5. Fall - Leopold Hilsner (1899)
Ein Sensationsprozess in den letzten Wochen des neunzehnten Jahrhunderts.
Einer der lehrreichsten und zugleich beklagenswertesten Sensationsprozesse der Neuzeit ist der gegen den jüdischen Schustergesellen Leopold Hilsner in den Jahren 1899 und 1900 vor den böhmischen Schwurgerichten in Kuttenberg und Pisek verhandelte Prozess wegen zweifachen Mordes, der mit der rechtskräftigen Verurteilung des Angeklagten zu Todesstrafe endete. Obwohl bisher alle Bemühungen, eine Revision des Prozesses zu erwirken und dem zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigten Hilsner die Freiheit wieder zu verschaffen, erfolglos geblieben sind, wird man bei ruhiger Prüfung vor dem Urteil nicht zurückscheuen dürfen, dass Hilsner auf Grund völlig ungenügender Beweise verurteilt worden ist und dass in ihm ein mindestens im prozessualen Sinne Nichtschuldiger sein Leben im Zuchthaus zu enden bestimmt ist, dessen Schwelle er als Zweiundzwanzigjähriger überschritt.
Selten sind in einem Prozesse gleich viel Faktoren suggestiver Massenbetörung – absichtlich und unabsichtlich – am Werke gewesen, die prozessuale Wahrheitsforschung zu erschweren und ihr Ergebnis zu verfälschen, und selten hat die Rechtspflege würdeloser vor dem Hass, der Lüge, der Dummheit die Waffen gestreckt wie in diesem Prozesse, der dazu ausersehen war, die letzten Wochen des neunzehnten Jahrhunderts durch einen der beschämendsten Justizirrtümer zu beflecken.
Der tschechischen Strafrechtspflege des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts war der traurige Ruhm beschieden, zu den Jahrbüchern der Kriminalistik das Musterbeispiel eines Strafprozesses beizusteuern, wie er nicht sein soll, eines Strafprozesses, in dem so gut wie alles geschehen ist, was hätte unterlassen, und so gut wie alles unterlassen ist, was hätte geschehen sollen.
Die meiner Arbeit gesteckten Grenzen verbieten mir, in eine ins einzelne gehende Kritik des gegen Hilsner geübten Verfahrens einzutreten und Punkt für Punkt die Fadenscheinigkeit, ja, Widersinnigkeit der gegen ihn vorgebrachten so genannten Beweise darzulegen. Leser, die sich näher über den Fall unterrichten wollen – und das sollte kein Kriminalist unterlassen, denn es gibt kaum einen anderen Straffall, der das für die Praxis so wichtige Kapitel von der suggestiven Beeinflussung der Zeugenaussagen so lehrreich illustrierte wie der Hilsnersche – finden das gesamte Material für die Bildung eines selbständigen Urteils in den Schriften von Nußbaum und Masaryk.
Die Geschichte des Falls, wie sie Nußbaum seiner Kritik des Prozesses vorausschickt ist folgende.
Die neunzehnjährige Agnes Hruza wird dicht neben dem Weg nach Klein-Wieznitz ermordet aufgefunden.
«Am 1. April 1899, dem Tage vor Ostern, wurde dicht an dem Wege von Polna nach dem Dorfe Klein-Wieznitz die neunzehnjährige Häuslerstochter Agnes Hruza mit einer großen Schnittwunde am Halse tot aufgefunden. Der Tat verdächtigt und nach fünftägiger Verhandlung (12. bis 16. September 1899) durch das Schwurgericht in Kuttenberg schuldig befunden wurde der zweiundzwanzigjährige jüdische Schustergeselle Leopold Hilsner. Das Verfahren war von der mehr oder minder deutlich ausgesprochenen Annahme des Ritualmordes beherrscht; sie schien auch einen gewissen Anhalt in dem Gutachten der Gerichtsärzte zu finden, nach deren Aussage an dem Fundort der angeblich völlig ausgebluteten Leiche nicht genug Blut vorhanden gewesen war.
Fundort der Leiche - dicht neben dem Weg nach Klein-Wieznitz.
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Das Dorf Klein-Wieznitz aus dem Agnes Hruza stammt ...
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und das Haus des Angeklagten Leopold Hilsner.
