Ich kramte damit nicht aus, bei keiner Gelegenheit. Es war mir Ekel, wenn irgend Jemand in meiner Gegenwart mit seinen Vorzügen prahlte. Jetzt, da ich im Unglück bin, muß ich es leider selbst wider meine Neigung thun. – O Gott, wie unglücklich hast du mich werden lassen! Warum hast du zugeben können, daß ich mich selbst durch meine eigene Hand so schrecklich vernichtet, daß ich mit mir so viele Menschen auf immer in das Verderben gerissen habe! Zu meinem Unglück gesellt sich noch der Jammer, daß ein Theil, und zwar der größte Theil, des Publicums falsch von mir urtheilt. Für Diejenigen, die meine traurige Geschichte genau kennen, will ich hier den Plan umständlich entwickeln, den ich ein halbes Jahr lang gehegt habe und der so eisern fest in meinem Gehirn gereift ist, daß mein guter Bruder Ludwig Ernst, welcher die erste Person in diesem Plane war, sein Leben darüber verlieren mußte. Weil er sich nicht mit ganzer Seele nach meinem Willen darein ergab, – darin und in dem Wisch von Augsburg liegt mein Verbrechen und das Unglück meiner Familie und das meine. Mein Plan war dieser:« (Jetzt entwickelt er in mehren Punkten das Detail seines Handlungs-Projects, wobei er jeder Person seiner Familie einen Platz zugedacht hatte, und fährt dann fort:) »Worauf ich mich noch außerordentlich freute, war meiner Schwester Tochter, welche ich zu mir nehmen und unter meiner Aufsicht erziehen wollte. Sie heißt Louise, sie ist ein hübsches, gutes Kind von sechs Jahren. Sie war die Puppe, an der ich mich bei müßigen Stunden ergötzen wollte. O, wie unbeschreiblich schrecklich ist es, daß ich die Laufbahn, die ich als Wohlthäter begann, nun als Uebelthäter endigen muß! Wenn ich in meinem Gehirn nicht so gut gesattelt wäre, so wäre ich in den ersten Tagen meiner Gefangenschaft ein Narr geworden. Ich mußte mir Mühe geben, mich selbst wieder zu erkennen; ich zweifelte, ob ich denn wirklich noch der Ludwig von Olnhausen sei? Ich war trunken von Jammer, ich meinte zu ersticken; die Wände meines Kerkers schienen sich auf mich zu wälzen; wo ich hinsah, da sah ich Flammen. Man sollte nicht glauben, daß ein Bruder den andern ermorden könnte. Und doch hat dies einer dem andern gethan, ohne daß jener roh oder bösartig, ohne daß einer dem andern Feind gewesen wäre. Ach! nur ein einziger Zwist brachte diese That hervor, das schlimmste unter allen Uebeln, das schrecklichste unter allen Verbrechen.«
Auf der andern Seite sprach für ihn der Umstand, daß die Familie des Ermordeten ja auch seine eigene war und diese selbst für ihn aufs Inständigste bat. Hatte doch, so hat es den Anschein, auch der ermordete Bruder die letzten qualvollen Augenblicke seines Lebens nur damit verbracht, daß er den Bruder vor dem Verdachte schützen wollte, ihn ermordet zu haben. So endete der weichlich und schwächlich von ihm gescholtene Ernst Ludwig mit einer schönen Lüge, aber mit einem wahrhaften Heroismus.
Der Gerechtigkeit schien genügt, es war Niemand, der an der festgesetzten Strafe ein Interesse hatte, das allgemeine Mitleid war erwacht für den Unglücklichen, er wurde, in Freiheit gesetzt, Keinem gefährlich; endlich gehörte das Land einem andern Herrn, der die Strafgerichte des vorigen, wenn auch gerechte, unbeschadet der eigenen Autorität, aus Gnade mildern konnte. Zum Ueberfluß bot die Familie gewisse Geldvortheile, wenn man ihren Angehörigen begnadigen wolle.
Umsonst, Auf ein vom jüngern Bruder des Ermordeten wiederholtes Begnadigungsgesuch wurden die Acten zur »allerhöchsten Stelle« eingesandt. Aber die Frage: ob er der königlichen Gnade empfohlen werden könne? ward entschieden verneint. Einen Brudermörder, Brudermörder mit Absicht, mit vorbedachter Absicht, den drei Justiz-Collegien zum Tode durch das Rad verurtheilt, der die Milderung seiner Strafe nur der »durch ehrwürdige Bedenklichkeit eines zarten Gewissens gleichsam widerwillig abgedrungenen Begnadigung« verdanke, der bürgerlichen Gesellschaft wiedergeben, hieße die öffentliche Meinung zum zweiten Male beleidigen.
Ludwig Christian von Olnhausen starb nach wenigen Jahren im Zuchthause zu Lichtenau.

Quellen: - Das Neue Pitaval (Willibald Alexis) - Band 5


3. Der verrätherische Ring - 1821

In einem der abgelegenen Stadtviertel von Augsburg wohnte in eines Schuhmachers Hause eine Tagelöhnerfrau, Anna Holzmann. Sie war etwas über 50 Jahre alt, und empfing als Arme aus milden Stiftungen gewisse Gaben. Die Leute aber glaubten, daß es nicht so schlimm mit ihr stand. Sie hatte gute Kleider und manche Habseligkeiten, die Andere mit Neid betrachteten. Sie mußte auch Betten oder Mobilien über den Bedarf besitzen; denn sie nahm zwei Schlafburschen, oder wie es dort heißt, Schlafgänger bei sich auf, die ihr Miethe zahlten und eine Kammer neben ihrer Stube bewohnten. Dies war, was man bestimmt wußte; außerdem aber flüsterte man sich zu, die Mutter Holzmann, wenn sie auch Almosen empfinge, habe doch einen ganz hübschen Topf mit Sparpfennigen zurückgestellt. Die Phantasie der Armuth ist darin erfinderisch. Sie liebt es, unter Lumpen Gold zu erblicken und gerade das Geheimnißvolle lockt die verbrecherischen Regungen hervor.
Am Charfreitage des Jahres 1821, am 20. April, hatte man die Mutter Holzmann zum letzten Male gesehen. Sie war seitdem spurlos verschwunden. Ihre beiden Stubenburschen räumten erst nach mehren Tagen, als ihre Wirthin nicht wiederkommen wollte, das Quartier, auf das sie, für sich selbst, kein Recht hatten. Der eine, Georg Rauschmeier, zuerst, der andere, Joseph Steiner, der noch immer auf sie gewartet hatte, später. In Folge dieser Erwartung, daß die Holzmann sich doch wieder einfinde, hatten sie auch erst kurz vor ihrem Ausziehen dem Hauswirth, welcher in einer andern Straße wohnte, von dem Ereignisse Anzeige gemacht. Der Wirth hatte alle Schlüssel empfangen, welche seine Mietherin zurückgelassen.
Auch dieser sah in der Entfernung der Frau nichts, was eine besondere Aufmerksamkeit hätte erregen können, und machte erst am 17. Mai bei der Polizei davon Anzeige. Die Polizei berichtete darüber dem Magistrat und der Magistrat ließ die nächsten Anverwandten der Holzmann, ihren Bruder und ihre Schwägerin, vernehmen. Der Bruder schien zu Denen zu gehören, welche den Glauben der Leute über das Treiben der Holzmann theilten. Er meinte, seine Schwester möge wol auf und davon gegangen sein und sich entleibt haben. Wie man sagte, so hatte sie Gelder zu hohen Zinsen ausgeliehen. Vielleicht sei ihr Einer mit dem geliehenen Gelde durchgegangen; das hätte sie verstört gemacht, weil sie noch ihren Hauszins bezahlen müssen, und sie wäre ins Wasser gesprungen.
Nachdem man die inzwischen angelegten Siegel erbrochen, nahm man eine Inventur ihrer Sachen auf. Bruder und Schwägerin erklärten hierbei, daß die besten Sachen fehlten, auch fand man weder den vermutheten Geldtopf, noch andere versteckte Habseligkeiten. Sonst stieß man auf nichts Verdächtiges. Nur verbreitete sich ein unerträglicher Geruch, der den mit der Inventur beschäftigten Personen sehr unangenehm ward. Als Grund fand man in der von den Schlafburschen bewohnt gewesenen Kammer mehre große Töpfe mit Unrath.
Eine Untersuchung mußte eröffnet werden, aber in Ermangelung aller Anzeichen, die auf einen Verbrecher, oder nur auf ein Verbrechen führten, wurden die Acten einstweilen bis auf weitere Entdeckungen reponirt.
Sie hatten lange geruht, bis in das neue Jahr hinein, als an einem Januartage eine Wäscherin mit ihrem Sohne auf dem Boden des Daches Wäsche trocknen wollte. Auf diesem Boden, vielleicht im ganzen elenden Hause, mochten Besen und Schaufel nicht viel zu schaffen haben. Stroh, Müll und Schutt lagen in den Winkeln. Beim Wegkehren mit dem Fuße stießen die Beiden auf etwas Consistenteres und fanden bei näherer Besichtigung den Schenkel und den Rumpf eines menschlichen Körpers. Mutter und Sohn überkam sogleich die Ueberzeugung, daß diese Reste der im vorigen Jahre verschwundenen Frau aus dem Hause angehören möchten, und sie eilten fort, um den Gerichten ihre gräßliche Entdeckung zu machen.
