Vom Mittelalter bis in die heutige Zeit.




1. Der Fall – Johannes Jünemann

In dem Falle des Friseurs Johannes Jünemann, der 1910 zweimal vor dein Schwurgericht in Berlin verhandelt wurde, muß ich mich eines Urteils darüber enthalten, ob das erste auf Todesstrafe wegen Mordes oder das zweite wegen Totschlags auf fünf Jahre Gefängnis lautende Urteil das richtige getroffen hat.

Jünemann hatte seine Geliebte Alice R. (richtiger Name = Rakowski - siehe Zeitungsausschnitt) am Morgen des 20. Oktober 1909 durch einen Messerstich in die Brust getötet. Er hat dies nach kurzem anfanglichen Leugnen zugestanden, aber beharrlich behauptet, daß er durch das ausdrückliche und ernsthafte Verlangen der Getöteten zur Tat bestimmt worden sei. Er wurde am 13. Januar 1910 wegen Mordes zum Tode und nach erfolgreicher Revision am 29. April 1910 wegen Totschlags unter Annahme mildernder Umstände zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.

Nach dem mir vorliegenden Bericht1 läßt sich - wie mir scheint - die Schutzbehauptung des Angeklagten nicht widerlegen; vielmehr spricht manches dafür, daß sich die Tat so wie er angibt zugetragen hat, daß wir es in ihm und Alice R. mit einem jener überspannten, lebensüberdrüssigen modernen Liebespaare zu tun haben, bei denen der Mut des männlichen Teiles gerade so weit zu reichen pflegt, um die Geliebte zu töten und sich selber zu schonen. Danach würden dann beide Urteile falsch sein.
Indessen wird man den Spruch der ersten Jury, welche Mord angenommen hat, nach Lage des Falles, kaum ohne weiteres als einen Fehlspruch bezeichnen können. Es lag immerhin ein nicht geringer Anhalt dafür vor, daß sich Jünemann, der inzwischen ein neues, pekuniär vorteilhafteres Liebesverhältnis angeknüpft hatte, einer ihm hinderlich und lästig gewordenen, von ihm geschwängerten früheren Geliebten hatte entledigen und danach durch einen Griff in die Kasse des von ihr verwalteten Ladengeschäftes seiner augenblicklichen dringenden Geldverlegenheit hatte abhelfen wollen. Diesen Griff hatte er denn auch getan, wie er angab, um sich von dem Geld einen Revolver zu kaufen, mit dem er sich selber habe töten wollen. Der von der zweiten Jury gewählte Mittelweg dagegen scheint mir von allen vorliegenden Möglichkeiten die am wenigsten wahrscheinliche getroffen zu haben.
Dieser Fall gehört zu denen, in denen es unmöglich ist, sich ohne genaue Kenntnis der Persönlichkeit des Angeklagten ein maßgebliches Urteil über die Beweggründe einer zeugenlosen Tat zu bilden.

Quellen: Die Irrtümer der Strafjustiz unserer Zeit - Geschichte der Justizmorde von 1797 - 1910 (Erich Sello) Ausgabe 2001 - S. 420 und Ergänzungen durch Zeitungsrecherche - erichs-kriminalarchiv.com



2. Der Fall - Jeanne Weber

Die »Menschenfresserin« von Paris (l905-l910)

Jeanne Weber wurde am 7. Oktober 1874 in Keritry, einem kleinen Fischerdorf in Nordfrankreich, als Jeanne Moulinet geboren und und starb im Jahre 1910 in Mareville, in Neukaledonien. Sie wurde bekannt als die Menschenfresserin aus der Goutte d’Or (L'Ogresse de la Goutte d’Or) und war eine französische Serienmörderin. Weber tötete zehn Kinder, darunter auch ihre eigenen.