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Auf die Nichtigkeitsbeschwerde des Verteidigers Dr. Aurednicek forderte der Kassationshof in Wien ein Obergutachten der tschechisch-medizinischen Fakultät Prag ein. Nachdem die Fakultät ausgesprochen hatte, dass das Gutachten der Gerichtsärzte unzutreffend sei, vielmehr das aufgefundene Blut dem mutmaßlichen Blutverlust in etwa entspreche, hob der Kassationshof das bereits angefochtene Urteil auf und verwies den Prozess vor das Schwurgericht in Pisek.
Der Ort Polna um 1900
In dieser erneuten Verhandlung wurde eine weitere Anklage gegen Hilsner erhoben, nämlich wegen Ermordung der Marie Klima, eines Mädchens aus Ober-Wieznitz bei Polna, das seit dem 17. Juli 1898 verschwunden war und der man ein am 27. Oktober 1898 im „Herrschaftlichen Walde“ bei Polna gefundenes Skelett zuschrieb. Diese Anklage stützte sich vornehmlich auf gewisse übereinstimmende Erscheinungen, die der Leichenbefund in dem Falle Hruza und Klima angeblich aufwies und die nach Ansicht der Anklagebehörde den Schluss auf die Identität des Täters oder der Täter gestatteten. Dagegen lehnte der Staatsanwalt in Pisek, hauptsächlich mit Rücksicht auf das Fakultätsgutachten, die Annahme des Ritualmordes mit Entschiedenheit ab und suchte das Motiv für beide Mordtaten nun auf sexuellem Gebiet. Das Beweismaterial war freilich auf den Ritualmord zugeschnitten und die breiten Schichten der Bevölkerung blieben nach wie vor von dem Vorhandensein eines oder vielmehr jetzt zweier derartiger Religionsverbrechen überzeugt. Nach siebzehntätiger Verhandlung sprach das Schwurgericht in Pisek am 14. November 1900 Hilsner der beiden Morde schuldig. Hilsner wurde zum Tode verurteilt, aber zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Er befindet sich noch gegenwärtig in der Strafanstalt.»
(Stand der letzten Aussage, gemäß Erich Sello - 1910)
Dieser Ausgang ist dadurch herbeigeführt worden, dass sich eine skrupellose antisemitische Agitation, der jegliches Mittel recht war, sofort nach Auffindung der Leiche der Hruza, des Falles als eines willkommenen Stoffs bemächtigt und durch dauernde methodische Verhetzung die Gemüter der bildungs- und urteilslosen Masse in ein Netz des Wahns, des Hasses und der Selbsttäuschung verstrickt hatte, aus dem es für die zuallermeist den niedrigeren Bevölkerungsschichten angehörigen Zeugen kein Entrinnen gab. Auch hier zeigte es sich deutlich, dass in solchen Fällen die gemeine absichtliche Lüge eine weit geringere Gefahr für die Rechtsfindung bedeutet als der gutgläubige bornierte Fanatismus, der blind und taub gegen alles, was seine Kreise stören könnte, jegliches was er sieht und hört, so umdeutet, wie sein Wahn es ihm befiehlt. Von dieser gegen alle Einwendungen der Logik und der Physik gepanzerten Gemütsverfassung des einzelnen wie der Menge gibt es keine Brücke, die zur Wahrheit zurückführt.
Die Aussagen der Zeugen Cink und Pesak, die im Falle Hruza die wichtigsten Stützen der Anklage gegen Hilsner bildeten, sind schlagende Beispiele der sinn- und seelenbetörenden Macht, die solche Massensuggestion auf den einzelnen ausübt.
Anna Hruza hatte am 29. März um ¼ 6 Uhr die Wohnung der Schneiderin Prchal in Polna verlassen und war an diesem Abend gegen ½ 6 Uhr, offenbar auf dem Nachhausewege nach ihrem unfernen Heimatdorf begriffen, zum letzten Male lebend erblickt worden.