Augenblicklich verfügte die Gerichtsdeputation sich dahin und fand auf dem obern Boden in einer Ecke zwischen Stroh und Schutt einen nackten, linken Schenkel mit Bein und Vorderfuß. Ungefähr sechs Schritte davon, zwischen dem Schornstein und dem Dache eingeklemmt, stak ein Rumpf, ohne Kopf, Arme und Beine. Bei näherer Untersuchung fand man noch einen alten Weiberunterrock nebst Leibchen und ein rothes Halstuch, Alles stark mit Blut befleckt. Diese Kleidungsstücke erkannten Personen, die im Hause wohnten, augenblicklich für diejenigen, welche die Holzmann am Leibe getragen.
Man suchte nunmehr eifriger nach und fand in dem untern größeren Dachboden, unter einem aufgehobenen Brete, dicht neben der Schornsteinröhre einen rechten Arm. Nach diesem Funde wurde in den morschen Dielen weiter gebrochen, und in dem Kämmerchen, wo Mutter Holzmanns Schlafgänger gewohnt, lag unter einer solchen Diele ein eingewickelter Packen. Als man den blautuchenen, blutbedeckten Weiberrock losgewickelt, fand sich darin ein zusammengebogener rechter Schenkel mit Bein und Vorderfuß und daneben in einem alten leinenen Hemde ein am Ellbogengelenk ganz eng zusammengekrümmter linker Arm.
Alle diese Gliedmaßen, sammt dem Rumpfe waren fast wie geräuchertes Fleisch zusammengeschrumpft und durch die gepreßte Lage sehr entstellt. Der Fäulnißproceß schien durch den Luftzug oder andere physische Umstände ganz ausgeschlossen geblieben zu sein. Um ihre natürliche Gestalt wieder zu gewinnen, weichte man diese Glieder einige Tage lang im Wasser auf, schlug sie in mit Weingeist befeuchtete Tücher ein, und dehnte sie dann, so weit es ging, aus, um an ihnen die gesetzliche Form der Leichenschau zu vollziehen. Als Resultat ergab sich, daß sie alle ein und demselben Körper angehörten, und zwar einem weiblichen, daß die Person von zartem Knochenbau müsse gewesen sein und wohlgebaut. Die Arme und Schenkel waren mit vielem Geschick, »wie durch Künstlers Hand«, aus den Gelenkhöhlen gelöst, sodaß sich weder in diesen, noch in den Köpfen der Oberarm- und Schenkelbeine eine Spur der runden, oder Gelenkkapsel-Bänder ersehen ließ.
Aber weder am Rumpf noch an Gliedern ließ sich die Spur einer Verletzung wahrnehmen, durch welche der Tod erfolgt sein konnte. Wenn also eine Verwundung stattgefunden, welche denselben nach sich gezogen, so mußte sie den Körpertheil betroffen haben, welcher fehlte, und, aller Nachsuchungen ungeachtet, nicht aufzutreiben war, – den Kopf der Verunglückten.
Aber auch ohne diesen zu finden, stimmten darin doch alle Anzeigen, daß die zerstückten Glieder dem Körper der verschwundenen Holzmann angehörten. Sie war, nach Aussage ihrer Bekannten und Verwandten, eine kleine, zart gebaute Person. Als eigenthümliches Kennzeichen gaben sie an, daß der rechte Vorderfuß der Holzmann um ein Beträchtliches dicker gewesen als der linke, auch daß an ihrer großen Zehe die Knochen vor längerer Zeit ausgelöst worden. Alles dies traf genau bei den vorgefundenen Gliedmaßen zu, und Bruder, Schwägerin und andere Bekannte erklärten übereinstimmend, daß die ihnen vorgezeigten Gliedmaßen den Körper der Anna Holzmann bildeten.
Auch hinsichts des Kopfes gerieth man bald wenigstens auf eine sichere Spur. Nahe dem Hause, wo sie gewohnt, geht ein Kanal vorüber, der vom Lech sein Wasser empfängt. Alle diese Arme und Kanale des Lech, welche durch Augsburg stießen, haben ein sehr lebhaft strömendes Wasser. Der Aufseher einer Fabrik, die an diesem Kanal gelegen, hatte bereits um Pfingsten des vorigen Jahres an dem zum Fabrikgebäude gehörigen Nachen einen Menschenschädel angetrieben gefunden. Er war ganz nackt, von allen fleischigen Theilen entblößt; er sah ihm daher so alt aus, als komme er aus einem Beinhause. Eine Weile hatte er ihn betrachtet, auch seinem Bruder gezeigt, dann aber wieder ins Wasser geworfen, um keine Weitläufigkeiten deshalb zu haben.
Der Schädel war klein und hatte nur 2 oder 3 Zähne im Kiefer; dies stimmte mit dem Kopf der Holzmann, wie ihn ihre Angehörigen beschrieben. Wenn sie von Mörderhand gefallen und zerstückelt worden, so konnten diese den Kopf nicht besser bei Seite schaffen, als indem sie ihn in der Dunkelheit in den so nahen Kanal schleuderten. Das Wasser aus dem Kanal stoß wieder in den Lech, wo jede Nachforschung umsonst war. Indessen sagten der Fabrikaufseher sowol als dessen Bruder, daß sie in dem Schädel weder einen Sprung, ein Loch, noch sonst eine Verletzung wahrgenommen.
Aber noch eine sehr wichtige Entdeckung war bei dem Ausrecken des aufgeweichten Leichnams gemacht worden. Als der Gerichtsarzt den linken Arm des Leichnams allmalig auszustrecken versuchte, war aus dem innern Einbug des Ellenbogens ein messingener Fingerring auf den Boden gefallen. Der Mutter Holzmann hatte er nicht angehört. Wahrscheinlich also ein Eigenthum des Mörders, der ihn im Eifer seines Zergliederungsgeschäftes vom Finger gestreift hatte. Er war, zum sprechenden Zeugniß seiner That, gleichsam von der Hand der Todten festgehalten worden.
Aber wem gehörte der Ring? Darüber wußte Niemand Auskunft zu geben. Indessen traf der nächste Verdacht die ehemaligen Schlafburschen der Ermordeten. Sie waren es, die zuletzt geständlich sie gesehen hatten. Sie waren, lange nach ihrem Verschwinden, in ihrer Wohnung geblieben, ohne davon zu rechter Zeit Anzeige zu machen. Welcher andere Mörder, der sich nur in das Haus stehlen können, hätte die Zergliederung so mit Muße vornehmen können, als Einer von ihnen, oder Beide zusammen? Dazu gehörte lange Zeit und ungestörte Gelegenheit. Mehre Tage nachdem man die Holzmann zum letzten Male gesehen, waren sie im Hause, und hatten nichts von Dem, was augenscheinlich hier begangen worden, erfahren. In ihrer Bodenkammer lag unter einer Diele ein Theil des Leichnams. Dazu hatte der eine von Beiden, Rauschmeier, damals, und sogar eidlich, vor Gericht ausgesagt, seine Hausfrau sei am Charfreitage mit einer andern Frau fortgegangen und habe ihm die Schlüssel ihrer Wohnung überlassen, was nach dem schon Ermittelten eine baare Lüge war. Endlich erfuhr man, daß Rauschmeier schon am Sonnabend nach dem Charfreitage mit Beihülfe seiner Geliebten mehre Sachen der Holzmann aus der Wohnung fortgeschleppt und verkauft oder versetzt habe. Gründe genug, ihn zu verhaften.
Rauschmeier, der niemals Augsburg verlassen und dessen neue Wohnung wohlbekannt war, benahm sich bei der Arretirung nicht allein mit Kälte und Ruhe, sondern auch mit der unbefangensten Offenheit. Er stellte jede Theilnahme oder Wissenschaft an einem gegen die Holzmann begangenen Verbrechen in Abrede und erzählte von Neuem, diesmal aber weit ausführlicher und mit den kleinsten Umständen, wie die Holzmann am Charfreitag ganz in der Frühe mit einer andern Weibsperson, die sie abgeholt, ihm aber unbekannt gewesen, fortgegangen sei, und ihm die Schlüssel zum Aufheben übergeben habe. Sie sei an dem Tage und auch in den nächsten, nicht wieder gekommen; weil er sich aber nichts Arges dabei gedacht, habe er sich auch nicht für verpflichtet geachtet, davon Anzeige zu machen. Er ward auf den Kirchhof geführt und ihm die zusammengefügte Leiche gezeigt. Auch hier blieb er ruhig und unbefangen und erklärte, er kenne den Körper der Unglücklichen nicht, noch wisse er, was es bedeuten solle.
Um Ende Januar ließ er um ein Verhör bitten, aber der Richter hatte sich getäuscht, wenn er auf ein Geständniß hoffte. Rauschmeier bat nur, da er nicht wisse, warum er so lange in Haft gehalten werde, daß man ihn doch entlassen möchte.
Schon am folgenden Tage bekannte er indessen – daß er durch das Ausbleiben seiner Hausfrau sich verlocken lassen, viele ihrer Sachen an sich zu nehmen. Ja, er müsse es bekennen, sein Gewissen lasse ihm keine Ruhe, daß er ein Dieb sei. Er gab mit derselben Offenheit, die er bis da zur Schau getragen, alle diese Gegenstande genau bezeichnet zu Protokoll, und gestand auch, daß seine Geliebte diese Sachen mit seinem Wissen und Willen fortgetragen habe.
