Vom Mittelalter bis in die heutige Zeit.



Justizirrtum

Justizirrtum ist ein allgemeinsprachlicher Begriff für Fehler der Justiz; eine juristische Definition gibt es nicht. Zu Unrecht Verurteilte werden als Justizopfer bezeichnet.
In der öffentlichen Wahrnehmung wird unter einem Justizirrtum in erster Linie eine strafrechtliche Verurteilung Unschuldiger verstanden. Nach juristischem Verständnis kommen Justizirrtümer, oder speziell Fehlurteile, darüber hinaus auch in anderen Rechtsbereichen wie dem Zivilrecht und dem öffentliches Recht und in jedem Arbeitsgang der Justiz vor. Gründe für einen Fehler der Justiz können in einer unbeabsichtigten Fehlvorstellung der Richter, einer bewussten Irreführung der Richter durch Zeugen, Sachverständige, Anwälte oder sonstige Personen oder einem Verfahrensfehler liegen.
Die vorsätzlich falsche Anwendung des Rechts wird dagegen im Allgemeinen als Rechtsbeugung bezeichnet. Wenn durch solchen Rechtsmissbrauch die Todesstrafe verhängt und vollstreckt wird, wird dies vielfach Justizmord genannt. Von Kritikern der Todesstrafe wird auch die Hinrichtung irrtümlich Verurteilter häufig so bezeichnet.
Ein „Skandal im Bereich der Justiz, des Justizwesens“ wird Justizskandal genannt.

Quelle: Wikipedia




1. Der Fall - George Allen  (1807)

Daß es sich im Falle des George Allen, der am 30. Mai 1807 von den Assisen von Stafford zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, um einen schlechterdings durch nichts zu rechtfertigenden und nur aus der Rückständigkeit der englischen Gesetze und der starren Grausamkeit einer englischen Hängejury zu erklärenden Justizmord handelt, wird nach der folgenden, dem Neuen Pitaval entnommenen Schilderung niemandem zweifelhaft sein.
George Allen in Upper-May-Field in Staffordshire war nach dem Zeugnis aller seiner Nachbarn ein rechtschaffener Mann, der sich in ehrbarer Weise von seiner Arbeit nährte. Durch siebzehn Jahre hatte er in der glücklichsten Ehe mit seiner Frau gelebt. Man wußte von keinem Zwist zwischen Mann und Frau, und die Ehe war durch Kinder gesegnet. Nur hatte er das Unglück, dann und wann epileptischen Zufal­len unterworfen zu sein. Montag, am 12. Januar 1807, befand er sich aber besser, und auch am Tage vorher hatte man nichts von diesen Anfällen bemerkt. An diesem Mon­tage ging er um acht Uhr abends zu Bett. Als seine Frau etwa nach einer Stunde ihm folgte, fand sie ihn aufrecht im Bett sitzen, seine Pfeife rauchend. Es war dies nichts Ungewöhnliches. Im selben Zimmer, in einem andern Bett, lagen drei seiner Kinder schlafend: ein Knabe, der älteste, von zehn Jahren, ein Mädchen, die zweite, von sechs und noch ein Knabe von etwa drei Jahren.
Als die Frau sich auch ins Bett gelegt, mit ihrem jüngsten Kinde an der Brust, fragte George Allen plötzlich: „Du, welchen Mann hast du sonst im Hause?" - Sie erwiderte: Im ganzen Hause sei keine Mannsperson als er selbst. Er schwor darauf, es verhalte sich anders. Sie fragte, wie er dazu komme, sie sei gewiß und wahrhaftig ganz unschuldig. Mit einem Satz war der Mann aus dem Bette und rannte die Treppe hinunter. Von Angst getrieben, folgte sie ihm, den Säugling noch immer im Arm. Sie ereilte ihn noch auf der Treppe und fragte ihn, was er denn in solcher Hast tun wolle? Er antwortete ihr barsch, sie solle sich auf der Stelle zurückscheren. Zitternd stieg sie die Treppe wieder hinauf; er folgte ihr.
Oben trat er ans Bett der Kinder und riß wütend die Decken und Kleider fort, wo­mit sie zugedeckt waren. Als das Weib ihn daran hindern wollte, schrie er, sie solle ihn allein lassen oder es würde ihr ebenso gehen. Sie ließ nicht ab; das kleine Kind im Arme, suchte sie den Wütenden zu halten; aber er, mit einem Messer in der Hand, fuhr nach ihrem Halse. Ein Tuch, welches sie um Kopf und Nacken trug, fing den Streich auf und hinderte die tödliche Wirkung, Aber an der rechten Brust verwundet, fuhr sie zurück, mit Leib und Armen nur ihr Kind deckend, und stürzte dann oder fiel vielmehr die steile, enge Treppe hinab; wunderbar glücklich genug, daß ihr Säugling keinen Schaden nahm. Sie selbst verlor nur für den Augenblick die Besinnung.
Aber schon im nächsten Augenblick ward sie aufs entsetzlichste erweckt; ehe sie Knie und Füße zum Aufstehen rühren konnte, fiel ihr zweites Kind, das sechsjährige Mädchen, auf die unglückliche Mutter. Der Hals war ihr fast durchgeschnitten; der Vater hatte den rauchenden Leichnam ihr nachgeschleudert.
Das arme Weib raffte ihre letzten Kräfte zusammen; sie riß die Haustür auf und schrie mit herzzerreißenden Wehlauten auf die Straße: „Hilfe, um Gotteswillen Hilfe! Mein Mann schneidet den Kindern die Köpfe ab!"
Ein Nachbar kam endlich zu ihrer Hilfe herbei. Man schaffte ein Licht, zündete es an und trat in das Unglückshaus. In der Mitte des Flurs stand das Ungeheuer, ein blu­tiges Rasiermesser in der Hand schwingend. „Was hast du getan?" schrie man ihn an. Er antwortete ruhig und kalt: „Jetzt noch nichts. Ich habe erst drei von ihnen ge­schlachtet."
Man entriß ihm den Stahl, was er sich ruhig gefallen ließ.
Der Anblick oben, als man die Treppe hinaufging, war noch entsetzlicher. Der äl­teste Knabe und der jüngste waren schon tot. Dem einen war der Kopf so abgeschnit­ten, daß er nur noch mit einer dünnen Haut mit dem Körper zusammenhing. Beiden war der Bauch aufgeschlitzt, die Gedärme waren mit Gewalt herausgerissen und la­gen auf dem Boden umhergeschleudert.
Allen ließ sich ruhig ergreifen und machte auch nachher keinen Versuch zu ent­fliehen.
Als ihn der Leichenbeschauer in Gegenwart der blutigen Körper verhörte, bekann­te er mit der Ruhe von vorhin seine Schuld, ohne mit einem Wort oder Zeichen Reue auszudrücken. Er erklärte aufs bestimmteste, es sei seine Absicht gewesen, sein Weib und alle seine Kinder zu ermorden und dann Hand an sich selbst zu legen. Nein, setz­te er hinzu, ich wollte dann noch eine umbringen, das alte Weib, das bei uns im Schafstalle liegt.
Dennoch sagte er später, es drücke ihn etwas, und er habe etwas Schweres zu be­kennen. Der Coroner vermutete, daß noch eine frühere, unentdeckte Blutschuld auf ihm laste. In Gegenwart ehrenwerter Männer ward ihm zugeredet, daß er sein Gewis­sen entlaste. Es kostete ihm sichtliche Überwindung, bis er die ungeordnete, wüste Erzählung über die Lippen brachte: Ja, es sei wahr und müsse heraus; vor vier Jahren sei ihm ein Geist erschienen in Gestalt eines schwarzen Rosses, in einem Stall sei es gewesen, und das habe ihn bezaubert. Da hätte es ihm Blut aus den Adern gesogen und er hätte sich nicht rühren können, und plötzlich hätte es Flügel bekommen und sei durch die Lüfte davongesaust, und seitdem liege es auf ihm.
Man sagt uns nichts davon, daß eine Untersuchung über seinen Geisteszustand an­geordnet worden sei, nicht einmal ein Arzt scheint als Zeuge vernommen worden zu sein.

Quelle: - Das Neue Pitaval - 21. Teil, 2. Auflage, Lepzig 1861, S. 423 ff.