Im Alter von 14 Jahren ging sie nach Paris. Dort nahm sie verschiedene untergeordnete Arbeiten an und heiratete schließlich 1893. Ihr Ehemann war ein Trinker, und 1905, nachdem zwei ihrer drei Kinder kurz zuvor gestorben waren, trank auch Jeanne sehr viel. Sie lebte in einem schäbigen Mietshaus im Goutte d'Or, einem Armenviertel von Paris gemeinsam mit ihrem Gatten und ihrem siebenjährigen Sohn.
Am 2. März 1905 passte Weber auf die zwei Töchter ihrer Schwägerin auf. Plötzlich wurde die 18 Monate alte Georgette „krank" und starb. Merkwürdige Flecken auf ihrem Hals wurden vom untersuchenden Arzt ignoriert, und Jeanne durfte am 11. März wieder Kinder hüten. Die zweijährige Suzanne überlebte den Besuch nicht, doch ein Arzt führte den zweiten Todesfall auf unerklärbare „Krämpfe" zurück.



Am 25. März ließ Webers Bruder seine Tochter in Jeannes Obhut. Die siebenjährige Germaine erlitt einen plötzlichen „Würgeanfall" mit roten Malen auf ihrem Hals. Das Kind überlebte den Anfall, hatte aber am nächsten Tag, als Tante Jeanne wieder zu Besuch kam, weniger Glück. Als Todesursache wurde Diphtherie angegeben - genau wie für Webers Sohn Marcel, der nur vier Tage später starb. Die verräterischen Würgemale wurden erneut ignoriert.
Am 5. April 1905 lud Weber zwei ihrer Schwägerinnen zum Essen ein und blieb mit ihrem zehnjährigen Neffen Maurice zu Hause, während die anderen beiden Frauen einkaufen gingen. Sie kehrten früher als erwartet zurück und fanden Maurice mit roten Flecken am Hals nach Luft schnappend auf dem Bett. Jeanne stand mit einem verrückten Gesichtsausdruck über ihn gebeugt.
Medizinische Anhaltspunkte dafür gibt es nicht. Die Polizei beginnt sich für den Fall zu interessieren. Sie stellt schnell fest, dass alle Kinder kurz vor ihrem Tod von Jeanne Weber beaufsichtigt wurden und dass vor drei Jahren ebenfalls zwei von ihr betreute Kinder in gleicher Weise ums Leben kamen. Ein Arzt hatte damals den Erstickungstod auf eine Hirnhautentzündung zurückgeführt. Der mit den Ermittlungen beauftragte Inspektor lässt Jeanne Weber verhaften und ordnet eine Exhumierung der Kinderleichen an. Das Ergebnis bringt keine Beweise. Es werden keine Würgemale oder sonstige Verletzungen gefunden. Dennoch wird Mordanklage gegen Jeanne Weber erhoben. Die Bevölkerung des Armenviertels ist aufgebracht. Für sie ist die »Ogresse de Goutte d'Or«, die »Menschenfresserin vom Goutte d'Or«, schuldig.



Weber wurde angeklagt, und ihr Verfahren begann am 29. Januar 1906. Die Staats-anwaltschaft klagte sie wegen acht Morden an (unter anderem an ihren eigenen drei Kindern und zwei anderen - Lucie Aleandre und Marcel, die in ihrer Obhut gestorben waren). Weber wurde beschuldigt, ihren eigenen Sohn im März getötet zu haben, um den Verdacht von sich abzu-schütteln, aber die Geschworenen zögerten, einer trau-ernden Mutter das Schlimmste zu unterstellen. So wurde Weber am 6. Februar freigesprochen. Umso größer war die Enttäuschung bei der Bevölkerung, als man Jeanne Weber freispricht. Ein glattes Fehlurteil, wie sich später herausstellt.
Von ihren Nachbarn verachtet und gehasst, verlässt Jeanne Weber heimlich ihr Haus und ihren Ehemann, kehrt Paris den Rücken und ändert ihren Namen. Sie nennt sich nun Jeanne Moulinet und lebt in Chabon im Departement Indre.