Am 24. April nun meldete sich ein Fuhrmann Cink mit der Angabe, dass er am 29. März, etwa zehn Minuten nach fünf Uhr, in Polna drei Juden, darunter Leopold Hilsner, „wie im Sprunge“ an sich habe vorbei und das Gässchen, in dem er sich befunden, hinunterlaufen sehen. Er habe sich danach, da er mit Strohabladen beschäftigt gewesen sei, nicht weiter um sie gekümmert. Das erwähnte Gässchen führt geradewegs zu einem Steg über den Mühlbach und über diesen direkt auf den Weg, den die Hruza bei ihren allabendlichen Heimgängen zu nehmen pflegte. Bei einer um fast drei Wochen späteren Vernehmung – es ist eine ganz typische Erscheinung, dass die Erinnerung solcher Zeugen von Vernehmung zu Vernehmung wächst – behauptete er, dass er den drei jüdischen Burschen von der Höhe seines mit Stroh beladenen Wagens nachgeblickt habe, wie sie ihren Weg jenseits des Mühlbachs eilig fortsetzten. Dabei habe er auf demselben, nach dem Brezinawald – dem spätem Fundort der Leiche – führenden Weg, eine Frauensperson bemerkt, die wegen des gerade beginnenden Regens ihren Rock über den Kopf gezogen gehabt hätte. Die Hruza konnte das nicht gewesen sein, diese hatte Polna erst später verlassen.
Aber eine Frau Johanna Vomela aus Klein-Wieznitz war genau um die von Cink angegebene Zeit dieses Weges gegangen, den später auch die Hruza genommen haben muss, hatte aber, wie sie bezeugte, auf dem ganzen Wege den Rock nicht über den Kopf geschlagen, weil es nicht geregnet habe, sondern schönes Wetter gewesen sei. Diese Angabe wurde durch die ombrologischen Verzeichnisse der Bürgerschule Polna, wonach es an diesem Tage nicht geregnet hatte, und die Bekundung des Zeugen Pesak bestätigt, dass es am 29. März gegen 5 ¼ Uhr ganz besonders schön und klar gewesen sei. Hatte also Cink den Angeklagten und seine beiden Genossen wirklich an demselben Tage an sich vorüberlaufen sehen, wo er kurz nachher eine Frau sich mit dem hochgeschlagenen Rock gegen den beginnenden Regen schirmen sah, so ist dieser Tag nicht der 29. März, nicht der Tag gewesen, an dem die Hruza aus der Zahl der Lebenden verschwand.
Zu dem gleichen unumstößlichen Ergebnis gelangen wir auf folgendem Wege. Unter den drei Juden, die nach Cinks Angabe am 29. März in der Richtung nach dem Brezinawald an ihm vorübergelaufen waren, sollte sich auch ein „hinkender Jude“ befunden haben. Diesen wollte Cink an demselben 29. wiederholt in Gesellschaft eines gewissen Hugo Fried und kurz vor 5 Uhr desselben Tages in Gesellschaft Leopold Hilsners betroffen haben. Hugo Fried aber hatte vom 24. März bis zum 3. April im Humpoletzer Krankenhause gelegen. Kam noch hinzu, dass der Schuhmacher Skareda, der ebenfalls den Angeklagten mit seinen beiden Genossen durch dasselbe Gässchen in derselben Richtung wie Cink hatte laufen sehen wollen, – er identifizierte übrigens den hinkenden Juden mit Hugo Fried – diesen Vorgang anfänglich auf den 22. März verlegt hatte und sich erst später eines Bessern auf den 29. besann – so schwindet jeder vernünftige Zweifel daran, dass sich der von Cink bezeugte Vorgang, durch den Hilsner in eine so verdächtige zeitliche und räumliche Nähe zu dem vermutlichen Zeitpunkt und dem Orte der Ermordung der Hruza gerückt wurde, entweder gar nicht oder an einem andern Tage als dem verhängnisvollen 29. zugetragen hat und hiermit zu einem für die Tat wie für die Täterschaft völlig belanglosem Ereignis wird.
Erst in der Kuttenberger Verhandlung – bei seiner früheren Vernehmung hatte er nichts davon bekundet – gab der Schneider Joseph Strnad an, dass auch er am 29. März um 5 Uhr nachmittags den Angeklagten mit seinen beiden Genossen in Polna habe laufen sehen, aber nicht das erwähnte Gässchen hinunter nach dem Mühlbachsteg zu, sondern in einem mindestens zehn Minuten entfernten Stadtteil; sie seien zum Bräuhaus hinaufgelaufen und geradezu in dessen Tor hinein gesprungen. Cinks und Strnads Ortsangaben waren nicht miteinander zu vereinigen; ebenso widersprachen sie einander in bezug auf die Kleidung, die Hilsner bei den von ihnen wahrgenommenen Vorgängen getragen hätte.
