Vom Mittelalter bis in die heutige Zeit.




1. Der Fall - Bartholomä Schüpfer, Kathrine Schüpfer und Wilhelm Schüpfer

Durch Geiz dem Hungertode preisgegeben.

Ein grauenhaftes, unmenschlich zu nennendes Familienkomplott spielte sich im Jahre 1856 in der Gemeinde Gunzwil bei Münster, Luzern, in dem abgelegenen Hofe Wohlerhüsli ab. Schon geraume Zeit ging in der Gemeinde das Gerücht um, die Frau des Wilhelm Schüpfer werde von ihrem Manne und dessen Eltern auf das Grausamste und ihre Gesundheit zerstörende Art misshandelt. Dies veranlaßte Pfarrer Amrein von Münster und Gemeindepräsident Galliker von Gunzwil, auf dem Hofe selbst nach dem Rechten zu sehen. Am 24. Juli sprachen sie bei den Schüpfers vor und verlangten die junge Frau zu sehen. Diese wurde von ihrem Stübchen heruntergeholt; sie bot einen erbarmungswürdigen Anblick. Da sie aber keine Klage vorbrachte, konnten die Beamten nicht einschreiten. Wohl verlangten sie von den anwesenden Schwiegereltern, dass die Tochter in Zukunft besser behandelt werde. Schon am 24. August ging es wie ein Lauffeuer durch die Gemeinde, Frau Schüpfer sei den schweren Mißhandlungen erlegen. Nun griffen die Behörden ein.
Dem mit der Untersuchung betrauten Amtsarzt bot sich ein grauenhaftes Bild. Die Tote lag in einer oberen, dunklen Kammer, ganz unbedeckt auf einem Bett, das nur aus einem Strohsack und einem Leintuch bestand. Abgemagert, die struppigen aufgelösten Haare voller Ungeziefer, am Knie rundlicher Schorf, auf dem Rücken rote und bläuliche Flecken. Maria Schüpfer, die vor einigen Monaten noch gesund und blühend aussah, war zum Skelett abgemagert. Allem Anschein nach war die durch fortgesetzte Entziehung der notwendigsten Nahrung entstandene Auszehrung, verbunden mit geflissentlicher Vernachlässigung, die Hauptursache ihres Todes.
Aus den Ergebnissen der Sektion schlossen die Ärzte, dass Maria Schüpfer eine gesunde, robuste Frau gewesen, aber totale körperliche Vernachlässigung, Kummer, Abbruch und langsames Entziehen der Nahrung, und schließlich das Beibringen einer vergifteten Substanz den verhältnismäßig schnellen Tod herbeigeführt habe.
Dr. Genhart, ein untersuchender Arzt, erklärte, er habe im Magen der Leiche ganz ähnliche Symptome beobachtet, wie einst im Magen eines Tieres, das mit Phosphor vergiftet worden sei. Ähnlich äußerte sich das später abgegebene Obergutachten des Sanitätskollegiums von Luzern.
Anfänglich wurde angenommen, zur Vergiftung sei Kreosot verwendet worden, da sich ein Fläschchen im Hause fand. Die Annahme wurde aber von dem Sanitätskollegium mit dem Hinweis, daß dieses Mittel infolge seines penetranten Geschmackes schwerlich zu Giftmord verwendet werden könne, fallen gelassen. Im gleichen Gutachten der Sanitätskommission heißt es: „Bei andauerndem Nahrungsmangel wurde sie längere Zeit in einer dunklen, der frischen Luft schwer zugänglichen Kammer eingeschlossen, häufig mißhandelt und geschlagen, so daß sie fortwährend in Angst und Schrecken lebte —, lauter Momente, die für sich allein hinreichen, die Gesundheit und die Kraft des Körpers zu untergraben und zu erschöpfen."
Die Untersuchungsbehörden erhoben Anklage wegen Mordes im Komplott.
Die Anklage richtete sich gegen: Bartholomä Schüpfer von Gunzwil, wohnhaft in "Wohlerhüsli, 60 Jahre alt, seine Frau Kathrine, geb. "Waldisberg, im gleichen Alter und Wilhelm Schüpfer, den Sohn, 30 Jahre alt. Das Charakterbild, welches von Zeugen vor Gericht gegeben wurde, war für die Angeklagten wenig günstig. Vom alten Bartholomä sagte Pfarrer Amrein: „Er war, der Schule entwachsen, ein roher, unbändiger, streit- und zanksüchtiger Bursche, von niemand geliebt, von den meisten seines Alters gefürchtet, außerdem war er feig und furchtsam. Er hatte schmeichelnde "Worte auf der Zunge und Heimtücke im Busen."