2. Der Fall - Maria Holl (1594)

Das 1594 in Nördlingen gegen Maria Holl wegen Hexerei eingeleitete Verfahren ist einer der scheußlichsten Hexenprozesse, die je bekannt geworden sind. Entgegen der Vorschrift, nach der jemand nicht noch einmal der „peinlichen Befragung“ unterzogen werden darf, wenn er alle fünf Grade der Tortur überstanden hat, ohne zu gestehen, wird Maria Holl in grausamster Weise 56-x bis zur Bewusstlosigkeit gefoltert. Sie widersteht allen Quälereien und ist damit in die Rechtsgeschichte eingegangen. Dieser Justizskandal schlägt hohe Wellen, dennoch bleibt er kein Einzelfall.
Was eine Frau in der Folterkammer an einem einzigen Tag erleiden muss, belegt ein Prozessprotokoll aus dem Jahre 1631: „Der Henker band sie an den Händen, zog sie auf die Streckleiter und schnürte sie an vielen Stellen. Da sie zudem schwanger war, wiederholte er die Tortur, goss ihr Branntwein auf den Kopf und zündete ihn an. Dann brannte er die Frau mit Schwefelfedern unter den Achseln und am Hals.
Schließlich ließ er sie vier Stunden lang immer wieder am Seil von der Decke herabschnellen, einmal mit gebundenen Armen und Beinen, einmal ohne zusätzliche Fesseln. Dann wurde Branntwein auf den Rücken gegossen und angezündet. Darauf wurde sie erneut gestreckt, diesmal mit schweren Gewichten auf den einzelnen Zehen. Anschließend kam sie auf die Streckbank, wo sie der Folterknecht gegen ein dornenbesetztes Brett drückte. Ihre Füße wurden gebunden und, mit einem Gewicht von einem halben Zentner beschwert, nach unten gezogen. Dann schraubte man ihr Waden so fest in spanische Stiefel, bis das Blut aus den Zehen kam. Und wieder das Streckbrett, wieder die Streckleiter. Schließlich die Auspeitschung der Lenden, bis das Blut aus der Nierengegend schoss. Dann der Schraubstock, sechs Stunden“.
Und alles geschieht im Namen Gottes.

Quellen: - Das Lexikon der Justizirrtümer (von Hans-Dieter Otto) Ausgabe , 2.Auflage 2004 – Seite 40 – ISBN 3-548-36453-5



3. Der Fall – Rose Pauline Cornu und Flore Anastasie Cornu (1818)

Derr Assisenhof der Unteren Seine hatte am 22. August 1818 Rose Pauline Cornu wegen eines unter erschwerten Umständen begangenen Diebstahls rechtskräftig zum Tode verurteilt. Am 13. März 1819 verurteilte der gleiche Assisenhof Flore Anastasie Cornu, die Schwester der zuerst Verurteilten, gleichfalls zum Tode, nachdem die Jury festgestellt hatte, dass die Verurteilte an dem Diebstahl, wegen dessen ihre Schwester verurteilt worden war, teilgenommen und das sich unter den Teilnehmern an diesem Diebstahl nur eine Frauensperson, und zwar Flore Anastasie Cornu befunden habe.
Wegen dieses unlöslichen Widerspruchs vernichtete der Kassationshof am 22. Mai 1819 beide Todesurteile, von denen unzweifelhaft mindestens eins falsch gewesen sein musste.
Anmerkung:  Das Urteil des Kassationshofes ist abgedruckt bei Lailler u. Vonoven a.a.O., S. 274. Wir erfahren nicht, welche von beiden Schwestern schließlich als die wirklich Schuldige anerkannt worden ist.

Quellen: - Die Irrtümer der Strafjustiz unserer Zeit – Geschichte der Justizmorde von 1797 – 1910 (von Alfred Sello) Ausgabe 2001 - Seite 338 – ISBN 3-929349-40-X



4. Der Fall – Joseph Lesurques

Der Überfall auf die Postkutsche

Am 27. April 1796 wird die zwischen Paris und Lyon verkehrende Postkutsche von einer berittenen und bewaffneten Räuberbande überfallen. Die vier Männer töten den Schaffner und den Postillion und erbeuten eine große Geldsumme, Wertpapiere und andere Kostbarkeiten. Der fünfte Komplize sitzt als Passagier in der Kutsche. Zuvor sind alle fünf sorglos und für längere Zeit in zwei in der Nähe liegenden Gasthäuser eingekehrt. Mehrere Menschen haben sie aus der Nähe gesehen.

Postkutsche - ähnlich der aus dem Jahr 1796

Der Friedensrichter von Paris lädt diese Zeugen vor. Zur selben Zeit ist auch ein Freund von Lesurques auf dem Weg dorthin, um einige Papiere abzuholen. Er war verdächtigt worden, in die Sache verwickelt zu sein, konnte aber seine Unschuld nachweisen. Zufällig trifft er Lesurques und überredet ihn mitzukommen. Im Vorzimmer des Richters treffen sie mit den auf ihre Vernehmung wartenden Zeugen zusammen, darunter zwei Mägde aus einem der Gasthäuser, die die Räuber aufgesucht hatten. Die Frauen erklärten sofort, sie würden die beiden Männer wieder erkennen, obwohl sie den Gasthof niemals betraten. Auch die übrigen fünf Zeugen, denen die Männer daraufhin gegenüber gestellt werden, erklären übereinstimmend, dass das die gesuchten Mitglieder der Bande seien.
Beide beteuern ihre Unschuld und können ein Alibi nachweisen. Der 35-jährige, verheiratete Joseph Lesurques, Vater dreier Kinder und Sergeant der französischen Armee mit hervorragenden Beurteilungen, benennt mehrere Alibizeugen, unter ihnen ein Juwelier und ein Goldschmied. Sie sagen in der Hauptverhandlung aus, Lesurques sei am Montag von zehn bis zwei Uhr dauernd mit ihnen zusammen gewesen. Der Goldschmied habe dem Juwelier in dieser Zeit einen silbernen Löffel verkauft und das auch in seinem Geschäftsbuch eingetragen. Als er das Geschäftsbuch vorlegen muss, stellt sich heraus, dass das Geschäft auf den Tag nach dem Raubüberfall eingetragen, das Datum jedoch nachträglich vordatiert worden ist. Der Goldschmied wird sofort wegen Urkundenfälschung verhaftet. Beide Zeugen halten jetzt ihre ursprünglichen Aussagen nicht mehr aufrecht. Daraufhin glauben die Geschworenen auch den weiteren Alibizeugen nicht mehr und verurteilen Lesurques zum Tode.
Kurz zuvor erscheint die Geliebte des rechtmäßig Angeklagten Couriol beim Präsidenten des Schwurgerichts und erklärt, Lesurques gehöre nicht zu der Bande, die Zeugen hätten sich geirrt. Auch Couriol selbst sagt, Lesurques sei unschuldig. Doch der Präsident Gohier weist diese Aussagen mit dem Bemerken zurück: „Ich kann sie nicht mehr berücksichtigen, die Verhandlung ist schon geschlossen!“ Lesurques wird gerichtet, mit ihm sechs weitere Personen, obwohl nur fünf die Mordtat verübten. Wenig später wird der Mann, mit dem sieben Zeugen Lesurques verwechselt hatten, entdeckt und überführt. Er wird nachträglich ebenfalls verurteilt.

Quellen: - Das Lexikon der Justizirrtümer (von Hans-Dieter Otto) 1. Auflage 2003 – S.229 – ISBN 3-548-36453-5



5. Der Fall - Hideki Kato

Neun Monate Untersuchungshaft in der Einzelzelle.

Eine Fahrt in Japans chronisch überfüllten U-Bahnen kann für Frauen zum Horrortrip werden. Eingequetscht zwischen anderen Fahrgästen können sie leicht Opfer von Grabschereien werden. "Chikan" ist ein so ernstes Problem in Japan, dass es inzwischen Bahnabteile nur für Frauen gibt. Doch sind nicht immer nur Frauen die Opfer, auch für Männer kann Bahnfahren in Japan zum Albtraum werden. Immer mehr Männer haben Angst die U-Bahn zu benutzen, denn zunehmend kommt es zu Fällen, bei denen Männer zu Unrecht sexueller Belästigungen beschuldigt werden. Ein Prozess kann das ganze Leben ruinieren.