Nach diesem, wie es schien, letzten treuherzigen Bekenntniß schien alle Aussicht auf weitere Ermittelung vorüber. Es stand nichts gegen ihn fest, als daß er die Ermordete zuletzt gesehen, daß er unterlassen, ihr Verschwinden zeitig anzuzeigen, daß er bei der Gemeinschaft mit der Ermordeten, bei der einsamen Lage ihrer Wohnung, die Mittel in Händen gehabt, sie umzubringen, daß ihre Gliedmaßen zum Theil in seiner Schlafkammer versteckt gefunden waren, und daß er ein geständlicher Dieb war. Aber ein Dieb, der noch dazu offen bekennt, daß er es ist, ist um deswillen noch keine Person, zu der man sich einer Mordthat unbedingt versehen kann, und es fehlte an Zeugen für die That sowol, als für gefährliche Aeußerungen und Nebenumstände, welche auf dieselbe zurückschließen ließen.
Und doch hatte der Richter die moralische Ueberzeugung. Sie wurde noch durch einen andern Umstand unterstützt. Unter seinen Sachen hatte man eine schlechte Brieftasche gefunden, in welcher, außer andern Papieren eine Urkunde sich befand, die auch sonst schon der Polizei bekannt war. Eine, in Patentform, zu Köln am Rhein gedruckte Urkunde, oben mit vielen Heiligenbildern geziert, welche einen angeblich »von Jesus Christus selbst geschriebenen, durch den Engel Michael zur Erde herabgesandten » Freibrief für alle noch so greulichen Sünden und Verbrechen« enthielt. Das Document lautete: » Copia oder Abschrift des Himmel-Briefs, So Gott selbsten geschrieben, und auf St. Michelsberg in Britania vor St. Michaels Bild hängt, und Niemand weiß, woran er hängt, welcher mit goldenen Buchstaben geschrieben, und von dem heiligen Engel St. Michael dahin gesandt worden, und wer diesen Brief will anrühren, von dem weicht er, wer ihn aber will abschreiben, zu dem neigt er sich, und thut sich gegen ihn auf.«
Im Briefe selbst schärft Christus allen Gläubigen ein, ja gehörig den Sonntag zu feiern, ordentlich ihre Messe zu hören, an keinem Aposteltage zu arbeiten u. s. w. Dann aber verheißt er ihnen: »Ich sage Euch durch den Mund » meiner Mutter, der christlichen Kirche,« und durch das Haupt Johannes, meines Täufers, daß ich wahrer Jesus Christus den Brief mit meiner göttlichen Hand geschrieben habe. Diesen Brief soll Einer von dem Andern abschreiben, und wer so viel Sünden gethan hätte als Sand am Meere, und so viel Laub und Gras auf Erden ist, und auch so viel Sterne am Himmel, wenn er beichtet und hat Reue und Leid über seine Sünden, so wird er davon entbunden. Wer einen solchen Brief in seinem Hause hat, oder bei ihm trägt, der soll von mir erhört werden, auch kein Donner noch Wetter mag ihm schaden. Welche schwangere Frau diesen Brief bei ihr trägt, die bringt eine liebliche Frucht auf die Welt. Haltet meine Gebothe, so ich euch durch den heiligen Engel Michael gesandt und kund gethan habe. Ich, wahrer Jesus Christus. Amen.«
Dieses schändliche Document des Aberglaubens, das seiner Zeit mehrmals zur gerichtlichen Cognition kam, und wahrscheinlich auch noch heute vorkommt, ist nicht das einzige der Art; welches man in einigen Theilen Deutschlands bei Verbrechern vorfindet. Feuerbach, aus dessen zweitem Theile wir diesen Fall entnehmen, erwähnt eines ganz ähnlichen, wahrscheinlich aus derselben Fabrik, welches man unter den Habseligkeiten eines Betrügers vorgefunden. Es bestand aus einem zusammengeklebten, einen Zoll breiten und sechs Fuß langen, bedruckten Papierstreifen, betitelt: Wahre Länge des Leibes unseres Herrn und Heilands Jesu Christi. Diese wahre Länge verhieß Demjenigen, der sie besaß und bei sich trug, im Namen Gottes dieselben Wirkungen wie jener Himmelsbrief.
Wer einen solchen Schutzbrief gegen die Strafe für Verbrechen bei sich trägt, ist zwar vor dem Richter kein Verbrecher, aber vor dem moralischen Urtheil ist er ein Mensch, zu dem man sich böser Absichten wol versehen kann.
Der Untersuchungsrichter ging mit Umsicht zu Werke. Statt auf den Mord weiter zu inquiriren, ließ er diesen ganz fallen, schien es jetzt nur mit dem eingeräumten Diebstahl zu thun zu haben und legte dem Inquisiten allein darüber Fragen vor. Man breitete vor ihm nach einander alle der Holzmann gestohlenen Kleidungsstücke, die wieder eingezogen worden, aus, und er erkannte sie sämmtlich an. Aber unter die letzten ihm vorgelegten Effecten hatte man auch verschiedene kleine Schmucksachen, die sich in seiner Wohnung gefunden, und von denen es zweifelhaft war, ob sie der Ermordeten gehört, eingemischt. Darunter waren zwei Ohrringe, zwei goldene Reifchen und – der messingene Ring, den die Leiche in ihrem linken Arm gepreßt hielt. Der Richter schien das Protokoll schließen zu wollen, indem er die Miene machte, als werde Rauschmeier, nachdem er so viel eingestanden, keinen Anstand nehmen, auch die Entwendung dieser kleinen Schmucksachen einzuräumen.
»Nein,« rief aber der Inquisit plötzlich aus in einer Anwandlung von gekränktem Rechtsgefühl, »die sind meine.« Der Richter schien ihn ermahnen zu wollen, nicht plötzlich wieder in seinem guten Drange inne zu halten und die Wahrheit zu verbergen. Aber Rauschmeier fuhr mit Heftigkeit zu betheuern fort, daß die Ohrringe, die Reifchen und der Messingrmg sein waren. Den Messingring habe er immer getragen, bis vier oder fünf Wochen nach Ostern und dann erst habe er die goldnen Reifchen sich angesteckt. Als der Richter den Kopf schüttelte, rief er aus, er könne sich selbst davon überzeugen, der Messingring müsse ihm an dem rechten kleinen Finger passen. Er steckte ihn auf, der Ring paßte, jedoch so, daß er sich leicht am Finger hin- und herschieben ließ.
Der Ring hatte den Mörder verrathen. Es ward zur Specialuntersuchung gegen denselben, sowie gegen den andern Schlafburschen Steiner und die Geliebte des erstern, Elisabeth Ditscher, geschritten.
Rauschmeier blieb in den Verhören zuerst bei seinem unbefangenen Leugnen, und berief sich auf seine Wahrhaftigkeitsliebe, indem er ja von freien Stücken den Diebstahl eingestanden habe, dann antwortete er schwankend, stockte, erröthete und erblaßte, als ihm der Richter den Umstand mit dem Messingringe vorhielt; endlich beim dritten Verhöre brach er in ein heftiges Weinen aus, fiel auf die Knie und rief: »Herr Commissair, ich sehe, Sie meinen es gut mit mir, Sie haben mir neulich so gut zugesprochen; ich will meine Schuld nun aufrichtig bekennen.«
Er hielt sein Wort und legte das vollständigste Bekenntniß ab. Zu unseren Zwecken kommt es uns weniger auf die verbrecherische Vorgeschichte seines Lebens an, welche Feuerbach in anderem Interesse ausführlich mittheilt, und aus der wir nur entnehmen, daß er von den Kinderjahren an ein Taugenichts, Herumtreiber und Verbrecher war, indem er die ganze Schuld seiner Verderbniß auf seine schlechte Erziehung schreibt. Die eigene Mutter und die eigene Schwester zeugten gegen ihn, mußten aber den Vorwurf hinnehmen, daß sie es mit gewesen, die ihn durch den Mangel jeder guten Anweisung dem Laster und der Verworfenheit in die Arme geliefert hatten. Das Beindrechslerhandwerk hatte er zu München gelernt, daher seine erste Kenntniß, wie man Knochen und Glieder geschickt zerschneiden könne. In den östreichisch-französisch-baierschen Kriegen von 1805 bis 1809 hatte er bald auf der einen, bald auf der andern Seite gedient, war von drüben nach hüben und von hüben nach drüben desertirt, je wie Laune und Vortheil ihm winkten, ohne dieses Verbrechens wegen betroffen und bestraft zu werden. Dagegen kannte er das Zuchthaus, weil er seinen Officier in Warschau bestohlen; die hohe Schule des Lasters, der Roheit und kaltherzigen Gefühllosigkeit hatte er aber auf dem Rückzug des französischen Heeres von Rußland 1812 durchgemacht. Die Berezina, der Dienst in den dortigen Spitälern hatte ihn völlig entmenscht.