War es danach nichts mit den Aussagen der Zeugen, die den Angeklagten um die vermutliche Zeit der Tat auf dem Wege nach dem vermutlichen Tatort gesehen haben wollten, so war ebenso wenig mit der Aussage des Kleinbürgers Peter Pesak anzufangen, der sich erst nach Erhebung der Anklage mit einer Aussage meldete, die, wenn sie richtig war, den Streit über die Schuld ohne weiteres zu Hilsners Ungunsten entschieden hätte. Denn er wollte glauben machen, dass er den Angeklagten an dem kritischen Tage um 5 ¼ Uhr in der Gegend, wo später die Leiche gefunden wurde, unter Umständen beobachtet habe, die ihn in die allerdirekteste und verdächtigste Beziehung zu der Mordtat setzten. Pesak erschien im August, also mehr als vier Monate nach Auffindung der Leiche, vor Gericht und gab folgende überraschende Aussage zu Protokoll:
Ein Gedenkblatt,...die Grabstätte von Agnes Hruza... und das am Tatort errichtete Kreuz.
Am 29. März sei er, gerade als es vom Turm fünf Uhr geschlagen habe, von dem am Ende der Stadt wohnenden Tischler Vecera weggegangen. Ungefähr eine Viertelstunde Weges hinter Polna habe er seine Notdurft verrichtet und dabei auf den Brezinawald geschaut. Am Rande des Waldes habe er nun in unmittelbarer Nähe des spätem Fundortes der Leiche einen Menschen von schlanker Gestalt in grauem Anzuge gesehen, der, die rechte Hand auf einen weißen Stock gestützt, nach der Stadt geschaut habe. In diesem Menschen habe er bestimmt den Hilsner erkannt; er fügte ausdrücklich hinzu: „Auch nach der Gestalt und den Körperbewegungen habe ich Hilsner gut erkannt.“ Nach mehreren Minuten, während deren er seine Beobachtungen fortgesetzt, habe sich Hilsner „auf militärische Art umgedreht“ und sei mit dem in der Mitte gefassten Stock fuchtelnd, „wie es immer seine Gewohnheit gewesen sei“, in den Jungwald gegangen. Dort habe nun der Zeuge in einer Vertiefung zwei dunkel gekleidete Männer mit Hüten auf den Köpfen bemerkt. Sie seien dicker gewesen als Hilsner und hätten älter ausgesehen als er. Der eine habe einen abgetragenen, der andere einen besseren Anzug auf dem Leibe gehabt. Ins Gesicht habe er ihnen nicht gesehen, da sie unbeweglich hinter einem Bäumchen gestanden hätten, aber er würde sie noch jetzt wieder erkennen. Hilsner sei zu ihnen gegangen – im Ganzen etwa zehn bis zwölf Schritt – und habe mit ihnen gesprochen.
In welcher Weise Pesak zu erklären versucht hat, dass er mit dieser Wahrnehmung erst nach Monaten hervortrat, wie er bemüht war, die allzu groben Unwahrscheinlichkeiten seiner Aussage abzuschwächen, wie schlecht er dann im allgemeinen bei der mit ihm an Ort und Stelle abgehaltenen Sehprobe bestanden hat und wie sich dann gleichwohl ärztliche „Sachverständige“ fanden, die an die optische Möglichkeit der von ihm behaupteten Wahrnehmungen glaubten, ist psychologisch ungemein lehrreich. Für unsern Zweck genügt, um diese Aussage völlig auszuschalten, die Tatsache, dass die Entfernung von Pesaks Standpunkt bis zu dem des vermeintlichen Hilsner 676 m betrug.
Nach der bekannten Vincentschen Regel kann man mit normalem Auge jemand, den man genau kennt und dessen Aussehen auffällig und leicht erkennbar ist, bei Tageslicht höchstens in einer Entfernung von 100 bis 150 m erkennen.