Tokios U-Bahn - jeder Zentimeter Platz ist kostbar.

Es ist der 21. November 2000, als Hideki Kato die U-Bahnlinie Tozai in Tokio besteigt. Neben ihm im brechend vollen Abteil steht ein 13-jähriges Schulmädchen. Plötzlich fängt das Mädchen an, zu schreien und zu weinen. In dem Moment hält ihn ein Student fest und beschuldigt Kato, er habe das Mädchen während der Fahrt begrabscht. Trotz Beteuerungen, er sei unschuldig, nahm die Polizei Kato fest. Seine beharrliche Weigerung, sich schuldig zu bekennen, brachte dem heute 35-jährigen Japaner nahezu neun Monate Untersuchungshaft in der Einzelzelle ein.
Lange Zeit hatte die Polizei das "chikan"-Problem vernachlässigt. Sex-Videos mit U-Bahn-Grabschereien gehören in vielen Videotheken in Japan zum Standardangebot. Doch das Problem ist derart ernst, dass inzwischen hart dagegen vorgegangen wird. Das hat jedoch nach der Meinung von Kritikern und Betroffenen dazu geführt, dass praktisch jeder Mann, der der Grabscherei bezichtigt wird, in die Fänge der Justiz gerät. "Wenn eine Frau sagt, sie sei in der Bahn sexuell belästigt worden, führt dies fast hundertprozentig zur Verhaftung und Anklage des Beschuldigten", erklärt Kato.

Rushhour in Tokios U-Bahn.

Um bloß nicht verdächtigt zu werden, behalten manche Männer in den Zügen ihre Arme ständig oben. Er habe dem kleinen Mädchen schon allein wegen seiner Körpergröße von 1,80 Metern gar nicht unter den Rock greifen können, beteuert Kato. Er wirft Staatsanwaltschaft und Polizei vor, ihn fälschlicherweise verhaftet und Hinweise auf seine Unschuld unterschlagen zu haben. Obgleich er über Informationen verfüge, wonach Ermittler ihn für unschuldig hielten, wurde Kato in zwei Instanzen für schuldig befunden und zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt. Er selbst vermutet, dass der wahre Täter der Student sei, der ihn beschuldigte.
Der Prozess hat Katos Leben ruiniert. Er verlor den Arbeitsplatz und wohnt nach seiner Freilassung auf Kaution derzeit bei seinen Eltern, während sein Fall vor den Obersten Gerichtshof geht. Der Justiz wirft er eine Verletzung der Menschenrechte vor. Inzwischen gehört er einer Organisation von Männern an, die zu Unrecht sexueller Belästigungen in Bahnen beschuldigt wurden. Kenner des Problems sagen, um ihre Familie und Kinder vor gesellschaftlicher Stigmatisierung zu bewahren, bekennen sich beschuldigte Männer in Japan meist vor der Polizei schuldig und zahlen hohe Geldstrafen, andere gehen gar ins Gefängnis. Der unverheiratete Kato aber wandte sich an die Medien, um seine Unschuld zu beteuern und will weiter dafür kämpfen.

Quellen: - Rhein Zeitung online v. 26.6.2003



6. Der Fall – Anton W.  (2001)

Die 13jährige Sonderschülerin T. zeigt 1992 bei der Polizei an, sie sei von "einem Toni aus Fichtelberg" in einem "silbernen Audi" vergewaltigt worden. Im Zuge einer Rasterfahndung gerät der Besitzer eines roten Audi, Anton W. aus Fichtelberg (Bayern), als Täter in Verdacht. Die Polizei zeigt Tanja R. ein Foto des R, auf dem diese ihn "ganz sicher" wieder erkennt. Anton W. wird verurteilt und erhält, weil er nicht geständig ist, statt drei Jahre fünf Jahre Gefängnis.
«Die Gutachterin hielt das Mädchen für absolut glaubwürdig. Ihr niedriger Intelligenzquotient von 73 (normal sind 100) wurde sogar als positiv gewertet. "Sie ist als Zeugin besonders geeignet, da sie intellektuell nicht in der Lage ist, derart komplexe Vorgänge aus der Phantasie zu schildern," urteilte der Richter.»
Anton W. saß drei Jahre und vier Monate seiner Strafe ab und wurde 1996 vorzeitig entlassen. 1998 gestand T. auf Druck ihres neuen Freundes, der tatsächliche Vergewaltiger sei ihr damaliger Freund gewesen. Sie wurde daraufhin zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Im März 2001 wurde Anton W. in einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin war in die Brüche gegangen. Im Dezember 2001 starb die rauschgiftsüchtige T. an einer Arzneimittelvergiftung.
Als Haftentschädigung für 1523 Tage unschuldig erlittener Haft soll Anton W. 24 864,12 € erhalten. Von diesem Betrag gehen noch 3752,57 € an die Landesversicherungsanstalt. Schon vorher waren ihm ca. 12 000 € abgezogen worden für Kost, Logis und Arbeitslohn im Gefängnis.

Quelle: - Bild am Sonntag v. 14.4.2002, 16



7. Der Fall - Daniele B.  (1993)

Der 40-jährige Daniele B. war 1993 in Genua von der Polizei unter dem Vorwurf festgenommen worden, ein Kokainhändler zu sein. B. beteuerte seine Unschuld, wurde aber zunächst zu 18 Jahren und im Berufungsprozess schließlich zu 15 Jahren Haft verurteilt. B. fuhr ein ähnliches Auto wie ein gesuchter Drogenboss. Erst nach der Entdeckung von Unregelmäßigkeiten bei den Ermittlungen wurde sein Fall neu aufgerollt.
Mehrere Polizisten wurden verhaftet. «Ich werde jetzt Italien verlassen und im Ausland ein neues Leben beginnen», kündigte B. an. Er sei verbittert, dass sich bisher niemand bei ihm entschuldigt habe. «Dabei hatten 14 Carabinieri beim Prozess gegen mich ausgesagt».

Gemäß Medienberichten handelt es sich bei den vier Millionen Euro für B. um die höchste bisher in Italien zuerkannte Entschädigung.