Aus dem Zuchthause war er nach Augsburg zurückgekehrt, wo er sich beinahe zwei Jahre abwechselnd als Beindrechslergeselle, als Aushelfer in einer Steindruckerei, als Holzhacker oder als Tagelöhner beim Straßenbau ernährt hatte. »Aber,« sagte er, »ich habe halt immer Geld gebraucht, Kleider wollt' ich mir anschaffen, und im Essen und Trinken wollt' ich mir auch nichts abgehn lassen. Das kam daher, daß ich in meiner Jugend gar zu sehr vernachlässigt worden, und da mußt' ich so tief fallen.«
Die Holzmann hatte so schöne Sachen und so vieles Geld vermuthete er bei ihr. Sein Entschluß, sie umzubringen, hatte ihm nicht viel Kopfbrechen gekostet. Nur über die Art sann er nach, und entschied sich nach einer kurzen Wahl für das Erdrosseln, weil er glaubte, daß dies die leichteste Todesart sei, weil er wußte, daß das Erdrosseln gar keinen Lärm und keine Blutspuren macht, und weil er im Spitale in Rußland die Aerzte öfters sagen gehört hatte: daß ein erdrosselter und erstickter Körper wenig Blut gebe, wenn man ihn vertheile.
Acht Tage vor dem Charfreitage war der Entschluß fertig und seitdem hatte er keine Ruhe mehr. Zuweilen beschlich ihn wol der Gedanke, es aufzugeben, aber er war nicht ernstlich. Am Charfreitag Morgen, als alle Hausleute in der Kirche waren, auch der andere Schlafbursche Steiner war fortgegangen, winkte ihm die Gelegenheit. Es war todtenstill im Hause, Niemand in den obern Räumen, nur die Holzmann und er. Da überwältigte es ihn und im Augenblick war es geschehen. Er trat in die Stube der Holzmann, und ohne ein Wort zu sprechen, fiel er über sie her, als sie gerade nach dem Bette ging, und warf sie darauf nieder. Es ist hier werth, seine eigenen Worte herzusetzen: »Ich legte mich mit meinem ganzen Körper über sie her, faßte sie mit beiden Händen bei der Gurgel und drückte ihr mit beiden Daumen das Zäpfchen (den Kehlkopf) ein. So drückte ich auf ihre Gurgel etwa vier oder fünf Minuten lang, und dann war sie erdrosselt, ohne daß sie Widerstand hätte leisten können. Sie muß auch gar nicht viel Schmerzen gehabt haben, weil sie ohnehin schwächlich war und keinen Laut von sich gegeben hat.«
Als er merkte, daß sie todt sei, ließ der Canibale den Körper auf den Stubenboden sinken. Sein erstes Geschäft war nun, den schon geöffneten Kasten zu durchsuchen. Aber statt des Geldtopfes fand er an baarem Gelde nicht mehr als – acht Kreuzer und zwei Pfennige! Alle Nachforschungen waren umsonst. Die Alte hatte keine Schätze. Um acht Kreuzer und zwei Pfennige und einige Kleidungsstücke hatte er sie ermordet!
Nun galt es, die That zu verheimlichen. Schon nach einer Viertelstunde war die Todte kalt. Er schleifte sie aus der Stubenthür hinaus auf den untern Boden, auf den die Stube öffnete. Um den Leichnam, dessen Kopf stark gewackelt hatte, leichter auf die Seite zu schaffen, ging er an dessen Zergliederung mit einem Messer. Möchten zarte Leserinnen, deren Aufmerksamkeit etwa auch dieser Fall erregt hatte, hier seine Schilderung überschlagen, wie er an dies Werk ging; für den Criminalisten und Psychologen ist sie aber so charakteristisch, daß wir seine eigenen Worte herzusetzen uns gedrungen fühlen: »Ich habe in Rußland im Spitale gar viele Leichname zertheilen sehen und dabei aufgemerkt. Erst streckte ich die Holzmann auf dem Boden aus, kleidete sie aus, und schnitt nun zuerst mit meinem Messer in die rechte Schulter und um das Gelenk rund herum, bis ich den Knochen sah; dann drehte ich den ganzen Arm aus und legte ihn neben dem Leichnam hin. Hierauf schnitt ich in die andere Schulter rund um das Gelenk herum, drehte den linken Arm ebenso heraus und legte ihn auch wieder neben hin. Nun schnitt ich mit demselben Messer ganz rund herum in die rechte Hüfte, bis ich Knochen und Gelenk sah, drehte mit beiden Händen den rechten Schenkel aus dem Gelenke und legte ihn nebenhin auf den Boden. Ganz auf die nämliche Weise schnitt ich die linke Hüfte und drehte ebenso den linken Schenkel aus dem Gelenke. Endlich schnitt ich mit dem nämlichen Messer rund herum und tief in den Hals, bis ich das Halswirbelbein sah. Da sich der Kopf nicht lostrennen wollte, so drückte ich ihn mit Gewalt ab. Es krachte, und ich brauchte nur noch einen kleinen Schnitt in das Halsgelenk zu machen, und der Kopf war losgetrennt; doch blieben daran noch einige Halswirbelbeine. Nun war Alles fertig, und ich hatte dazu nicht viel mehr als eine Viertelstunde gebraucht.«
Die einzelnen Gliedmaßen verbarg er ohne viele Mühe da, wo sie später gefunden wurden, und Abends um 10 Uhr warf er den Kopf, eingewickelt in einen alten Schurz, in den Lechkanal, sammt dem Messer, welches ihm bei der ganzen Operation gedient hatte. Jedoch hatte er vorher die Ohrringe aus den Ohren gerissen. Seine nächste Sorge war, die Kleidungsstücke und andere Effecten aus dem Hause zu schaffen, was ihm leicht gelang. Um Wegschaffung der andern Gliedmaßen scheint er sich gar nicht gekümmert zu haben. Mochten sie in dem Hause verdorren; wenn man sie dereinst auffand, war er längst daraus. Aber die ganze Einrichtung des wüsten Hauses selbst mochte ihm Sicherheit vor der Entdeckung verheißen, wie sie denn wirklich erst, fast nach Jahresablauf, zufällig bei einer großen Wäsche aufgefunden wurden.
Als er am Morgen des Chaifreitags, schon gegen 10 Uhr, mit seiner Blutarbeit ganz fertig war, ging Rauschmeier in – die Kirche. Welcher andächtige Kirchenbesucher in St. Moritz hätte in seinem Nachbar, der hinter dem Pfeiler seinen Rosenkranz abbetete, einen Raubmörder vermuthet, der von der frischen That kam; mehr noch, von dem systematischen Zerschneiden und Zerreißen des Körpers einer armen Frau, die ihm nichts zu Leide gethan, und er hatte nicht gezittert und geschaudert. Doch, dies räumte er später ein, trotz des Geschicks, mit welchem er die Glieder zerlegte, hatte er am ganzen Leibe gezittert. Auch in der Kirche konnte er nicht beten. Reue, Gram und Angst durchschüttelten ihn! Abends besuchte er noch die heiligen Gräber. Auch da ward ihm nicht wohl. »Ich wußte wol, daß die Ermordung der Holzmann ein großes Verbrechen war,« gestand er später ein, »aber mir fehlte zu sehr Geld, und mich verlangte zu sehr danach, auch schien es mir sehr gelegen, und am wenigsten schwierig, durch die Ermordung der Hausfrau mir Geld zu verschaffen.« Aber seit der Zeit, versicherte er, habe er keine rechte Freude mehr gehabt.
Nach dem Geständniß blieb er ganz ruhig. Er bezeugte trotz seiner naiv rohen Antworten, welche die ungeschlachte Natur des Canibalen nicht verleugnen konnten, viel Reue und verfiel bei den Verhören oft in ein lautes Weinen und Schluchzen. Dann klagte er fortwährend seine schlechte Erziehung an. Wäre die nicht so gewesen, dann würde er heut kein Raubmörder sein.
Feuerbach schließt seine Schilderung dieses Verbrechers mit der Bemerkung, wie Rauschmeier den Beweis liefere, daß noch mitten in Europa Menschen leben, die an geistiger wie sittlicher Roheit und exemplarischer Bestialität den Wilden auf Neuseeland, oder den Botokuden in Brasilien wenig nachgaben.
Rauschmeier ward in zwei Instanzen gleichförmig zum Tode durch Enthauptung verurtheilt. Die Verschärfung dieser Strafe durch Ausstellung am Pranger ward jedoch im Wege der Gnade erlassen.
Wir haben noch einer Episode dieses Processes zu erwähnen, die beachtenswerthe Winke für den Psychologen liefert, auch eine ernste Warnung für den Criminalrichter. Außer Rauschmeier war der andere Stubenbursche Joseph Steiner und die Geliebte des Erstern als verdächtig mit zur Untersuchung gezogen. Die Schuld der Letzteren bestand, wie sich bald ergab, nur darin, daß sie behülflich gewesen, die gestohlenen Gegenstände zu verkaufen. Sie kam mit einer geringfügigen Strafe davon. Anders und schwieriger stellte sich das Verhältniß Steiners zur Hauptsache.
Dieser Mensch machte dem Untersuchungsrichter viel Kopfbrechen. An Stumpfheit des Sinnes, an Mangel jeder Erziehung und Bildung stand er noch tief unter Rauschmeier. Bei seiner ersten Vernehmung nach dem Verschwinden der Holzmann mußte seine Vereidung unterbleiben, weil er (34 Jahre alt!) durchaus unvermögend war, den Begriff und die Bedeutung eines Eides zu fassen; ja der Richter machte über ihn die Bemerkung, daß er auf der niedrigsten Stufe der Cultur zu stehen und kaum eines Begriffs fähig scheine. Er sei ganz stumpfsinnig und die Antworten hätten nur mit Mühe aus ihm herausgebracht werden können.