Von Nußbaum veranlasst, hat der bekannte Augenarzt, Universitätsprofessor Dr. Silex in Berlin, sorgfältige, wissenschaftlich angeordnete Versuche angestellt, deren Ergebnis er, wie folgt, zusammenfasst:
„Auf Grund der angestellten Versuche, bei der Art ihrer Anordnung, bei der herrschenden besten Tagesbeleuchtung, bei der Verwendung von Menschen mit übernormaler, die des Pesak weit übertreffender Sehschärfe, erkläre ich mit vollster Bestimmtheit, dass es für Menschen mit normaler oder selbst erheblich übernormaler Sehschärfe ganz unmöglich ist, in einer Distanz von 676 m einen andern, selbst wohlbekannten, Menschen zu erkennen. Für Pesak gilt dies umso mehr, als nach seiner Angabe der Himmel am Tage der Beobachtung (29. März 1899) völlig klar war. Denn da der Brezinawald von seinem Standpunkt aus nach Westen liegt, musste Pesak mit Rücksicht auf die in Frage kommende Tageszeit in erheblichem Maße durch die Sonne geblendet werden, zumal im Hinblick darauf, dass er seiner Angabe nach während eines Zeitraumes von 8-10 Minuten unausgesetzt seine Beobachtungen anstellte.“
Es bedarf deshalb keines Hinweises darauf, dass Pesaks Aussage in mehreren Einzelheiten geradezu ins Groteske verläuft, so wenn er erkannt haben will, dass Hilsners Genossen älter gewesen seien als dieser, dass der eine davon einen abgetragenen, der andere einen bessern Anzug getragen habe und dass er sie beide noch jetzt wieder erkennen werde.
Die sonstigen im Falle Hruza gegen Hilsner ins Feld geführten Indizien treten an Bedeutung so sehr hinter den Aussagen des Pesak und der Cinkschen Zeugengruppe zurück, dass sie alle zusammen nicht einmal einen Verdacht der Täterschaft gegen ihn gerechtfertigt haben würden. Selbst wenn sie allesamt bewiesen gewesen wären. Aber die meisten der hierher gehörigen Bekundungen kennzeichnen sich selber ohne weiteres als freie Ausgeburten der erhitzten Zeugenphantasie, wie sie uns bei allen derartigen Sensationsprozessen als wucherndes Unkraut auf Schritt und Tritt begegnen. Mehrere darunter waren so handgreiflich töricht, dass selbst die Staatsanwaltschaft, die sonst so geneigt war, alles zu glauben, was der stets geschäftige Altweiberklatsch und die unsinnigste Indizienriecherei zuungunsten Hilsners zusammenschleppten, sie mit schweigender Verachtung bei Seite liegen ließ.
Wenden wir uns jetzt zu dem Falle Klima, bei dessen Kritik ich mich noch kürzer fassen darf.
Die dreiundzwanzigjährige Dienstmagd Marie Klima hatte am Sonntag, den 17. Juli 1898, gegen ½ 8 Uhr früh ihr 3 ½ km nordwestlich von Polna gelegenes Heimatdorf Ober-Wieznitz in der Richtung nach Polna verlassen, um dort die Messe zu hören. Seitdem war sie verschollen.
Der Tatort heute: (von links) ...der symbolische Grabhügel, ....der Tatort, ...eine Tafel erinnert an das Opfer.
Am 27. Oktober 1898 wurde in einem Walde eine halbe Stunde nördlich von Polna unter Moos, Riesig und Zweigen ein menschliches Skelett aufgefunden, in dem man an mancherlei, freilich nicht unbedingt überzeugenden, Einzelheiten das der Marie Klima vor sich zu haben meinte. Weder an dem Skelett noch an den dazu gehörigen Kleiderresten waren sichere Spuren einer gewaltsamen Tötung nachzuweisen. Gleichwohl lag der Verdacht einer solchen nah. Indes blieben die nach verschiedenen Richtungen angestellten Nachforschungen ohne jeden Erfolg. Ein Verdacht gegen Hilsner entstand erst im Verlauf der durch den Fall Hruza entfesselten antisemitischen Agitation, und dieser verstärkte sich, dank des nunmehr von allen Seiten herbeiströmenden Belastungsmaterials, anscheinend dergestalt, dass Hilsner auch wegen dieses Verbrechens angeklagt und vor die Piseker Geschworenen gestellt werden konnte, als ihnen der Kassationshof den Fall Hruza zur erneuten Aburteilung überwiesen hatte. Es fand sich jetzt nach Jahresfrist und mehr denn Jahresfrist eine Anzahl von Zeugen, die Hilsner und die Klima am 17. Juli 1898, dem Tage ihres Verschwindens, an den verschiedensten Orten und zu verschiedenen Zeiten, ja in verschiedenen Kleidungen beisammen gesehen haben wollten. Als der erste unter ihnen der uns vom Falle Hruza her bekannte Zeuge Cink. Er wurde freilich diesmal bei weitem durch den Schustergesellen Anton Lang ausgestochen. Dieser bekundete: Er habe am 17. Juli 1898 abends den Angeklagten und die Klima in dem aus dem Brezinawald zurückkehrenden Festzuge des Polnaer sozialistischen Arbeitervereins beisammen gesehen. Beide seien dann in der Nähe eines Gasthofes verschwunden; er habe ein bis zwei Stunden auf sie gewartet und sie sich dann in der Gesellschaft von vier Juden, die er einzeln namhaft machte, unter allerlei verdächtigen Reden in der Richtung nach dem Wege hin entfernen sehen, unweit dessen später die Leiche der Klima gefunden wurde. Hilsner sei neben der Klima gegangen und habe die linke Hand auf ihrer Schulter gehabt. Selbst der Staatsanwaltschaft war dies denn doch zu stark und sie wagte nicht, diese Aussage – wenigstens geradezu – als Stütze der Anklage zu verwerten.