Quellen: - Volksstimme online v. 8.2.2003, Freizeit



8. Der Fall – Peter H.   (2003)

Fast zehn Jahre nach dem Mord am 5.7.1993 an einer 28-jährigen Salzburger Taxifahrerin, neun Jahre nach der Verurteilung des nunmehr 29-jährigen Peter H. aus Gmunden zu 20 Jahren Haft und nach fünf Verhandlungswochen im Wiederaufnahme-Verfahren stand am 16 Mai 2003 fest: Der Angeklagte wird vom Vorwurf des schweren Raubes und des Mordes freigesprochen - mit einstimmigem Votum aller acht Geschworenen. Der Fliesenleger war deswegen schon 1994 zu 20 Jahren Haft verurteilt worden und saß insgesamt acht Jahre im Gefängnis. Im Jahr 2001 wurde seinem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens schließlich stattgegeben.
H. hatte kurz nach seiner Festnahme hatte er die Tat fünf Mal gestanden, danach widerrief er. Er bezeichnet sich als Opfer eines Justizirrtums. 2001 wurde er enthaftet und sein Antrag auf Wiederaufnahme genehmigt.
Nach zahlreichen Vernehmungen und Beschimpfungen durch die ermittelnden Gendarmen sei er mit den Nerven fertig gewesen und habe Angst gehabt. "Mir ist vorgehalten worden, dass meine Haare im Taxi gefunden und meine Fingerabdrücke sichergestellt worden sind", schilderte H. Als er hartnäckig bestritten hatte, etwas mit dem Mord an der Taxilenkerin Claudia Deubler zu tun zu haben, habe ein Kripo-Beamter gesagt, dann werde man ihn "halt eine Nacht beleuchten, dann wird er es schon zugeben". Ihm sei gesagt worden, dass er bei einem Geständnis "billiger davon komme", dass er, wenn er bei seiner Aussage bleibe, in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher komme und, dass "die sich schon freuen, wenn ich dort hinkomme". Schließlich habe er das Geständnis abgelegt, "damit Ruhe ist".
"Die Beamten haben mir gesagt, wenn ich nicht gestehe, dann komme ich in eine Anstalt für Abartige. Ich war nervlich völlig fertig, hatte nichts geschlafen. Da hab' ich dann gesagt, ich will eine Niederschrift machen. Ich wollte endlich meine Ruhe." Mehrmals bekräftigte der Angeklagte gegenüber dem Vorsitzenden Richter Peter Reifenberger, dass er nach den "vielen Verhören und Beschimpfungen" durch die ermittelnden Gendarmen die Geständnisse nur "aus Angst und wegen des großen Drucks" abgelegt habe. Die Geständnisse seien dabei "rein auf die Vorhalte der Beamten hin" entstanden. Er, H., habe zudem gedacht, dass "die Beamten weiter ermitteln würden und die Wahrheit dann sowieso rauskommt". Erst als ihm später klar geworden sei, dass die Ermittler "meine Unschuld nicht beweisen werden", habe er widerrufen.
Das Gericht erkannte H. unter Vorbehalt der Rechtskraft des Urteils Haftentschädigung "dem Grunde nach" zu, und zwar für 2865 Tage. Dabei ließ Richter Reifenberger, der schon im Prozess herbe Kritik an "Ermittlungsfehlern" von Beamten des Landes-Gendarmeriekommandos wegen verschwundener Aktenvermerke, zu spät eingelangter Beweisstücke und unzureichender Beweissicherung geübt hatte, neuerlich aufhorchen: Entschädigung gebühre H. auch für seine erste Verhaftung, die ohne Information der Staatsanwaltschaft und ohne gerichtlichen Haftbefehl erfolgt sei. "Dass der Tatverdacht entkräftet ist, ist durch den Freispruch dokumentiert," so Reifenberger.
Gegen sechs Ermittler hat die Staatsanwaltschaft gerichtliche Vorerhebungen beantragt; fünf waren als Zeugen im Prozess gehört worden - was die Verteidigung zur Strafanzeige u. a. wegen Verdachts des Missbrauchs der Amtsgewalt und falscher Aussage motivierte.»
Die Staatsanwältin hatte auf "Schuldig" plädiert.
Das Vorstehende ist eine Zusammenfassung aus den Salzburger Nachrichten, die eine Fülle von Berichten über den Prozess brachten.
«... Im Mordfall Deubler in Salzburg sollen nun vier Kriminalbeamte jeweils 40.000 Euro zahlen. Wegen ihrer Ermittlungen saß der Gmundner Peter Heidegger acht Jahre unschuldig im Gefängnis. Er erhielt später 950.000 Euro Haftentschädigung, einen Teil will sich der Staat nun von den Kriminalisten wieder zurückholen, berichten die "Salzburger Nachrichten" (SN) in ihrer Freitagausgabe ...»

Quellen: - networld.at v. 20.05.2006   - Grabher, Reinhard: 2865 Tage. Der Fall Peter Heidegger. - Wien: Czernin 2007. - S. 156



9. Der Fall – Arthur B.

Im zweiten Prozess um den Dreifachmord auf dem Gestüt «Bosenhof» hat das Landgericht Bad Kreuznach heute den 38-jährigen Arthur B. vom Vorwurf der Anstiftung zum Mord freigesprochen. Der Bauunternehmer wurde aber wegen Nichtanzeigens eines geplanten Raubes zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt. Weil er bereits 26 Monate in Untersuchungshaft verbüßt hat, konnte der 38-Jährige den Gerichtssaal als freier Mann verlassen. Mit dem Urteil folgte das Gericht übereinstimmenden Anträgen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung.
B. hatte stets jede Mittäterschaft in dem Mordfall bestritten und ausgesagt, der als Drahtzieher der Morde verurteilte Rupertus S. habe ihn gedrängt, Handlanger anzuwerben für den Raub eines angeblichen Millionenvermögens von einem der Opfer. Darauf habe er sich jedoch nicht eingelassen.
Der Vorsitzende Richter, Volker Mey, sagte, B. habe zwar keine Handlanger für den Raub vermittelt, die Tat jedoch auch nicht zur Anzeige gebracht. Mit den Morden habe B. nach Anhörung aller wichtigen Zeugen offenbar nichts zu tun. "Das ist nicht der Mann, der eiskalt bei der Tötung von drei Frauen mitgewirkt hat", sagte Mey.
Im ersten Prozess war B. im November 2001 schuldig gesprochen worden, im Auftrag von S. zwei Killer für den Dreifachmord engagiert zu haben. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte das auf zehn Jahren Gefängnis lautende Urteil im Januar wegen eines Verfahrensfehlers wieder aufgehoben.
Staatsanwalt Norbert Grieser unterstrich heute in seinem Plädoyer, der Vorwurf der Beteiligung an den Morden habe in der Revisionsverhandlung nicht vollends widerlegt werden können. Im Zweifel müsse aber für den Angeklagten entschieden werden. B. sagte, er sei "froh freizukommen", aber "nicht glücklich, wie es gelaufen ist". Er habe auf eine Entschuldigung der Kriminalpolizeibeamten gehofft, die ihn im ersten Prozess durch eine verzerrende Darstellung seiner Aussagen mit den Morden in Verbindung gebracht hätten. Nach Einschätzung seiner Rechtanwälte ist B. dennoch «vollständig rehabilitiert». Anwalt Heiko Lesch betonte, der Fall sei damit zwar für die Justiz abgeschlossen, aber nicht gelöst worden. Viele Sachverhalte blieben ungeklärt.
Mit seinem Urteil wegen des Tatbestands der Nichtanzeige kehrten die Richter zum ursprünglichen Vorwurf aus dem ersten Prozess zurück. Im Verlauf des damaligen Verfahrens hatte das Gericht die Anklage auf den Vorwurf der Anstiftung zum Mord ausgeweitet. Die Tatsache, dass das Gericht seinerzeit einen Antrag der Verteidigung auf Aussetzung des Verfahrens ablehnte, wertete der BGH später als Verfahrensfehler.
Das Urteil gegen Rupertus S., der als Drahtzieher der Morde eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt, blieb hingegen rechtskräftig. S. hatte die Morde demnach aus Habgier in Auftrag gegeben, weil er wegen der Scheidungsabsichten seiner Frau um seine Existenz fürchtete.»

Quellen:  -e110 v. 17.11.2003



10. Der Fall – Steven Truscott

Freispruch fast 50 Jahre nach dem Todesurteil

Ottawa, 4. September - Das Appellationsgericht der kanadischen Provinz Ontario hat den 62-jährigen Steven Truscott fast ein halbes Jahrhundert nach seiner Verurteilung zum Tod durch den Strang freigesprochen. Im Sommer 1959 war der damals erst 14-jährige Schüler von der Polizei beschuldigt worden, eine zwei Jahre jüngere Mitschülerin, Lynne Harper, vergewaltigt und mit ihrer Bluse erwürgt zu haben. Die Berufung des Halbwüchsigen, der stets seine Unschuld beteuerte, wurde im Januar 1960 vom selben Gericht, das ihn jetzt freisprach, verworfen, worauf der Oberste Gerichtshof es ablehnte, sich mit dem Fall zu befassen.