Auch als er im folgenden Jahre, nach der Auffindung des corpus delicti, mit Rauschmeier zugleich verhaftet wurde, bemerkte der Richter zu Protokoll, sein ganzes Benehmen zeige von außerordentlicher Verstandesschwäche und man müsse bis auf die ersten Anfangsgründe des Wissens herabsteigen, um sich ihm verständlich zu machen.
Anfänglich hatte er alle und jede Theilnahme und Wissenschaft an dem Verbrechen abgeleugnet, aber plötzlich trat er unaufgefodert, – er sollte nur über seinen eigenen Status der Form wegen vernommen werden, – mit einer langen und breiten Erzählung hervor, in der er gewissermaßen zu einem Belastungszeugen gegen Rauschmeier sich machte.
Danach war er an dem verhängnißvollen Charfreitage Abends zwischen 10 und 11 Uhr nach Hause gekommen, und hatte seiner Hausfrau wie gewöhnlich eine Gute Nacht wünschen wollen. Aber er fand sie nicht im Bette, glaubte, sie sei nicht nach Hause gekommen und legte sich daher ruhig in seines. In der Nacht hörte er nun über sich, auf dem obern Boden, einen starken Fall oder Schlag, auch kam es ihm vor, als ob man etwas hin und her ziehe. Am folgenden Tage, am Sonnabend, kam er eben so spät nach Hause. Sein Camerad öffnete ihm. Er wollte wieder zur Hausfrau gehen, aber der Camerad ließ ihn nicht hinein, sondern schaffte ihn mit dem Lichte sogleich in die Schlafkammer. Kaum lag er hier im Bette, so tropfte ihm etwas von oben auf die Nase. Er drehte sich um und legte sich auf das Gesicht. Da tropfte es ihm auf den Rücken Morgens, als es Tag wurde, sah er nach, und es waren Blutstropfen. Er fragte seinen Cameraden Rauschmeier, wo das wol herkäme? Der aber sagte, er wisse nichts, es bedeute auch nichts. Anfangs gab er sich zufrieden und dachte nicht weiter darüber nach. Als ihm aber auf dem Kirchhof die zusammengelegten Glieder seiner Hausfrau gezeigt wurden, da kam ihm der Gedanke, der Rauschmeier werde sie wol umgebracht haben.
Der Richter bemerkte bei dieser Aussage im Protokoll, Steiner habe diese Aussage ziemlich faßlich und zusammenhängend vorgetragen, und dabei gezeigt, daß er mehr Verstand besitze, als es den Anschein habe.
Drei Wochen später, bei einem andern Verhör, erklärte er auf die Frage: ob er noch etwas anzubringen habe: »Ja, mir ist noch was eingefallen. Ich habe halt ein schlecht Gedächtniß. Letzthin werde ich mich wol geirrt haben. Ein Roß stolpert mit vier Füßen, ich darf also auch stolpern.« Jetzt gab er an: schon Nachts am Gründonnerstage sei ihm das Blut auf die Nase und auf den Rücken getropft. Am Charfteitag in der Frühe sagte er zu Rauschmeier: »Du wirst doch um Gotteswillen die Hausfrau nicht umgebracht haben.« Da drohte ihm Rauschmeier mit Todtschlagen, wenn er von Blut, oder sonst was von der Hausfrau rede. Der Camerad hob dabei einen Knotenstock: »Sieh, mit dem schlage ich dich todt, wenn du was sprichst.« Er versicherte nun dem Commissair, er dürfe es gewiß glauben, daß der Camerad die Hausfrau umgebracht, der wäre ein starker, kecker Kerl. Er habe es gleich gemerkt, nur weil der Camerad ihm halt so gedroht, und er für sein Leben gefürchtet, habe er das Maul gehalten.
Bei der Fortsetzung des Verhörs fiel ihm immer mehr ein. Am Ostersonntag hatte er das Blut ziemlich gut aufgeputzt gefunden, und zwar mußte es mit seinem alten Hemde geschehen sein, weil er dasselbe ganz mit Blut durchnäßt in einer Ecke der Schlafkammer gefunden. Der Camerad hatte das gewiß mit Fleiß gethan, um den Verdacht des Mordes auf ihn zu schieben. Endlich fiel ihm noch ein, daß der Camerad 8 bis 14 Tage vor dem Charfreitage mit der Hausfrau im Scherze gerungen hatte, vermuthlich um zu erfahren, wie stark sie sei. Schon damals habe er also gewiß im Kopfe gehabt, sie umzubringen. »Denn umsonst thut man nichts; man spielt eine Komödie erst alsdann, wenn die Probe gut ausgefallen ist.«
Später entsann er sich noch mehr. Etwa 8 Tage nach Ostern war er mit Rauschmeier in einem Wirthshause gewesen. Da hatte ihm dieser einen silbernen Fingerring und ein Paar Ohrringe zum Geschenk angeboten, damit er nichts von dem Blute und der Hausfrau sage. Er hatte sie aber nicht angenommen.
Wenn ein Mensch von so dürftigen Geisteskräften diese Indicien vorbrachte, so konnte es wol Niemand in den Sinn kommen, daß seine Phantasie mitgespielt habe. Er gab nur Das wieder, was er wirklich erfahren. Es konnte Niemand einfallen, daß er böswillig einen Andern denunciren wolle. Und Alles, was er angab, stimmte, bis auf wenige Irrthümer, die als Gedächtnißfehler gelten konnten, mit dem sonst Ermittelten. So lange Rauschmeier leugnete, war Steiner also ein gefährlicher Zeuge gegen ihn. Und wäre er beim Leugnen geblieben, ja wenn er zufällig unschuldig war, so hatte dieses Zeugniß ein Gewicht bekommen, in Verbindung mit den andern Indicien, welches eine Verurtheilung, möglicherweise einen Justizmord zur Folge haben können.
Aber Rauschmeier gestand Alles ein, er nahm die That und deren Wissenschaft allein auf sich, er erklärte auf das Bestimmteste, daß er gegen Niemand ein Wort, einen Wink fallen lassen, woraus derselbe auf sein Verbrechen hätte schließen können. Auch gegen Steiner nicht? Er erklarte feierlich, daß Steiner sowol als seine Geliebte, durch ihn wenigstens keine Ahnung davon hätten haben können. Beide seien völlig rein, sowol von Schuld als Wissenschaft. Nun hielt man ihm Steiners eigene Aussage vor.
Rauschmeier zeigte die äußerste Ueberraschung und gerieth sogar in eine heftige Entrüstung. Er rief: das lüge der Kerl in seinen Hals hinein. Er habe nie mit ihm ein Wort darüber gesprochen; er habe nie geahnet und glaube es auch heute nicht, daß der Steiner die geringste Witterung von der Sache gehabt. Wenn es wäre, warum sollte er es nicht sagen? Aber der Kerl lüge den ganzen Tag über.
Welche moralische Beweggründe konnte ein so reumüthig bekennender Bösewicht wie Rauschmeier haben, einen Nebenumstand zu verschweigen und so hartnäckig abzuleugnen, welcher auf die Beurtheilung seiner Straffälligkeit nicht den geringsten Einfluß hatte? Welche zarte Rücksicht für Steiner konnte ihn bewegen, die Schuld der halben Mitwissenschaft, zu welcher dieser sich bekannte, in Abrede zu stellen? Welche Motive aber konnten Steiner bewegen, den Andern anzugeben und zugleich einen Makel auf sich zu laden, daß er darum gewußt, und es aus Furcht verschwiegen? Räthselhaft erschien die Sache vom criminalistischen, wie vom psychologischen Standpunkte aus.
Jetzt war Steiner der Inquisit geworden, und der Richter nahm ihn ernsthaft in einem Verhöre vor, in welchem er ihn auf die mannichfachen Widersprüche seiner eigenen Aussage und mit der seines Cameraden aufmerksam machte. Steiner änderte auch sogleich mit derselben Naivetät seine bisherigen Angaben: »Ja, ich bin halt ein rechter Ochs und sage gar viel daher, was nicht recht ist. Muß wirklich um Verzeihung bitten, daß ich so viel gelogen habe. Ich habe mir halt denkt, der Camerad könnte die Hausfrau umgebracht haben, und auf mich hat man den Verdacht, ob ich doch ganz unschuldig bin. Da hab' ich nun allerlei daher gesagt, was mir einfallen ist, um meinen Verdacht gegen den Cameraden zu bestärken, und daß ich Sie von meiner Unschuld überzeugen thäte.«
So jetzt Steiner! Er versicherte jetzt, daß Alles, von dem Tröpfeln des Blutes auf Nase und Rücken, von einem Fallen- und Rutschenhören, von dem blutgetränkten Hemde, von seinen Reden gegen den Rauschmeier und von dessen Drohungen, von dem Versprechen eines Geschenks und alles Andere rein erlogen sei. Gehört und gesehen habe er nichts; aber freilich wol vermuthet, daß der Camerad die Hausfrau könnte umgebracht haben, und daß sie auf dem kleinen Flur liegen möchte. »Da habe ich mir nun gedenkt, wie Alles gegangen sein könnte, und wie ich mir es halt gedenkt habe, so habe ich es Ihnen erzählt. Wie mir nun Alles so eingefallen ist, bald hätte ich selbst Alles geglaubt. Verzeihen Sie halt meiner Dummheit; ich bin aber ein Ochs, ein Esel und ein Stier.«
Diese Erklärung ist viel werth; wer wollte an ihrer Wahrhaftigkeit zweifeln? Sie erklärt die wunderbar klingenden, übereinstimmenden Zeugenaussagen in so vielen Processen, die schnurstracks der Wahrheit entgegen abgegeben und mit heiligen Eiden betheuert wurden. Die Zeugen, entzündet von einem Glauben, daß es so sei wie sie dachten, steigerten diesen Glauben, weil er der allgemeine war, bis zur Ueberzeugung, und bezeugten als wirklich, was ihre Phantasie sich als wahr vorgestellt. Man denke an den Proceß Fualdes, Pivardière u.A., auch an den im folgenden Theile enthaltenen vom jungen Herrn v. Caille, und wenn man diesen psychischen Proceß genauer durchgeht, wird man erkennen, daß man nicht jedesmal in solchen Fällen nöthig hat, an einen baaren, wissentlichen, schändlichen Betrug zu denken. Es wird, in den meisten sogar, ein dämonischer Selbstbetrug sein.