Fiel aber Langs Aussage hinweg, so mochten die andern Zeugen immerhin Recht haben – aber was bewies es denn für die Ermordung der Klima durch Hilsner, wenn man beide in der Tat im Laufe des 17. Juli mehrfach frei und öffentlich beieinander gesehen hatte?
Leopold Hilsner steht wegen Mordes vor Gericht.
Indes auch diese Zeugen hatten sich geirrt; denn Hilsner war am 17. Juli gar nicht in Polna gewesen, hatte sich vielmehr in dem 17 km entfernten Iglau aufgehalten, dort von der jüdischen Gemeinde ein in deren Armenbuch auch dem Datum nach vermerktes Almosen erhalten und am Nachmittage die unverehelichte Michalek aufgesucht und ihr Grüße von ihrem Geliebten Cerwinka überbracht. Dass auch dies am 17. Juli geschehen war, ließ sich nicht mit Fug bezweifeln. Der Besuch war sicher an einem Sonntag erfolgt; denn wochentags nachmittags war die Michalek in der Fabrik beschäftigt. Hilsner war in der fraglichen Zeit auf Wanderschaft gewesen und am 21. Juli nach Polna heimgekehrt. Vor dieser Zeit konnte nach den amtlichen Eintragungen in seinem Wanderbuch für einen Sonntagsbesuch in Iglau nur der 17. in Betracht kommen, an dem er ja auch tatsächlich dort gewesen war. Erst in seinem Schlussplädoyer stellte der Staatsanwalt die Vermutung auf, Hilsners Besuch bei der Michalek könne am 24. erfolgt sein. Aber Hilsner hatte schon bei anderer früherer Gelegenheit behauptet, dass er am 24. eine gewisse Benesch in Saar besucht habe, und niemand hatte auch nur versucht, diese Angabe zu bestreiten, geschweige denn zu widerlegen.
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Leopold Hilsner als junger Mann... | und im Jahre 1918
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Die Grüße, die Hilsner an dem fraglichen Sonntag an die Michalek ausrichtete, hatte ihm Cerwinka aufgetragen, als sie sich am 9. Juli in Triesch in Mähren trennten. Hilsner hatte damals geäußert, dass er von dort aus über Iglau nach Polna zurückwandern wolle. Ist es glaublich, dass Hilsner bei seiner tatsächlichen Anwesenheit in Iglau am 17. die Grüße nicht ausgerichtet und dafür am Sonntag darauf eigens zu diesem Zweck einen besondern Ausflug nach Iglau, hin und zurück 34 km, unternommen haben sollte? Den Sonntagsbesuch bei der Michalek vom 17., wo Hilsner tatsächlich in Iglau gewesen ist, auf den 24. zu verschieben, obwohl niemand etwas davon weiß, dass Hilsner gleich am nächsten Sonntag wieder dorthin gereist sei, widerstreitet allen gesunden Beweisgrundsätzen, und man wird dem, der in einer Mordsache zuungunsten des Angeklagten solche Vermutungen wagt, den Vorwurf der Frivolität kaum ersparen können.
Dass Hilsner der Ermordung der Agnes Hruza und der Marie Klima nicht entfernt überführt, ja, dass er in dem einen wie in dem andern Falle des Verbrechens nicht einmal verdächtig ist, scheint mir nach alledem Tatsache zu sein, und zwar eine Tatsache, die einen der schwärzesten Schatten auf die Rechts- und Kulturgeschichte des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts wirft.
Qellen: - Die Irrtümer der Strafjustiz und ihre Ursachen (von Erich Sello) Ausgabe 2001- S. 230-236 - ISBN 3-929349-40-X