Seine Frau erfüllte, nach Aussage des Pfarrers, ihre religiösen Pflichten fleißig, galt aber als böses Weib mit gehässigem, zanksüchtigem Wesen. Bekannt war vor allem ihr Geiz, der weit über den gewöhnlichen Rahmen der Sparsamkeit hinausging.
Wilhelm Schüpfer, der dreißigjährige Sohn, galt als ein Mensch von beschränkten geistigen Anlagen. Dies hinderte ihn aber nicht, stolz zu sein, wodurch er sich bei den anderen Dorfgenossen verhaßt machte. Einige Jahre hatte er in der benachbarten Bleiche gearbeitet, war aber dann, infolge seiner Unverträglichkeit gegenüber den Arbeitskameraden, entlassen worden. Die Eltern hatten damit einen Mitesser, der nichts bezahlen konnte. Es wurde deshalb für ihn eine Frau mit Geld gesucht. Durch Kuppelei kam man auf die Person der Maria Wütschert. Nach kaum dreiwöchiger Bekanntschaft, welche die Braut im Haus der Schwiegereltern zugebracht hatte, wurde geheiratet. Dies geschah am 15. Januar 1856.
Die junge Frau galt als etwas beschränkt, aber als gute landwirtschaftliche Arbeitskraft. Auf dem kleinen Gütlein gab es aber wenig für sie zu tun.
Kaum war die Ehe geschlossen, als die Eltern des jungen Ehemannes alles daransetzten, in den Besitz des kleinen Vermögens der Schwiegertochter zu gelangen. Schon am 20. März hatte der Jungverheiratete das Frauengut in den Händen. Bei bester Gesundheit wurde die junge Frau am 3. April gezwungen, ein Testament zu machen, demzufolge bei Todesfall ihrem Manne ihr Vermögen von 1207 Franken 92 Rappen, zur Hälfte als Eigentum, zur Hälfte als lebenslängliche Nutznießung zufallen sollte. Hatten der Ehegatte und die Schwiegereltern die junge Frau bis dahin mehr oder weniger anständig behandelt, so ließen sie jetzt, im Besitz ihres Geldes, alle Rücksicht fahren. Von nun an folgten sich die verbrecherischen Handlungen unablässig. Erschütternd wirkten die Zeugenaussagen, welche das Martyrium der jungen Frau bekundeten.
Christoph Felix, der unmittelbare Nachbar der Familie Schüpfer sagte aus:
„Im Frühling habe ich einmal gesehen, wie beim Arbeiten auf dem Felde Wilhelm der Frau Streiche auf den Kopf gegeben, daß ich vor Erbarmen mich habe wegwenden müssen. Auch habe ich oft gesehen, wie die junge Frau bei der Heimkehr vom Felde sich heimlich von den andern entfernte, Habermark von der Matte gerissen und es heimlich in den Sack geschoben hat. Als sie eines Morgens von der Arbeit heimkam, habe ich sie gefragt, ob sie „Znüni" nehmen wolle, worauf sie sagte: ,Ja, ja, die Leute meinen allemal, ich bekomme ,Znüni'; man gibt mir aber nur am Morgen ein Beckeli Kafi und ein Stückli Brot in der Größe von vier Fingern'."
Die Frau des Zeugen sagte aus: „Die junge Frau sagte einmal zu mir, sie bekomme so wenig zu essen, daß sie es nicht aushalten könne. Eines Morgens hörte ich sie einmal heftig schreien und sagen, das Herz wolle ihr abfallen. Ihr Mann antwortete darauf: ,Du kannst noch manchmal brüllen, das ist nicht das letzte Mal.' Nachher zeigte die Frau der Zeugin eine klaffende Kopfwunde und sagte, ihr Mann habe sie geschlagen, daß ihr das Blut über den Rücken gelaufen sei. Oft habe ich gesehen, wie der Mann sie schlug. In der letzten Zeit hörte ich sie einmal schreien und brieggen. In der Nacht vom 11. auf den 12. August hörte ich sie wiederum schrecklich schreien. Um halb ein Uhr klopfte es an unsere Tür und die alte Schüpfer forderte uns auf herüber zu kommen."