Das Dämonische aber war unserm Joseph Steiner fremd. Seine dürftige Natur strengte sich zum Compliciren nicht an; er griff nur auf, was ihm zunächst dalag und zu einem nächsten Zwecke. Weshalb dann die Lüge? Geradezu sagte er es heraus: er hätte geglaubt, er erweise dem Herrn Richter einen Gefallen, wenn er gegen Rauschmeier Das sage, was er sich eingebildet!
Feuerbach macht hier die Bemerkung, Steiner diene zum Beispiel, daß es Menschen gibt, die nur für das Wahre dumm sind, aber für die Unwahrheit Verstand genug übrig haben. Aber auch zum Beispiel, welche furchtbare Macht ein Inquisitionsrichter im geheimen Verfahren über das Gemüth eines Verhafteten ausüben kann. Aus Gefälligkeit gegen den Richter sagt er aus, was er nicht weiß, was er nur vermuthet, und bringt aus derselben Gefälligkeit Lügen vor, ohne böse Absicht, welche einen andern Menschen auf das Blutgerüst bringen können!
Joseph Steiner ward von aller Strafe freigesprochen.

Quellen: Alexis / Hitzig - Der neue Pitaval - Band 7



4. Das Gelöbniss der drei Diebe -1843

Der Winter zu Ausgang des Jahres 1843 zeichnete sich in Berlin durch häusige und mit besonderer Verwegenheit unternommene und ausgeführte Verbrechen gegen das Eigenthum und die persönliche Sicherheit aus. Die Witterung war rauh, der Verdienst gering, und die Strafanstalten hatten gerade damals, wie in der Regel im Spätherbst, eine große Anzahl von Sträflingen, welche ihre Strafzeit überstanden, entlassen. Die Mehrzahl jener Verbrechen mußten von den erfahrensten und gewitzigsten Dieben der Residenz begangen sein, so schlau und kühn, mit genauer Kenntniß der Verhältnisse und Verachtung der Gefahr wurden sie ausgeführt. Berlin zitterte; man verwahrte sich mit doppelten Schlössern, Riegeln und Eisengittern Schränke, Thüren und Fenster mit rasselnden Musikwerken wurden ausgeboten, Privatwächter bestellt und die wachsame Policei war in beständiger Aufregung, ohne doch ihrem Zwecke genügen zu können! Die Nachrichten in den Zeitungen von immer neuen, kühneren Einbrüchen halfen mehr den Schreck zu vergrößern, als Auskunftsmittel gegen das Uebel zu entdecken. Als einige dieser frechen Gesellen in einer der frequentesten Straßen, Nachts, vermittelst einer Leiter, vor der Hausfronte angelegt, und Eindrückung der Fensterscheiben in dem Stockwerk, eine Treppe hoch, eingestiegen waren, den Innehaber der Wohnung in seiner Schlafstube eingeschlossen, die werthvollen Sachen ausgeräumt hatten, und auf demselben Wege mit ihrer Beute ungestört wieder abgezogen waren, erschien eine jener Caricaturen, durch welche der berliner Volkswitz in so ätzender Weise seine Kritik über öffentliche Angelegenheiten an den Tag legt. Ein Dieb steht auf einer Leiter, um ins erste Stockwerk einzusteigen. Seine Cigarre ist ihm ausgegangen und er bittet einen vorübergehenden Gensd'armen um Feuer.
Der Policei gelang es endlich, die gefährlichsten dieser Verbrecher wieder zur Haft zu bringen. Doch ist nicht bekannt geworden, ob besondere Umstände, oder eine eigenthümliche schlaue Association des berliner Raubgesindels dabei zu Tage kamen. Ebensowenig scheint es, daß die damals entdeckten Verbrechen ein besonderes criminalistisches Interesse in Anspruch nähmen. Auch der Fall, welchen wir hier unsern Lesern mittheilen, hat in dieser Beziehung keine Rechte zur Aufnahme in unsern Pitaval; wol aber in psychologischer Beziehung durch das vollständige Bekenntniß eines reumüthigen Sünders und die wunderbare Nemesis, welche dabei obwaltete. Jenes Bekenntniß führt uns recht anschaulich in die eigentliche Lasterschule, aus welcher die großen Verbrecher unter unsern heutigen Straßendieben hervorgehen, und gibt manche Winke, zu deren Bekanntmachung beizutragen wir zwar nicht als den Hauptzweck unseres Werkes erkennen, doch aber als einen, der von höherem sittlichen Standpunkte aus gerechtfertigt ist. Der psychische Faden dieser einfachen Geschichte ist nicht aus den Acten, sondern aus den Berichten des bei der Strafanstalt wirkenden Arztes entnommen, die Acten selbst bestätigen jedoch alle darin vorkommenden Thatsachen. Bei einem Falle, welcher sich jüngst erst ereignet und wo die betreffenden Personen noch am Leben sind, geben wir keine Namen, was uns umsoweniger nöthig scheint, als dieses Interesse hier ganz in den Hintergrund tritt.
Der Diener einer vornehmen Familie in Berlin trat am Abende des 2. December 1843 in einen Branntweinladen und foderte ein Glas Liqueur. Der Wirth, bei dem er ein älterer Kunde war, befragte ihn, warum er sich so lange nicht eingefunden? Der Diener, in reicher Jägerlivree, klagte über das Jammerleben, das er zu führen habe, tagaus, tagein im Frohndienste, seine Fräuleins, die Herrschaft, von Morgens bis Abends in die Putzläden, zum Juwelier, zu Besuchen begleiten zu müssen; dann nach dem Dienst im Hause ins Concert, ins Theater! Ein ordentlicher Mensch wisse gar nicht, wo einem der Kopf stehe, vor dem vielen Laufen, Rennen, Bestellen und Befehlen. Heute sei es aber kaum auszuhalten – wozu er vermuthlich der Stärkung bedurfte – denn das älteste gnädige Fräulein mache Hochzeit. Alles Silberzeug habe hervorgeholt und geputzt werden müssen. Eben jetzt müsse er noch zum Goldarbeiter, um einen Armleuchter zu holen, der dort in Arbeit sei! Der Jäger ging, nachdem er die Hoffnung ausgesprochen, daß, wenn der schwere Tag vorbei, wol wieder etwas Ruhe eintreten werde.
Ein Mensch in abgetragener Kleidung im Winkel der Stube, aber ein alter und guter Kunde des Ladens, fragte den Wirth, wer der Jäger sei? Der Wirth nannte den Namen und die Herrschaft, bei welcher der Jäger diene, und setzte hinzu, daß sie ungeheuer reich und freigebig sei; der Dienstbote habe es da gut. Der Fragende stieß einen Fluch aus: »Ja, wer hat, bei dem liegt's in Haufen!« Er brummte über die ungerechte Vertheilung der Güter und zog sich auf eine Bank im Hintergrunde zurück, wo er mit noch zwei andern Gästen seines Schlages ein leises Gesprach pflog. Dann bezahlten alle Drei und verließen zugleich den Schenkladen.
Im Dunkel der Straße setzten sie ihr Gespräch fort. Der Eine sagte leise: » Ich will des Teufels sein, komme ich nicht.« – Der Zweite: » Bruder, verlaß Dich auf mich; wenn ich nicht das Bein breche, so komme ich.« – Der Dritte sagte: » Und soll mich's zehn Jahr kosten, ich bin dabei.«
»Schlag 2 Uhr, wenn der Wächter vorbei!« war das Losungswort, unter welchem sie sich trennten.
Das Haus, in welchem die Herrschaft des Jägers wohnte, stieß mit seinem Hintergebäude auf eine Gasse, von welcher aus die Diebe ihren Einbruch bewerkstelligten. Kein Wächter störte sie, als sie mit dem Schlage 2 nach Mitternacht eine mitgebrachte Leiter an ein Fenster der obern Etage setzten. Der Vorderste drückte ohne Geräusch die Scheibe ein und öffnete das Fenster, durch welches alle Drei demnächst stiegen; zu ihrem Zwecke mit Aexten, Nachschlüsseln und Säcken versehen. Der Letzte zog die Leiter nach sich herein und lehnte sie auf dem Gange, wo sie sich befanden, an die Wand.