Zehn Jahre im Kerker

Für den Verurteilten war es ein glücklicher Umstand, dass der damalige Premierminister Diefenbaker die Todesstrafe verabscheute und das Todesurteil in lebenslange Haft umwandelte. Dazu kam das allgemeine Unbehagen wegen des jugendlichen Alters des Todeskandidaten. Dennoch musste Truscott zehn Jahre im Kerker verbringen, bevor er auf Bewährung entlassen wurde. Die Entlassung war ein hart erkämpfter Erfolg Truscotts und eines kleinen Kreises von Anwälten und Gönnern, die zu beweisen versuchten, dass es sich um ein Fehlurteil handelte. Als besonders bedeutend erwies sich das 1966 erschienene Buch «Der Prozess gegen Steven Truscott» von Isabel LeBourdais, das die Bundesregierung veranlasste, den Fall doch noch dem Obersten Gerichtshof «zur Begutachtung» zuzuleiten.
Der Supreme Court bestätigte 1967 mit der überwältigenden Mehrheit von acht Richtern gegen eine abweichende Stimme den Schuldspruch, doch erwies sich diese einzelne Stimme zuletzt als gewichtiger. Der angesehene richterliche Dissident, Emmet Hall, bezeichnete den ursprünglichen Prozess als rechtswidrig und geißelte den Entscheid als Justizirrtum. Es dauerte noch etliche Jahrzehnte, bis sich die Meinung Halls nach verschiedenen Kommissionsberichten und Empfehlungen des Justizministers durchsetzte. Der Freispruch, zu dem sich das Appellationsgericht soeben durchgerungen hat, fußt auf den Ausführungen des Richters Hall.
Wie das Appellationsgericht nun feststellte, hatte die Anklage dem erstinstanzlichen Gericht verfälschte Beweise vorgelegt und Entlastungsbeweise unterschlagen. Nach 48 Jahren war es kein leichtes Unterfangen, den Hergang der polizeilichen Ermittlungen sowie des anschließenden Prozesses zu rekonstruieren. Im Brennpunkt stand der Zeitpunkt des Todes von Lynne Harper. Truscott, der zugab, das Mädchen am fatalen Tag mit seinem Velo auf der Landstrasse für eine kurze Wegstrecke – bis zu einer bestimmten Kreuzung – mitgenommen zu haben, kam lediglich für eine kurze Zeitspanne als Täter in Frage.
Hier zeigte der Obduktionsbericht schillernde Varianten. Nachdem der verantwortliche Mediziner sich für den Eintritt des Todes auf einen viel späteren Zeitrahmen festgelegt hatte, änderte er seinen Befund, als die Polizei ihm klarmachte, dass der junge Steven lediglich zu einem früheren Zeitpunkt «verfügbar» war. Truscotts Verteidiger und das Gericht erster Instanz erfuhren nichts von diesen «Berichtigungen». Darüber hinaus verschwieg die Anklage auch etliche entlastende Zeugenaussagen, die im Widerspruch zur offiziellen Version standen.
Die Polizei, die sich bereits einige Tage nach dem Mordfall auf den jungen Truscott als Täter eingeschossen hatte, versäumte es überdies, andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. So wurde unter anderem die Behauptung Truscotts, er habe beim Zurückblicken gesehen, wie das Mädchen an der Kreuzung in ein Auto stieg, übergangen. Truscott gab Gestalt und Farbe des Autos an. Die Anklage fegte dies mit der Behauptung vom Tisch, das Mädchen hätte nie Autostopp gemacht – was den bereits damals bekannten Tatsachen widersprach.

Gefährliche Rechtslogik

Nun hat in Kanada die Stunde der Gewissenserforschung geschlagen, sowohl für das Justizwesen, das unter der Oberfläche nach wie vor von seiner Unfehlbarkeit überzeugt ist, als auch für die Öffentlichkeit, die nicht so leicht den Glauben an diese Unfehlbarkeit aufgibt. Das Appellationsgericht selbst, das Truscott freisprechen musste, konnte es sich nicht versagen, ihm einen Wermutstropfen in den Freispruch zu mischen. Trotz dem Eingeständnis, dass vor 48 Jahren ein Justizirrtum unterlaufen sei, betonen nun die Talarträger, dass Truscott, der mangels Beweisen freizusprechen war, seine tatsächliche Unschuld nicht bewiesen habe. Einige Kritiker stoßen sich an solchen Worten. Sie sind der Meinung, dass diese gefährliche Logik eine Umkehrung der strafrechtlichen Beweislast bedeuten würde. Wie vermutet wird, handelt es sich dabei auch um den Versuch, die nun anstehenden Verhandlungen um eine finanzielle Entschädigung Truscotts zu beeinflussen. Nur langsam setzt sich dabei die Einsicht durch, dass als Ergebnis der Hexenjagd gegen Truscott der wirkliche Täter entkommen ist.

Quellen: - 5. Septemuber 2007, Neue Zürcher Zeitung



11. Der Fall - She Xianglin

Angebliches Mordopfer lebt noch.

Elf Jahre saß ein Chinese als Mörder seiner Ehefrau im Gefängnis - jetzt tauchte sie wieder auf.
Der 39jährige She Xianglin saß seit elf Jahren wegen Mordes an seiner Frau im Shanyang-Gefängnis in Zentralchinas Provinz Hubei. Vergangenen Freitag holte ihn ein Polizeiwagen ab. Er habe sich gedacht, "jetzt erschießen sie mich doch", sagte er der Zeitung "Nanfang Dushibao". She aber kam nur vor den Haftdirektor. Der teilte ihm mit, dass seine Frau noch lebt. Ende März sei sie bei ihm in der Gegend aufgetaucht. Er sei frei und könne gehen. "Ich starrte ihn nur verständnislos an."
Ein neuer Justizirrtum macht Schlagzeilen. Seit dem Wochenende erregen sich offizielle Medien ebenso wie Internet-Portale über das Schicksal des jungen Hilfspolizisten. Ihm war im Januar 1994 nach sieben Jahren Ehe die Frau weggelaufen. Die Nervenkranke glaubte, von ihrem Mann betrogen worden zu sein. Sie ließ ihm ihre sechsjährige Tochter zurück und rannte ziellos drei Monate durch die Gegend. In der Nachbarprovinz Shandong heiratete sie dann einen Bauern, der sie aufgenommen hatte.
She Xianglin aber fand keine Spur mehr von ihr. Er wurde zum Hauptverdächtigen, als andere Bauern drei Monate später auf eine nicht mehr identifizierbare Frauenleiche mit Kopfverletzungen stießen. 20 Polizisten nahmen She in die Mangel, recherchierten chinesische Zeitungsjournalisten. Er wurde zehn Tage und Nächte und danach weitere fünf Tage verhört, geschlagen und an den Fingern verkrüppelt. Einer der Ermittler drohte ihm mit der Pistole. "Ich kann dich erschießen, wann ich will."
Zhang gestand unter der Folter, seine Frau erschlagen zu haben. Obwohl er später widerrief, verurteilte ihn im Oktober 1994 im Schnellverfahren das Jingzhou-Gericht in erster Instanz zum Tod. Die nächste Instanz kassierte das Urteil, weil ihr die Indizien zu fragwürdig schienen. She wurde schließlich zu 15 Jahren Haft wegen Mordes verurteilt.
Er hatte noch Glück angesichts der vielen Fehlurteile, die derzeit aufgedeckt werden. Chinas Presse ruft nach weniger Todesstrafen, nach dem sofortigen Ende von mit Gewalt erzwungenen Geständnissen und nach Entschädigung für die Opfer. Entsetzen löste der Fall des Bauers Nie Shubin aus Nordchina aus, der auch im Herbst 1994 wegen angeblicher Vergewaltigung mit Todesfolge verurteilt wurde. Er wurde ein halbes Jahr später am 27. April 1995 erschossen. Seine Mutter durfte ihn in der Haft nur einmal für zwei Minuten sehen. Der 20jährige war innerhalb einer Woche mit Gewalt zum Geständnis gezwungen worden. Als sein Vater ihm am 28. April Sachen für die Haft bringen wollte, wiesen Wärter ihn mit den Worten ab: "Du brauchst nicht mehr zu kommen. Dein Sohn ist gestern erschossen worden." Im Januar 2005 wurde der wahre Täter Wang Shujin in Henan wegen einer anderen Straftat verhaftet. Er gestand die damalige Vergewaltigung.
She Xianglin dagegen hatte Glück. Seine davongelaufene Frau erinnerte sich am 25. März plötzlich an ihr erstes Leben. Nach elf Jahren kam sie wieder nach Hause, ohne jede Ahnung, dass ihr erster Mann im Gefängnis saß.

Quellen: - Welt Online vom 5. April 2005 (von Johnny Erling)



12. Der Fall - Nie Shubin

Nirgends werden so viele Hinrichtungen vollstreckt wie in China. Nun sorgt ein altes Fehlurteil für Aufmerksamkeit
PEKING. Der Fall ist 13 Jahre alt, aber erregt die chinesische Öffentlichkeit wie nie zuvor. "Wer stellt die verlorenen Ehre von Nie Shubin wieder her?", fragt etwa die Wochenzeitung Southern Metropolis Weekly. Der Anlass für die Aufregung:
Zum ersten Mal will die chinesische Justiz Rechenschaft über ein verfehltes Todesurteil ablegen
Für Nie Shubin kommt alle Ehrenrettung zu spät. Im Jahr 1994 war der damals 21-jährige Bauer aus der Provinz Hebei wegen Vergewaltigung und Mord zum Tode verurteilt worden. Ein halbes Jahr später vollzogen die Behörden das Urteil per Genickschuss. Zehn Jahre später gestand der wirkliche Mörder Wang Shujin diese Tat samt drei weitere Morde.