Das Ehepaar fand die junge Frau beinahe leblos auf einem Bett liegen, das nur aus einem Strohsack und einem Leintuch bestand. Die alte Schüpfer besprengte die Sterbende mit Weihwasser. Frau Schüpfer sagte:
„Da Maria sterben muß, ist mein Mann nach Huoben gegangen, um die ,Spielerei' zu holen, die sie dann ankleiden muß." Als Schüpfer mit der „Spielerei" (Name für Leichenfrau) kam, sagte Felix, er hole den Doktor und den Pfarrer. Die Antwort des alten Schüpfer war:
„Das nützt nichts, sie kann doch nicht mehr beichten." Während Felix den Pfarrer und den Arzt holte, verschied die junge Frau. Die Zurückgebliebenen begaben sich in die Stube, wo Frau Schüpfer gegen ihre Nachbarin zu sticheln anfing:
„Es wird nun wohl bald heißen, wir hätten die junge Frau z´tod gschlage."
Auch zahlreiche andere Zeugen meldeten sich, die aussagten, wie die Schwiegertochter von ihrem Gatten und den Eltern geschlagen und mißhandelt wurde, wie sie über Hunger klagte und die Leute anbettelte. Einem Zeugen, der ihr riet, doch davonzulaufen, antwortete sie:
„Ja, wenn ich könnte! Wenn ich nur auf die Seite will, so steht schon eines da mit einem Knebel."
Auch in diesem Falle zeigt sich wieder das Bild, das man bei Familientragödien immer beobachtet. Nachbarn, Bekannte sehen, wie die Opfer mißhandelt, in ihrer Gesundheit geschädigt werden. Niemand aber findet den Mut, die Behörden zu benachrichtigen. Man scheut die Brutalität der Schuldigen, man befürchtet Streit und Ärger, oder man sagt sich: Die Sache geht mich nichts an, das — oder die — Opfer sollen selbst schauen, wie sie zurecht kommen. Viele scheuen es einfach, mit den Behörden zu tun zu haben und als Zeuge vor Gericht zu erscheinen. Manches große Unheil hätte vermieden werden können, wenn dem nicht so wäre. Sicherlich soll man nur zur Polizei, zu den Behörden gehen, wenn man seiner Sache sicher ist. Im Falle Schüpfer beispielsweise hatten die Nachbarsleute Felix mehr als genügend gesehen, um ein Einschreiten der Behörden zu veranlassen. Erschütternd wirkten die Aussagen der neunjährigen Maria Weber, welche bei den Schüpfers „verkostgeldet" war. Da für das Kind bezahlt wurde, erhielt es mehr und besser zu essen als die junge Frau.
Hören wir, was das kleine, aber anscheinend kluge Mädchen zu sagen wusste:
„Nachdem die Erdäpfel gesteckt waren, durfte die junge Frau nicht mehr aufs Land; Wilhelm hat sie eingeschlossen im Gaden oben. Er verband die Tür mit einem Hälslig (Strick), machte ein Ketteli daran und hängte dieses an einen Nagel. Sie musste manche Woche im Gaden bleiben und durfte nur einmal in die Stube hinunter, als der Pfarrer und der Gemeindepräsident da gewesen waren."
Anscheinend war das Kind nach dem amtlichen Besuch den Pflegeeltern entzogen worden.
„Während ich es sah, erhielt Frau Marie folgendes zu essen: Am Morgen ein kleines Beckeli Kafi und ein kleines, kleines Schnefeli Brot dazu; am Mittag in einem Tellerli ein wenig Milch und Brot darin und einige Löffel Kirschbrei oder Reisbrei. Zu Abend erhielt sie ein wenig Suppe und ein Stückli Brot. Znüni und Zabig erhielt sie nicht. Wenn der Wilhelm einmal daheim war, so tat er ihr noch einen Löffel Salz in die Suppe. Manchmal hat er die Frau stark geschlagen, wenn er ihr zu essen brachte. Oft erhielt die junge Frau einen ganzen Tag nichts zu essen, manchmal nichts zu Nacht. War die junge Frau krank, so hieß es: Sie braucht keinen Doktor!"