Mit der Localitat des Hauses vertraut, schlichen sie auf dem Gange fort, bis zu einer Treppe, welche nach dem Hofe führte. Ueber den Hof gingen sie ins Vorderhaus. Die Hofthüre war nur angelehnt. Erst die Glasthür des Vorsaals fanden sie verschlossen. Mittels eines Dietrichs ward sie leicht geöffnet. Nicht mehr Schwierigkeit stellte ihnen die Flügelthür entgegen, welche zu dem großen Saale führte, wo das Hochzeitsmahl gefeiert worden. Alles war tief still, als sie ihre Diebeslaterne anzündeten, und bei deren mattem Schein auf der noch unabgeräumten langen Tafel den ganzen Reichthum an Silbergeschirr entdeckten. Freudig erstaunt griffen sie hastig, doch ohne den geringsten Lärm zu machen, zu, und warfen und stopften in die Säcke, was ihnen werthvoll schien und darin Platz hatte. Auch dies Werk war vollkommen gelungen und mit leisen Schlitten machten sie sich auf den Rückweg.
Derselbe Jäger, welcher in unbewußtem Uebermuthe der Verräther seiner Herrschaft geworden, war inzwischen erwacht, nicht durch das Geräusch, sondern durch einen kalten Luftzug, der über sein Gesicht strich. Er schlief in dem Hinterhause; seine Kammer ging auf den Gang. Der Luftzug kam aus der zerbrochenen Scheibe. In der Meinung, daß er oder ein Anderer ein Fenster aufgelassen, sprang er auf, um es zu schließen. In der Dunkelheit tappend, stieß er an eine Leiter, die nie hier gestanden hatte. Seine bloßen Füße traten auf Glasscherben, und beim nächsten Blick bemerkte er die eingeschlagene Scheibe.
Schnell bewußt, was es hier gab, und rasch entschlossen, sprang er nach der Kammer zurück, riß den Hirschfänger aus der Scheide, und war schon auf dem Gange, als er die Diebe die Treppe heraufkommen hörte. Muthig stürzte er ihnen entgegen: Diebe! Diebe! schreiend. Sie warfen ihre Säcke fort. Der Eine schwang seine Axt und wollte auf den Jäger losgehen. Geschickter aber hatte dieser bereits, ehe jener seine schwere Waffe brauchen konnte, ihm mit der Klinge einen Hieb über den Kopf gegeben, daß er bewußtlos niederstürzte. Der Zweite war wahrend dessen rasch durch das offene Fenster auf die Straße gesprungen. Der Dritte, vor Angst und Furcht regungslos, wagte weder zu fliehen, noch Widerstand zu leisten.
Der Jäger hielt ihn gepackt, wahrend auf sein Schreien die andern Hausbewohner erwachten und herbeieilten. Von draußen war auch der Nachtwächter herbeigekommen und schrie hinauf: was es denn gäbe; auf dem Steinpflaster läge ein Kerl, der jammerlich ächze. Die Policei war bald herbeigerufen und verhaftete die Diebe. Zwei von ihnen wurden in das Gefängnißlazareth gebracht.
Derjenige, welchen der Hirschfänger des Jägers getroffen, konnte nicht mehr bekennen und nicht mehr vernommen werden. Die Wunde war zu tief ins Gehirn gedrungen. Nach einem elfstündigen Todeskampfe verschied er, schon am Tage darauf. Man erkannte in ihm einen mehrmals gestraften Dieb und Betrüger, einen ehemaligen Tischler, der ein wüstes Leben geführt, und bei dessen Leichenöffnung sich ergab, daß sein Körper dermaßen von Ausschweifungen und Branntwein verwüstet war, daß der Hieb des Jägers ihn nur vor einem langsamen, qualvollen Tode errettet hatte.
Der zweite Verwundete hatte den rechten Schenkel durch den Sprung aus dem Fenster an zwei Stellen gebrochen. Auch hatte er eine starke Erschütterung des Gehirns und der Brust erlitten, und konnte, unter einer schmerzhaften Behandlung furchtbar leidend, nur wenig sprechen. Auch in ihm erkannte man einen schon mehrmals gestraften Dieb, der, früher Maurerhandlanger, sich durch längere Zeit als Vagabunde in Berlin umgetrieben hatte.
Seine schlechten Säfte erschwerten die Kur. Der Brand war in das rechte Bein gekommen, und, um sein Leben zu erhalten, mußte es ihm abgenommen werden. Als der Arzt es ihm ankündigte, schien in seinem Wesen eine Veränderung vorzugehen. Er, der bisher jedem Zuspruch und jeder Ermahnung verschlossen geblieben, seufzte tief auf und rief plötzlich: »Ja, es lebt ein gerechter Gott!«
Von nun an verlangte er nach geistlichem Zuspruch, den er bis da kalt zurückgewiesen, verlangte und empfing das Abendmahl kurz vor der Amputation. Bei derselben blieb er standhaft, und fiel erst in Ohnmacht, als der Verband angelegt wurde. Die Operation ging glücklich von statten.
Er legte vor Gericht ein vollständiges Bekenntniß ab, noch vollständiger vor dem Arzte. Es ist eine Lebensgeschichte, die tausend Mal sich wiederholt, und doch erinnern wir uns nicht, sie mit so schlichten und doch so eindringlichen Worten schon aus dem Munde eines Verbrechers von seiner Bildungsstufe gehört zu haben. Mögen daher die Leser des Pitaval, welche nicht allein das Auffällige und Pikante, sondern auch das ewig Wahre hier suchen, dieser Lebensgeschichte, welche die von tausend andern Verbrechern in unsern großen Städten ist, einen Platz gönnen, wäre es auch nur um der eingeschalteten Bemerkungen willen. Beißender und interessanter findet sie sich freilich in allen Mysterienromanen vor; aber der Roman beschäftigt sich nur mit der Erscheinung des vollendeten Verbrechers, nicht mit der langen Erziehungsgeschichte, wie er es geworden.
»Ich bin zu Brandenburg im Jahre 1807 geboren, wo mein Vater Maurergeselle war. Er hatte Arbeit genug, und meine Mutter verdiente als Wäscherin schönes Geld. In meiner Jugend bis zum achten Jahre ging mir nichts ab, ich war gesund und wurde zu kleinen häuslichen Verrichtungen, zum Warten und Wiegen meiner jungem Geschwister angehalten, aber zur Schule schickte man mich nicht. Von der Mutter lernte ich das Vater Unser und die zehn Gebote, die ich alle Morgen und Abend beten mußte; vor die Thüre zu andern Jungen durfte ich nicht.
»Da es in den damaligen Kriegsjahren an Durchmärschen und Gelegenheit zum Verdienst nicht fehlte, hatte mein Vater einen kleinen Schnapsladen angelegt, und seitdem sah und hörte ich viel Böses, das ich leider schnell genug lernte. Das Fluchen, Schwören und Lästern der Gäste, zumal derer, die täglich kamen, und ihre schmuzigen Reden träuften Gift in meine junge Seele, und der Branntwein, den mir Einer oder der Andere gab, verwilderte mich vollends. Ich ward trotzig gegen die Mutter, stahl dem Vater heimlich Geld aus der Lade, ging ihm über die Flaschen und als er mich einige Male ertappte, züchtigte und zur Strafe in die Schule schickte, hielt ich es dort kaum ein Jahr aus. Ich lernte nothdürftig lesen, und da meine Beihilfe in der Schenke erfoderlich wurde, behielt mich der Vater wieder ganz zu Hause. Ich habe seitdem viele Bücher gelesen. Räuber- und Diebesgeschichten verschlang ich gleichsam. Ein Gast, der eine Leihbibliothek hatte, erlaubte mir, sie zu benutzen, und ehe ich 15 Jahre alt wurde, hatte ich sie durchlesen. Das verdarb mich vollends, ich wollte auch ein berühmter Räuber werden, und Alles, was ich von dem freien Leben dieser Menschen las, reizte mich außerordentlich. – Eine Bibel war in unserm Hause nicht zu finden, nur ein alter Katechismus, und meine Mutter besaß ein Gesangbuch, worin sie zuweilen las. Zur Kirche ging Keiner von uns, denn des Sonntags und Feiertags war die ganze Zeit bei uns Gastverkehr. –
»Erst als ich eingesegnet werden sollte, bekam ich eine Bibel. Ich wurde sechs Wochen von einem Geistlichen unterrichtet, was mir sehr langweilig vorkam. Nach meiner Einsegnung, wobei ich viel Thränen vergoß, weil auch die andern Kinder weinten, ging ich mit meiner Mutter zum Abendmahl. Seitdem habe ich es nur im Gefängnisse wieder genossen.