Erschießung in China

Die lokalen Justizbehörden wollten ihren Irrtum kaschieren. Sie lehnten die Revision des Falls ab, weil Nies Mutter, Zhuang Huanzhi, die Urteilspapiere nicht vorlegen konnte. Diese hatte sie nie erhalten. Im Mai dieses Jahres bekam sie die Papiere von einem Unbekannten zugesandt. Damit ging sie zum Obersten Volksgerichtshof, und der nahm sich nun des Falles an.
Kritische Stimmen erhoffen sich viel von diesem Fall. "Wangs Geständnis hat eine Justizreform in Gang gebracht", sagt He Weifang, Juraprofessor an der Peking-Universität. Er gehört zu den wenigen chinesischer Juristen, die sich offen für die sofortige Abschaffung der Todesstrafe aussprechen. Die Reform, von der He spricht, gilt seit Anfang dieses Januar. Seither ist der Oberste Volksgerichtshof in Peking, Chinas höchste richterliche Instanz, wieder allein für die Revision und Vollstreckung von Todesurteilen zuständig. Seit 1983 hatte die Regierung aus Sorge um soziale Stabilität auch Provinzgerichten erlaubt, verhängte Todesurteile selbst zu bestätigen.
China vertraute auf Abschreckung durch so genannte "Hart durchgreifen"-Kampagnen. Hastige und unfaire Verfahren sowie krasse Fehlurteile nahm man dabei in Kauf. Doch in den letzten Jahren regte sich bei vielen Juristen Widerstand. Grund dafür war nicht zuletzt die wachsende Zahl aufgedeckter Justizirrtümer wie der Fall Nie.
Die Rückgabe der Verantwortlichkeit für Todesurteile an den Obersten Volksgerichtshof hat laut der Menschenrechtsorganisation Dui Hua in diesem Jahr zu einem Rückgang der Todesurteile in China geführt. Trotzdem liegt deren Zahl weltweit weiter vorn. Laut amnesty international wurden 2006 in China mindestens 1.010 Todesurteile vollstreckt.

Quellen: - taz.de (von Georg Blume)



13. Der Fall - Berger oder: „Das falsche Geständnis“  (1834)

1868 veröffentlichte man die Akten des Falles Berger. Da aber damals die Richter noch lebten, die ihn verhandelt hatten, verschwieg man ihre Namen sowie den Namen des pommerschen Ortes, in dem er gespielt hatte. Seither sind die pommerschen Gerichtsakten in den Zeitwirren verlo­rengegangen, und die richtigen Namen lassen sich nicht mehr ermitteln.

Gleichwohl ist der Fall verbürgt.