Vierzehn Monate später, am 7. April 1907, wurde ein Arzt aus der Stadt Villedieu zum Haus des Bauern Bavouzet gerufen. An der Tür wurde er von der Kinderfrau „Madame Moulinet" begrüßt, die ihn zum Bett des neunjährigen Auguste Bavouzet führte, der darin tot mit Druckstellen am Hals dalag. Als Todesursache wurden „Krämpfe" angegeben, aber der Arzt änderte seine Diagnose am 4. Mai, als die ältere Schwester des getöteten Kindes herausfindet, dass Jeanne Moulinet und Jeanne Weber identisch sind. Die Leiche wird exhumiert. Jetzt entdecken die Gerichtsmediziner neben der zweieinhalb Zentimeter langen Würgespur auch Blutergüsse und Fingerabdrücke. Ihre Schlussfolgerung ist eindeutig: Tod durch Erdrosseln.
Ein neues Strafverfahren wird gegen Jeanne Weber eingeleitet. Ihr Verteidiger ist sehr geschickt und erfahren. Mit immer neuen Eingaben und Tricks gelingt es ihm, den Prozess hinauszuzögern und so lange zu verschleppen, bis die Kindesleiche verwest und eine Strangulation nicht mehr erkennbar ist. Jeanne Weber wird erneut freigesprochen und im Dezember freigelassen. Eine weitere Fehlleistung in diesem an Irrtümern so reichen Fall.
Weber verschwand rasch von der Bildfläche und tauchte erst nach einiger Zeit als Pflegerin in einem Kinderkrankenhaus in Faucombault wieder auf. Danach arbeitete sie im Kinderheim von Orgeville, das von Freunden geführt wurde, die „das Unrecht, das die Justiz über eine unschuldige Frau brachte" wieder gutmachen wollten. Weber war dort weniger als eine Woche unter dem Namen „Marie Lemoine" tätig, als sie dabei ertappt wurde, wie sie ein Kind würgte. Die Besitzer waren ob ihrer eigenen Naivität verlegen und entließen sie im Stillen. Der Vorfall wurde vertuscht.

In Paris wurde Weber wegen Landstreicherei festgenommen und kurze Zeit in die psychiatrische Anstalt von Nanterre gesteckt, doch die dortigen Ärzte erklärten sie für nicht geisteskrank und entließen sie wieder. Danach schlitterte sie in die Prostitution und kam auf diesem Weg zu einem Lebensgefährten.
Am 8. Mai 1908 ließ sich das Paar in einem Gasthof der Familie Poirot in Commercy nieder. Kurze Zeit danach hört ein Gast plötzlich Schreie aus dem Schlafzimmer der Gasthofbetreiber. Die herbeigerufenen Poirots finden ihren zehnjährigen Sohn Marcel Poirot mit blau angelaufenem Gesicht leblos im Bett. Aus seinem Mund fließt Blut, im Todeskampf hat er sich die Zunge abgebissen. Neben dem Bett steht Jeanne Weber mit blutigen Händen. Der Vater des Kindes mußte sie erst mit drei Faustschlägen ins Gesicht dazu bringen, den leblosen Körper loszulassen.

In flagranti überführt, gesteht sie die Morde an acht Kindern. Die Polizei ist überzeugt, dass zwölf weitere noch ungeklärte Kindesmorde ebenfalls auf ihr Konto gehen. Der Tathergang ist immer derselbe. Die Kinder wurden mit einem Taschentuch erdrosselt. Aber welches Motiv hatte Jeanne Weber, die als eine der brutalsten Massenmörderinnen in die Kriminalgeschichte eingegangen ist? Keins, denn sie ist geisteskrank. Nach mehreren Untersuchungen wird sie am 25. Oktober 1908 für unzurechnungsfähig erklärt und in die Irrenanstalt von Mareville eingewiesen. Ein neuer Prozess findet deshalb nicht statt, ein Todesurteil bleibt ihr erspart.
Sie überlebte in Gefangenschaft nur zwei Jahre. Im Jahre 1910 stirbt Jeanne Weber in der Anstalt den gleichen Tod wie ihre Opfer. Sie erdrosselt sich selbst mit den eigenen Händen.

Quellen: Das Lexikon der Justizirrtümer (Hans-Dieter Otto) 2. Auflage 2004 – ISBN 3-548-36453-5 – S. 237, - Die große Enzyklopädie der Serienmörder (Michael Newton – aktualisiert von Jacques Buval) Auflage 2005 – ISBN 3-85365-189-5 – S. 418, sowie Bild und Textergänzungen aus erichs-kriminalarchiv.com


E-Mail
Karte
Infos