Charakteristisch für die Mentalität dieser Menschen, welche vielleicht wirkliche, aber zum großen Teil heuchlerische Frömmigkeit zeigten, ist folgende Zeugenaussage. Eine Frau erzählte, wie die alte Frau Schüpfer eines Tages nach der Beichte zu ihr ins Haus gekommen sei und sich über die Schwiegertochter beklagt habe. Frau Schüpfer erzählte, daß die junge Frau eingeschlossen worden sei, weil sie bei allen Leuten schimpfe. Auf die erschrockene Bemerkung der Zeugin, so werde die Frau nicht einmal mehr zwei Jahre leben, gab die Schüpfer kalt lächelnd zurück: „Allweg nicht mehr zwei, nicht mehr eins!" Dabei kam die Sprecherin, wie bereits erwähnt, von der Beichte. Pfarrer Amrein erzählte weiter als Zeuge, er habe nach dem ersten Besuch am 24. Juli den alten Schüpfers energische Vorhalte gemacht, er werde bei kompetenter Behörde Anzeige erstatten, wenn die Frau nicht humaner behandelt werde. Bei einem weiteren Besuch einige Tage später hatte der Pfarrer den Eindruck, seine Drohungen hätten gewirkt. Dagegen beklagten Vater und Sohn Schüpfer sich darüber, die junge Frau sei so dumm, tauge für keine Arbeit und esse nur viel. Zur Zeit des Todes seiner Frau befand sich Wilhelm Schüpfer nicht zu Hause. Er hatte sich als Erntearbeiter nach Sins im Freiamt begeben. Bei seinem Weggang soll er zu seiner Mutter gesagt haben: „Ich würde auf der Stelle nach Einsiedeln wallfahren, wenn die Frau gestorben wäre bei meiner Heimkunft." Vater Schüpfer ersuchte einen Mann von Münster, den Sohn in Sins zu benachrichtigen. Als der Bote dem Witwer gegenüberstand und noch kein Wort gesagt hatte, rief Schüpfer: „Eh, was ist jetzt das, was hats gegeben?" Als Suter, der Bote, sagte, er solle heimkommen, wurde Schüpfer blaß und verweigerte zuerst den ihm vorgesetzten Most sowie die Suppe. Später aber aß er kräftig.
Auf dem Wege nach Hause sagte Schüpfer zu seinem Begleiter: „Wäre die Frau recht gewesen, so würde sie mich reuen, so aber fast nicht." Später fügte er hinzu:
„Sie ist so dumm gewesen und hat so viel essen mögen. Einmal haben wir ihr drei Gläser Schnaps, einen großen Napf Ankenmilch und einen Kratten voll Kirschen zum Essen gegeben. Sie mußte alles essen."
Dies war nicht etwa menschenfreundlich gemeint. Schnaps, Buttermilch und eine große Menge Kirschen sollten der ausgehungerten Frau den Rest geben.
Am meisten Eindruck machte die Haft auf die Mutter Kathrine Schüpfer. Sie war auch die erste, welche ein Geständnis ablegte: „Es ist schrecklich, was ich gemacht habe; ich kann mein Leben lang nicht abbüßen — ich bin immer und ewig verloren. Das drückt mich, daß wir die Frau verhungern ließen." Auf Anstiften ihres Mannes war beschlossen worden, die junge Frau müsse weniger essen und zwar so wenig, daß sie es auf die Länge nicht aushalten könne und sterben müsse. Die Schwiegertochter wurde in die dunkle Kammer gesperrt, damit sie die Sonne nicht bescheine und sie eher sterbe. Als die junge Frau einmal aus dem Zimmer kam und vor Schwäche umstürzte, sagte der Vater lachend: „Euse Marei schwachet afe!"