Er begann damit, daß am 5. September 1834 der achtundsechzigjährige Hirt Meier im pommerschen Walde tot aufgefunden wurde, unter einem Tannengebüsch ver­steckt und zweifelsohne ermordet. Ermordet aber auf eine grauenhafte und noch kaum je dagewesene Art: Die Un­tersuchung ergab, daß der Täter dem beleibten Mann zu­erst den Schädel eingeschlagen, dann aber noch die Puls­adern geöffnet hatte, um ihn verbluten zu lassen; erst da­nach hatte er dem völlig ausgebluteten Leichnam ein hand­tellergroßes Stück Fett so sachgemäß aus dem Unterleib geschnitten, daß die Muskulatur darunter sichtbar und or­dentlich dalagen wie nach einer Sektion; dies Stück Fett war verschwunden. Geraubt war nichts, man hatte dem Opfer Hirtentasche, Hirtenstock, Pfeife und Brotmesser sowie die vierzehn Pfennig gelassen, die der mittellose Mann bei sich trug, und nur sein Tabaksbeutel und sein Feuerstahl waren verschwunden. Das bestätigten sein Dienstherr und seine Tochter.
Der kunstgerechten Tötung wegen schloß man auf einen Fleischer als Täter und verhaftete denn auch einen vaga­bundierenden Metzgergesellen, der am Mordtage im na­hen Dorf gebettelt hatte und seines »abschreckenden Ge­sichts« wegen aufgefallen war; der Mann verwickelte sich dann auch in einige Widersprüche; doch mußte er am 5. Dezember aus Mangel an Beweisen freigesprochen und entlassen werden. Die Tat blieb im dunkeln, und vor allem das Tatmotiv: Warum war jener als friedlich bekannte, bit­ter arme Greis auf so furchtbare Weise ermordet worden?
Erst anderthalb Jahre nach der Tat, am 9. Februar 1836, brachte ein Zufall die Klärung. Der zuständige Landrat kam auf einer Dienstreise durch dasselbe Dorf; plötzlich drängte sich die Tagelöhnersfrau Wilhelmine Berger laut weinend in das Amtszimmer. Ihr Mann habe sie, wie fast täglich, geschlagen, schrie sie; diesmal aber habe er sogar ihren alten Vater geschlagen; man möge ihn doch verhaf­ten und festsetzen, denn sie habe Angst, daß er sie eines Tages totschlagen werde, wie er den Hirten Meier damals totgeschlagen habe!
Man arretierte den Mann sofort, einen wegen mehrerer kleiner Diebstähle vorbestraften Gelegenheitsarbeiter, der, als Sohn einer armen Magd, die Schule nur bis zum elften Lebensjahre besucht hatte und weder lesen noch schreiben konnte. Elf Tage lang bestritt er die Tat; dann jedoch ließ er sich dem Untersuchungsrichter vorführen und gestand. Er gestand einen Mord aus Aberglauben. Sein Schwiegervater, der Tagelöhner Rogge, habe ihm und seiner Frau, so erzählte Berger unbewegten Gesichts, des öfteren von den »Diebslichtern« erzählt; das seien Kerzen, die man am besten aus dem Fett ungeborener Kinder, not­falls aber auch aus sonstigem Menschenfett zubereiten müsse; zünde man solche Lichte während eines Diebstahls an, so müsse er gelingen, weil sie das Aufwachen der Bestohlenen verhinderten.
Dieser Aberglaube war dem Un­tersuchungsrichter nicht unbekannt und ist noch immer nicht erloschen; noch im ersten Jahrzehnt unseres Jahr­hunderts wurden schwangere Frauen der Diebs lichter we­gen ermordet, und ich selbst erlebte 1952 im bayrischen Allgäu, wie sich ein der »Hexerei« Angeklagter darauf be­rief, daß er selber ja nur »weiße Magie« treibe, seine Kolle­gen von der »schwarzen Magie« aber noch Diebslichter herstellten und verkauften. So war es nicht verwunderlich, daß dem Richter die Erzählung Friedrich Bergers durch­aus glaubhaft schien.
Daraufhin habe nämlich, so berichtete Berger weiter, seine Frau ihn gedrängt, solche Diebslichter zu besorgen und zu diesem Zwecke einen Menschen zu erschlagen. Wie sie ihn zu all seinen Diebstählen angestiftet habe, so habe sie ihm auch hierin keine Ruhe gelassen und schließlich den Hir­ten Meier als Opfer vorgeschlagen, weil der ja alt und we­nig widerstandsfähig und immer allein anzutreffen, ande­rerseits aber doch wohlbeleibt sei. Lange habe er, Berger, widerstanden; endlich habe er sich doch einmal aufge­macht und den Hirten angesprochen, um ihn in ein Ge­spräch zu verwickeln; der Alte habe aber so freundlich ge­antwortet, daß er die Tat nicht über sich gebracht habe. Doch habe seine Frau weitergedrängt, und am 4. Septem­ber 1834 habe er den Mord dann vollbracht.
Er schilderte die Tat in allen Einzelheiten: »Ich ging mit ihm eine Stunde zusammen, blieb darauf etwas zurück und versetzte ihm einen Hieb mit einem Tannenknüppel von hinten auf den Kopf, worauf er sogleich lautlos zu Boden stürzte; so hatte es mich meine Frau gelehrt. Darauf, zog ich mein Taschenmesser . . .« Er beschrieb die Hiebe und Schnitte so genau, wie sie an der Leiche konstatiert worden waren, berichtete wie er eine Stunde gewartet habe, ehe er das Fett für die Diebslichter entnahm. »Mir war sehr beklommen, und das Herz schlug mir, ich dachte aber, ich müsse die Tat ausführen.« Am anderen Morgen habe er seine Frau zur Nachbarin um eine Lichtform ge­schickt - diese Nachbarin wurde später vernommen und bestätigte seine Aussage. Auf das exakteste malte er dann die Versuche zur Herstellung der Kerzen aus; indessen sie mißlangen, das Fett gerann nicht; vermutlich hat es also »echte« Diebslichter in Wirklichkeit nie gegeben.
Alles das habe er bekennen müssen, schließt Berger, denn sein Gewissen lasse ihm keine Ruhe; doch möge der Richter bedenken, daß er den Mord nur auf Anstiftung seiner Frau hin begangen habe. Und nun erst und zum einzigen Mal bricht er in Tränen aus: »Dies ist mein treues und offenes Geständnis, ich habe ihm nichts hinzuzusetzen und bitte, mich doch nicht mit dem Tode zu bestrafen. Ich will gern auch die härteste Gefängnisstrafe erleiden, wenn ich nur am Leben bleibe. Ich flehe die Gnade meiner Richter an, um doch nur das Leben zu erhalten.«
Zweimal wiederholt er sein Geständnis, und seine Frau, die nun auch verhaftet wird, bestätigt, daß sie von allem gewußt habe; nur angestiftet habe sie ihn nicht.
Die Überstellung der beiden ins Gerichtsgefängnis der na­hen Stadt wird beschlossen; bei dieser Uberführung wird, wie es später im Urteil heißt, ein unverzeihlicher Fehler begangen: man befördert beide im gleichen Wagen, und sie können ungestört miteinander sprechen. Und kaum sind sie im Gerichtsgefängnis angelangt- da widerrufen sie beide!
Berger berichtet nun, wie es im dörflichen Gefängnis so bitter kalt gewesen sei und wie sein Strohlager von Läusen gewimmelt habe; das habe er nicht mehr ertragen können und nur deshalb ein falsches Geständnis abgelegt, um in angenehmere Haft zu kommen. Überdies habe ihm der Gefangenenwärter dies Geständnis durch die Mitteilung erleichtert, daß Berger ja als Soldat gedient habe und des­halb nicht mit dem Tode bestraft, sondern gewiß nur in eine Strafkompanie eingereiht werde, falls er gestehe. Den Mord an Meier habe er gar nicht begehen können, weil er zu dieser Zeit als Schiffer verdingt und auf Fahrt gewesen sei; er bietet den Schiffsbesitzer als Zeugen dafür an. Und schließlich sagt er: »Ich hätte aber auch gestanden, wenn mir der Wärter gesagt hätte, daß ich mit dem Tode bestraft würde, denn ich habe die fortgesetzten Fragen und Ver­höre einfach nicht mehr aushalten können!« Und Bergers Frau erklärt nun: »Ja, ich habe das alles gestanden, aber es ist nicht die Wahrheit; ich sagte es nur aus Haß gegen ihn, weil er mich vorher so gewaltig geprügelt hat; und ich habe mir das alles nur ausgedacht, um von ihm loszukommen.«
Das Gericht, das sei betont, nimmt diesen Widerruf durchaus ernst; alle Behauptungen Bergers werden über­prüft. Die üblen Zustände im Dorfgefängnis bestätigen sich: es hat keinen Ofen und wird nur dadurch erwärmt, daß der Aufseher gelegentlich die Tür zwischen der Zelle und seiner Wachstube offenläßt; der Boden ist nur aus Ziegeln und immer feucht; das Stroh wird nur alle vier Wochen gewechselt und beherbergt tatsächlich Ungezie­fer; Decken werden nicht ausgegeben. Es bestätigt sich ferner, daß der geistig nicht eben rege Berger unter den ständigen Verhören litt; oft hat er gesagt: »Schreiben Sie, was Sie wollen, nur machen Sie bald ein Ende!« Und schließlich bestätigt der Wärter, daß er Berger mit dem Hinweis auf die Strafkompanie beschwichtigt habe - aber nur, um ihn zum Geständnis zu bewegen.
Indessen bricht Bergers Alibi zusammen: der Schiffer und seine Familie erklären, daß er erst nach dem Mordtage mit ihnen gefahren ist, und sie belasten ihn noch dazu durch ihre Aussage, daß er trotz der furchtbaren Tat, die er hin­ter sich hatte, allezeit fröhlich und unberührt gewesen sei. Alles das hält man Berger vor, und man wählt dazu, um Eindruck auf ihn zu machen, das feierliche Schwurzimmer zur Mitternachtsstunde; er aber sagt »ruhig und unbefan­gen«: »Ich habe den Meier nicht ermordet. Wenn Gott vom Himmel stiege und hier lebendig vor mich träte, so würde meine Unschuld an den Tag kommen. Ich habe keine Strafe verdient, und würde ich bestraft, so wäre es das größte Unrecht.«
Im Protokoll aber vermerkt das Gericht: »Die Feder sträubt sich, das Sinnlose dieses Widerrufes näher darzu­tun; es ist nur ein letztes Mittel, sich vor der gefürchteten Strafe zu retten, indem der Angeklagte es wagt, ein vor ei­nem ordentlichen Gericht in vier Verhören freiwillig ab­gegebenes Geständnis gänzlich abzuleugnen; die Angabe des Angeklagten fällt als durchaus leere und freche Aus­flucht ins Auge.«
Und ohne öffentliche Verhandlung und ohne Geschwore­ne, nur von kundigen, gründlichen und um Gerechtigkeit bemühten Fachrichtern, wird das Urteil gesprochen und begründet, nicht ohne daß Bergers volle Zurechnungsfä­higkeit ausdrücklich festgestellt worden wäre. Es wird scharfsinnig und nach den Gesetzen der Logik schlüssig und unwiderleglich ausgeführt, daß Berger die Leiche des Hirten nach ihrer Auffindung ja nie gesehen hatte und dennoch alle Verletzungen genauso beschrieb, wie die Obduktion sie zeigte - also mußte er der Täter gewesen sein. Die Geständnisse Bergers und seiner Frau werden mühelos damit erklärt, daß das Weib ihren Mann loswer­den und der Mann sich dann an seinem Weibe rächen woll­te, indem er es der Anstiftung beschuldigte; die Widerrufe aber damit, daß man bei der gemeinsamen Fahrt und Aussprache im Gefängniswagen eingesehen habe, wieviel bes­ser es sei, am selben Strang zu ziehen, und wie sehr die ge­meinsamen Interessen dies geböten. Auch habe Berger, als bitter armer Mann, in seiner Scheune ebenso kalt und feucht und auf ebenso fauligem Stroh gelegen wie im Ge­fängnis; dazu sei der Winter sehr milde gewesen; es sei ihm also nicht zu glauben, daß er nur einer Hafterleichterung wegen gestanden hätte. Und schließlich sei das Entleihen der Lichtform bezeugt. Gestohlen habe er schon immer, und abergläubisch sei er auch, und mithin sei der Mord um der Diebslichter willen ein durchaus glaubhaftes Motiv. Er sei überführt.
Und während Wilhelmine Berger vorläufig freigesprochen wird, »erkennt der Kriminalsenat des Obergerichts zu I. für Recht, daß der Inquisit Friedrich Berger wegen Mor­des mit dem Rade von oben herab vom Leben zum Tode zu bringen sei«.

Und diesmal sträubt sich die Feder nicht.