»Inzwischen war in unserm Hause eine traurige Veränderung vorgegangen. Mein Vater fand beim Schank seine Rechnung nicht mehr. Es ging rückwärts, und war er früher schon gerade kein Säufer, aber doch ein Liebhaber des Branntweins gewesen, so trank er jetzt immer stärker, mishandelte die Mutter und uns Kinder, zerschlug in der Besoffenheit Alles, was er ergriff und wollte sich von der Mutter, die ihm zu stille war und auf die er alle Schuld warf, scheiden lassen. Der Tod der Mutter, die sich abzehrte, kam dazwischen. Dieser Tod brachte in unser Hauswesen die größte Zerrüttung. Um den Vater war es nicht mehr auszuhalten, er lebte mit der Magd, die uns Kinder ganz vernachlässigte, so daß wir vom Ungeziefer fast aufgerieben waren, viel Schläge, aber keine regelmäßige Mahlzeiten bekamen und in zerrissenen Kleidern gingen. Was man mir nicht gab, das suchte ich zu nehmen. Aus Schlägen und Scheltworten machte ich mir nichts. Ich wuchs dem Vater über den Kopf. Um mich los zu werden, gab er mich als Handlanger unter die Maurer seiner Bekanntschaft. Hier bekam ich die weitere Ausbildung im Fluchen, Saufen und rohem Wesen, hier lernte ich Gottes ganz vergessen. Des Winters, wo es keine Arbeit gab, kam ich wol zum Vater zurück und half in der Wirtschaft. Oefters besoff ich mich und prügelte mich mit ihm, denn ich ließ mir nichts sagen. Er warf mich auf die Straße und ich gerieth nun mit den verworfensten Menschen in Gemeinschaft. Noch hatte ich nicht fremde Leute bestohlen, jetzt nahmen mich die Kameraden mit, lehrten mich alle Schliche und Listen, und ich ward nicht nur ihnen gleich, sondern that es ihnen bald zuvor. Mein Gewissen, wenn es mich mahnen wollte, erstickte ich in Branntwein und Ausschweifungen. Aber es war doch ein jammerliches Leben. Keine Ruhe im Herzen, Blöße und Hunger im Winter. Oft wußte ich nicht, wo ich Nachts Herberge finden würde; war etwa ein Sündengeld durch Betrug und Diebstahl erworben, wurde es, wie im Sommer der Wochenlohn, verjubelt.
»Ich habe manchmal vor Gericht gestanden, aber ich log frech und befreite mich. Das machte mich nur noch dreister im Stehlen. Einmal aber ward ich doch ertappt und kam auf fünf Monate in das Untersuchungsgefängniß. Hatte ich zuvor noch nicht ausgelernt, so erhielt ich hier im Beisammensein mit dem Abschaum alles Volkes erst die rechte Einweihung in die Diebsgenossenschaft. Ich kam viel schlechter heraus, als ich hineingekommen war, und wußte nun meine Diebereien schlauer und durch Mitwirkung Bekannter erfolgreicher zu betreiben. Jetzt fand ich Unterkommen, jetzt kannte ich die Hehler, jetzt war ich unterrichtet, wie man sich aus den Schlingen ziehen und den Richter auslachen muß. Auch die Strafe fürchtete ich nicht mehr, denn es ging mir im Gefängniß gar nichts ab. Wir waren da in Gesellschaft bei einander, erzählten uns, waren lustig und guter Dinge, und zeigten unter uns ganz andere Gesichter als vor den Aufsehern und Richtern. Auch standen wir mit unsern Leuten draußen in fortwährendem Verkehr, und es bedurfte nicht eben großer Schlauheit, um durch Entlassene unsere gemeinschaftlich ausgesonnenen Diebespläne auszuführen. An Essen und Trinken, Kleidern und Wäsche fehlte es nicht, die Arbeit war ein Kinderspiel, und wurde man entlassen, bekam man noch ein Paar Hemden, Schuhe, ja selbst etwas Geld. Da hatte man wieder etwas zu verthun und zu verkaufen. War's alle, ging die Dieberei von Neuem los, und ward man erwischt, was konnte einem Arges passiren? Denn wenn es auch im Zuchthause etwas strenger war und die Schläge weh thaten, wenn man da auch zum Geistlichen in den Unterricht und in die Kirche mußte, so ging's ja immer noch sorgenlos und lustig genug zu, und wenn man gut heucheln konnte, wie ich's aus dem Grunde lernte, und seine Arbeit verrichtete, die immer leichter war, als sie jeder Arme draußen thun muß, da war's ein prächtiges Leben, besonders wenn's nicht gar zu lange' dauerte. So habe ich's Jahre lang getrieben. Zu den Soldaten mochten sie mich nicht nehmen, ich wäre auch ausgerissen, denn nichts war mir unausstehlicher als Ordnung und Zwang, der ich mich im Gefängnisse doch leicht fügte. Da mich zuletzt auch keiner mehr in Arbeit haben wollte, zog ich in die große Stadt Berlin, wo ich viele Bekannte aus den Zuchthäusern her hatte.
»Mein Vater war inzwischen verstorben, und auf jedes Kind kamen 12 Thaler Erbtheil. Ich miethete mit dem Gelde einen Keller, und legte einen kleinen Holzhandel an, wobei mir eine geschiedene Frau, zu der ich mich hielt, behülflich wurde; aber das war nur der Deckmantel vor der Policei. Es glückte mir auch lange genug. Ich ward aber doch zuletzt entlarvt; mir wurde Alles genommen und ich selbst nach sechswöchentlichem Arrest in meine Heimat gewiesen. Mein ältester Bruder diente als Kutscher, die andern Geschwister waren im Elende verkommen, Niemand nahm mich auf, und ich fing an zu vagabundiren und von Bettelei und Diebstahl zu leben. Sperrte man mich ein, so fütterte ich mich im Gefängnisse wieder auf, bekam Kleider, wurde dann an Gesellschaften gewiesen, welche entlassene Sträflinge unterstützten, und habe so manchen Thaler bekommen, der durch die Gurgel ging. Arbeiten wollte ich durchaus nicht mehr; Arbeit war mir im freien Zustande das Schrecklichste.
»So bin ich wieder nach Berlin zurückgekommen und wurde Bote in einer Buchhandlung, wo ich Zeitschriften an die Abnehmer in der Stadt umhertragen mußte. Weil ich nun bei diesem Geschäft viele Gelegenheiten in den Häusern abpassen konnte, kamen meine alten Kameraden, von denen ich mich eine Zeitlang getrennt sah, wieder an mich.
»Kerl, du wirst uns doch nicht untreu werden und etwa gar ehrlich sein wollen; du wirst dich hier um ein Lumpengeld schinden und plagen, du kannst es besser haben; komm mit in die Schenke, wir müssen dir etwas sagen!« Ich ging einmal und ging wieder zu ihnen, und das ganze Lasterleben fing von Neuem an. Meine Herren jagten mich aus dem Botendienste und nun war ich wieder ganz in der Gewalt der Bösen, die mich frei hielten und mit denen ich nun auf Betrug, Dieberei und Raub ausging.«
Ein Vagabunde und Dieb aus Berlins Straßen, der im 15. Jahre schon eine ganze Leihbibliothek durchgelesen hat und darnach Lust bekommt, ein berühmter Räuber zu werden! – Ein Dieb, der geradezu bekennt, daß er erst im Zuchthause seine Wissenschaft ausgelernt, daß er von nun an in den Mysterien eingeweiht war, in den großen Bund der Verbrecher aufgenommen! Seine Schilderung, wie sie da lüstig und guter Dinge waren, mit ihren Spießgesellen draußen in unausgesetzter Verbindung standen; die Rückkehr ins Zuchthaus eine Erholung nach langem zweifelhaften Umhertreiben; und Kost und Arbeit daselbst besser und leichter, als sie jeder Arme draußen hat! Wie der Verbrecher die frommen Bemühungen der Vereine für Besserung entlassener Sträflinge zu verhöhnen und doch auszubeuten weiß: Alles dies ist zwar oft ausgesprochen, Jeder weiß es, aber aus dem Munde eines reuigen Zuchthäuslers, ein Zeugniß mit diesem Tone der Wahrheit abgelegt, hat ein eigenes Gewicht.
Die Geschichte jenes Abends ist oben erzählt. Die drei Diebe, welche sich in der Branntweinschenke getroffen, schworen sich feierlich zu, in der Nacht sich wieder zu treffen, um den Einbruch in dem reichen Hause zu begehen. Der Tischler betheuerte es mit den Worten: »Ich will des Teufels sein!« Er war es, dem der Hirschfänger des Jägers den Schädel spaltete. Der Maurerhandlanger mit den Worten: »Ich will das Bein brechen!« Er sprang aus dem Fenster und brach das Bein. Der Dritte, der jüngste unter ihnen, mit den Worten: »Und soll mich's zehn Jahr kosten!« Er ward wegen gewaltsamen Einbruchs zu zehn Jahr Zuchthaus verurtheilt.
Diese Erinnerung, diese wunderbare Erfüllung ihres frechen Gelöbnisses hatte den Vagabunden, dessen Geschichte wir erzählt, in dem Augenblick, wo ihm die Amputation des Beins angekündigt ward, so mächtig ergriffen, daß er von Stunde an in sich ging, Alles bekannte, bereute, die tiefste Zerknirschung mit der männlichsten Festigkeit zeigte, ein anderer Mensch wurde und bis jetzt geblieben ist. Schon nach drei Monaten war sein Bein geheilt. Als Stelzfuß verrichtet er jetzt die Dienste eines zweiten Krankenwärters im Gefängnißlazareth, und seine Vorgesetzten sind von seiner wahrhaften Reue so überzeugt und mit seinem Benehmen so zufrieden, daß er, wahrscheinlich über seine 15jährige Strafzeit hinaus, in diesem Dienste bleiben wird.

Quellen: Alexis / Hitzig - Der neue Pitaval - Band 7

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