"Wilhelm, der Mann, habe ihr oft übermäßig viel Salz in die Suppe gegeben und gesagt: „Das wird ihr den Magen ganz verderben." Als Beweggrund für die grauenhafte Tat gab die alte Frau an: „Ich habe überhaupt die ganze Heirat Wilhelms mit der Wütschert nicht gerne gesehen. Die junge Frau war in der Religion schrecklich unwissend, sie war weder zu häuslichen noch zu landwirtschaftlichen Arbeiten zu gebrauchen. Dies alles hat mich gegen die Schwiegertochter erbittert. Manchmal habe ich mit ihr Erbarmen gehabt und ihr mehr zu essen gegeben. Dann aber ist plötzlich die "Wut und der Haß über mich Meister geworden." Über den letzten Abend befragt, sagte Frau Schüpfer aus: „Als ich am letzten Abend vor dem Tode in der Küche die Suppe anrichtete, ist der Vater hinzugekommen. Er hat von einem halben Büschel Zündhölzli den Phosphor in die Suppe Marias abgerieben. In der Nacht hat die junge Frau gegruchst (gestöhnt), was sie oft tat. Da ist der Vater aufgestanden und in die Kammer der jungen Frau gegangen. Diese hat entsetzlich geschrien und der Vater ist wieder ins Bett gesprungen. Ich ging später hinauf; die junge Frau hat nicht mehr reden und schlucken können. Als ich den Vater wecken wollte, hat er sich schlafend gestellt.“
Darüber befragt, warum die gesunde, junge Frau schon so kurz nach der Heirat gezwungen worden sei, ihren letzten "Willen bekanntzugeben, antwortete die Angeklagte: „Wir haben die junge Frau deshalb dazu ermahnt, weil sie immer Gufen (Nadeln) in den Mund genommen hat." Die Aussagen des Sohnes deckten sich mit denjenigen der Mutter. Auch er versuchte nach Möglichkeit den Vater zu belasten. Der Vater Bartholomä Schüpfer leugnete anfänglich die ihm zur Last gelegten Verbrechen einfach ab. Die unglückliche junge Frau nannte er dabei beständig „s'Menschli".
Unter dem Druck der Aussagen der eigenen Leute mußte er zugeben, daß er die junge Frau geschlagen und befohlen habe, sie in eine Kammer zu sperren. Auch gestand er, seiner Frau oft Vorwürfe gemacht zu haben, weil sie der Sohnesfrau zu viel zu essen gab, sonst bestritt er jede verbrecherische Absicht.
Erst als ihm die im Haushalt lebende Tochter, welche an den Verbrechen völlig unbeteiligt war, aber in beständiger Furcht vor den Eltern und dem Bruder lebte, die barbarische Behandlung der Schwiegertochter vor Gericht vorwarf, gab er sein Leugnen auf.
Vom Anstiften, die Schwiegertochter einfach verhungern zu lassen, wollte er aber nichts wissen. Als ihn aber der Sohn beschuldigte, der Anstifter des ganzen Geschehens zu sein, rief er mit ruchloser Vermessenheit aus:
„Der Herrgott soll mich strafen, wenn ich mich dessen entsinnen kann!"
Die Anschuldigung seiner Frau, er habe Phosphor von Zündhölzern in die Suppe der Schwiegertochter getan, leugnete er bis zum letzten ab. Der Antrag des öffentlichen Anklägers lautete: „Es sind alle drei Angeklagten des Verbrechens eines im Komplott begangenen Mordes schuldig zu erklären und mit dem Tode zu bestrafen.
Der Verteidiger beschränkte sich darauf, die Tatsache des vollendeten Mordes zu bestreiten und gab nur Körperverletzung mit tödlichem Ausgang, evtl. Mordversuch zu.
Diesem Antrag pflichtete auch das Gericht bei. Todesstrafe für Vater und Sohn schien den Richtern doch zu weit zu gehen. Die beiden männlichen Angeklagten wurden zu je 16 Jahren Kettenstrafe und die Mutter zu 16jährigem Zuchthaus verurteilt. Sicherlich eine strengere und schmerzlichere Strafe als ein rascher Tod.

Quellen – Kleiner Schweizer Pitaval (Walter Kunz) Ausgabe 1965 – S. 47



2. Der Fall - Die drei Mörderinnen Kath, Ulrich und Jahnke

Die verehelichte Tagelöhnerin Kath, die Ehefrau des Schmiedegesellen Ulrich, die unverehelichte Janke und die unverehelichte Henriette Thom gehörten der niedrigsten und verkommensten Bevölkerungsschicht in der kleinen hinterpommerschen Landstadt Bärwalde an. Sie lebten in bitterster Armut und ernährten sich und die Ihrigen - die Ehemänner der beiden ersten saßen wegen Diebstahls im Zuchthaus, die beiden ledigen von ihnen hatten uneheliche Kinder - zumeist durch Betteln und Diebstahl. Am 19. Dezember 1853 hatten sie gemeinschaftlich auf dem Jahrmarkt in Tempelburg einen Diebstahl verübt. Durch eine Unvorsichtigkeit der Thom war die Tat ans Licht gekommen, vor Gericht gestand sie und gab ihre Mitschuldigen an.