Berger reicht ein Gnadengesuch ein. Aber »das Gericht fand sich nicht bewogen, das Begnadigungsgesuch des Inquisiten allerhöchsten Ortes zu befürworten«. Doch wandelte der allerhöchste Ort »die Strafe des Rades in die milde des Beiles um«, wie es schon seit langem üblich war. Von da ab geht mit Berger eine merkwürdige Veränderung vor sich. Er bleibt bei seinem Widerruf, aber er zeigt sich ruhig und gefaßt. Vor allem nimmt er jetzt den »ihm ge­währten« geistlichen Trost und Beistand gern an. Viele Stunden lang unterhält er sich mit dem Pastor S. über Fra­gen des Glaubens, der Vergebung und der göttlichen Gna­de.
Am Tage vor der Hinrichtung, die auf den 21. März 1838, morgens acht Uhr, festgesetzt war, erbittet er sich als Zeichen seiner Versöhnung mit Gott das Abendmahl. Und nun erklärt ihm der Geistliche, »daß er ihm als einem unbußfertigen Verbrecher das Abendmahl verweigern müsse, solange er bei seinem Widerruf verbleibe!« Da wird Berger zum erstenmal wieder heftig, bricht in Tränen aus und wirft den Pastor aus der Zelle hinaus. Auch Rich­ter und Wärter, die ihn umzustimmen versuchen, bittet er, man solle ihn von dem »Pfaffen« befreien, denn der sei »gegen ihn ebenso schlecht wie die anderen«. Dann wird er schweigsam und verbringt den letzten Abend seines Le­bens bei der seit langem entbehrten Pfeife.
Aber als es Nacht geworden ist, um elf Uhr, bittet er plötzlich, noch einmal vernommen zu werden. Diese Ver­nehmung wurde natürlich protokolliert, und sie sei hier im Wortlaut wiedergegeben. Berger sagte:
»Ich sehe nun wohl, daß ich mich durch mein Geständnis doppelt unglücklich gemacht habe, denn doppelt unglück­lich ist der, welcher den Tod des Mörders sterben soll und doch keinen Mord auf seinem Gewissen hat. Wohl wis­send, daß ich auf Begnadigung nicht mehr zu hoffen habe, will ich jetzt, wo ich im Begriff stehe, vor Gottes Richter­stuhl zu erscheinen, die reine und volle Wahrheit sagen. Ich habe den Hirten nicht erschlagen, sondern ihn tot, das heißt ermordet, gefunden. Als ich ihn nun so daliegen sah, kam mir der Gedanke an die Diebslichter, ich weiß selbst nicht mehr, wie, und da sagte ich mir: Hier wäre nun eine schöne Gelegenheit, um dir solche Lichter zu fabrizieren, denn gestohlen habe ich oft, dies will und kann ich nicht bestreiten, aber gemordet habe ich niemand, habe auch nie in meinem Leben mörderische Gedanken gehabt, am we­nigsten gegen den Hirten Meier, den ich nur vom Ansehen kannte und der mir nie etwas zuleide getan. Und so grausig es mir auch war, so redete ich mir doch Mut ein und holte mein Messer hervor . . .
Alles, was meine Frau ausgesagt hat betreffs der Versuche, die Diebslichter zu gießen, ist richtig, alles andere erlogen und von ihr erfunden. Nie habe ich ihr gesagt, daß ich den Hirten umgebracht, vielmehr habe ich ihr stets der Wahr­heit gemäß mitgeteilt, wie sich alles zugetragen, und ich weiß nicht, wie sie mit einem Male auf den teuflischen Ge­danken verfallen ist, mich als den Mörder anzugeben. Wüßte ich oder mutmaßte ich, wer es gewesen wäre, so würde ich es sagen, aber ich weiß es nicht, habe auch auf niemanden Verdacht. Dies ist meine letzte Erklärung, über deren Wahrhaftigkeit ich Gott den Allwissenden zum Zeugen anrufe. Es mag wohl sein, daß auch diese Er­klärung sehr unwahrscheinlich klingt, aber dafür kann ich nicht. Es war so; Gott ist mein Zeuge!
Aus freien Stücken habe ich mich nicht eines so schweren Verbrechens angeklagt. Sie wissen nicht, was ich in N. ge­litten habe, wüßten Sie es, so würde es Ihnen schon erklär­lich sein. Man hat mich zu sehr gequält, bei Tag und bei Nacht, man hat mich nicht wie einen Menschen, man hat mich ärger als einen Hund behandelt. Ich habe vor Frost nicht schlafen können, dazu mich nicht satt gegessen, und ohne Unterlaß wiederholte man mir, ich sollte doch be­kennen, dann würde es mir besser gehen. Und da dachte ich mir, ich wolle nur sagen, was sie von mir gern zu hören wünschten, und sagte zu allen ja, besonders weil ich vom Wärter hörte, daß ich dann hierher kommen würde, wo es ein geheiztes Gefängnis und satt zu essen gäbe. Dies sind die einzigen Gründe, welche mich bewogen, mich selbst eines so abscheulichen Verbrechens zu beschuldigen. Weiter habe ich nichts zu sagen.«
In der Nacht kam seine Frau und winselte und flehte, ihn noch einmal sprechen zu dürfen. Er jedoch sagte: »Ich will sie nicht sehen. Ich habe jetzt meinen Frieden mit Gott gemacht. Aber man soll ihr sagen, daß ich ihr von Herzen verzeihe, was sie an mir verschuldet.«
Die Frau »klagte sich des Mordes an ihrem Ehemann an, rang verzweifelt die Hände, fiel auf ihre Knie, verlangte, man solle ihre Erklärung an den König gelangen lassen, sie habe ihren Mann aufs Schafott geliefert, er sei unschuldig. Aber die Richter kehrten sich an nichts, die Vollstreckungsordre lag in den Akten, die Anstalten waren getrof­fen, der Henker bestellt, das Publikum wartete.«
Soweit die alten Quellen. Bergers Frau ging und erhängte sich bald darauf in einem Erlenbruch.
Bergers letzte Worte waren: »Gott, vor dem ich in weni­gen Augenblicken stehen werde, weiß, daß ich unschuldig bin. Aber die Sonne wird es an den Tag bringen, wer es ge­tan hat.«
Dann starb er gefaßt, und die Akten schließen anerken­nend: »Er söhnte viele durch den männlichen Mut, mit dem er sein Schicksal ertrug, mit sich und seinem Verbre­chen aus.«
Die Feder sträubte sich wieder nicht. Er hat das Verbrechen nie begangen. Sechs Jahre später, am 19. Juli 1844, sollte in M. ein Ma­trose hingerichtet werden, der einen Rentner und dessen Magd ermordet hatte. Wie Berger ließ auch er sich am Abend vor der Hinrichtung dem Richter vorführen und gestand:
»Ich will, bevor ich vor Gott erscheine, mein Gewissen noch von einer schweren Last befreien. Ich habe vor zehn Jahren, im September 1834, im P.sehen Walde einen Hir­ten erschlagen, mit dem ich wegen Feuerschwamms in Streit geraten war, indem ich ihm im Zorn mit meinem starken Reiseknüppel mehrere Hiebe über den Kopf ver­setzte, so daß er tot zu Boden stürzte .. . Ich visitierte ihn am Leib und fand einen ledernen Tabaksbeutel, einen Feu­erstahl und vierzehn Pfennig in seinen Taschen. Letztere steckte ich wieder hinein, den Tabaksbeutel und den Stein aber nahm ich an mich und befinden sich dieselben unter den mir abgenommenen, deponierten Sachen. Damit kein Unschuldiger leide, gebe ich dies zu Protokoll.«
Diese Hinrichtung wurde sofort aufgeschoben, bis sich die Wahrheit der Aussage erwiesen hatte. Sie erwies sich leicht und ganz: die Tochter des Hirten erkannte Feuerstahl und Tabaksbeutel, und die Protokolle des Prozesses Berger er­gaben, daß man beides bei dem Leichnam des Hirten ver­mißt, die vierzehn Pfennige hingegen gefunden hatte. Ber­gers Exekution war Mord gewesen.
Eine Wiederaufnahme des Verfahrens fand gleichwohl nie statt. Vierzehn Jahre später wurde ja durch die Revolution auch in Preußen das öffentliche Schwurgerichtsverfahren eingeführt, und nun, so tröstete man sich, werde derglei­chen unmöglich sein.

Quellen: Unschuldig verurteilt – Aus der Chronik der Justizmorde (von Herrmann Mostar) Ausgabe 1979 – S. 46 – ISBN 3-7766-0937-0

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