Sobald die Kath, Ulrich und Janke erfahren hatten, daß wegen dieses Diebstahls Anklage gegen sie erhoben war, sannen sie darauf, die Thom zu beseitigen, teils aus Rache wegen des begangenen Verrats, teils um sich in der Person der geständigen Mitangeklagten der Hauptbelastungszeugin zu entledigen. Die Kath war die Urheberin und die Seele des sorgfältig in allen Einzelheiten vorher überlegten und verabredeten Mordplans. Sie beredeten die Thom zu einem gemeinsamen Bettelgang über Land für den 9. Mai 1854 und ertränkten sie auf dem Wege in der Nähe des Vorwerks Schwartow in der Persante.
Sie führten die Tat, wie verabredet worden, in der Weise aus, daß die Kath die Henriette Thom von einem Steg hinab in den Fluß stieß. Wenn sich diese dann, vom Wasser stromabwärts getragen, an einer seichten Stelle ans Ufer zu retten suchte, wurde sie mit Gewalt in den Fluß zurückgetrieben und unter das Wasser getaucht, bis sie nach einer viele Minuten dauernden verzweifelten Gegenwehr, nachdem ihre Kräfte sie verlassen hatten, im Wasser erstickte. Anfangs hatte sich auch die Janke hieran beteiligt, den Kopf der Thom unter das Wasser gedrückt, ihr auch noch einen Stoß versetzt, so daß sie rascher in der Strömung forttrieb. Bald aber wurde ihr die Tat leid. Als die Thom wieder in ihre Nähe trieb, streckte ihr die Janke von Mitleid ergriffen mit den Worten: Hanne, komm heraus, den Arm entgegen und leitete sie langsam an den Rand des dort ziemlich hohen Ufers. In einem bis fast an den Fluß reichenden Kornfeld setzten sich beide nieder und fingen eben an, sich zu erholen und die Kleider auszuwringen; da eilten die Ulrich und die Kath herbei und machten der Janke die heftigsten Vorwürfe; die Ulrich reichte ihr einen Knittel und forderte sie auf, die Thom damit auf den Kopf zu schlagen; die Janke warf jedoch den Knittel ins Wasser und sagte: Jetzt laßt sein. An den ferneren Gewalttätigkeiten, die schließlich den Tod der Thom herbeiführten, hat sie sich in keiner Weise beteiligt, vielmehr mit der Ulrich und der Kath noch über das Leben der Thom parlamentiert, sich auch erboten, ihren eigenen Unterrock auszuziehen und ihn der Thom zu leihen, die den ihren im Wasser verloren hatte.
Auf diesen Tatbestand hin, der nach den sorgfältigen Ermittlungen des Untersuchungsrichters als festgestellt gelten muß, wurden die Kath wegen Mordes, die Ulrich und die Janke wegen wesentlicher Teilnahme am Mord vom Schwurgericht in Köslin zum Tode verurteilt. Bei der Janke hatten die Geschworenen die Schuldfrage nur mit sieben gegen fünf Stimmen bejaht. Das Gericht, dem danach die Entscheidung oblag, trat der Mehrheit der Jury bei. Nur die Janke rief die Gnade des Königs an; sie wurde ihr versagt und sie mit ihren beiden Mitschuldigen am 5. Oktober 1855 in Neustettin hingerichtet.
Ich halte ihre rechtliche Schuld für sehr zweifelhaft und möchte für meine Person annehmen, daß sie nur einen Mordversuch begangen hat und ihr überdies der Straf-aufhebungsgrund des freiwilligen Rücktritts voll zugute kommen mußte.

Quellen: Die Irrtümer der Strafjustiz unserer Zeit - Geschichte der Justizmorde von 1797 - 1910 (Erich Sello) Ausgabe 2001 - S. 196



3. Der Fall - Kapitän Dudley und Steuermann Stephens

Der Mignonette-Fall - Kannibalismus auf hoher See

Am 19. Mai 1884 segelte die Jacht »Mignonette« von Southampton ab, um nach Sydney in Australien zu fahren, wo sie für eine längere Vergnügungstour gechartert worden war. Die Yacht Mignonette hatte 19,43 netto t. , 52-Fuß (16 m) Kreuzer, Baujahr 1867.  Es war ein Küstenboot , nicht für lange Reisen gemacht. Der australische Anwalt Jack Want kaufte es 1883 für seine Freizeit. Das Schiff konnte zu angemessenen Kosten per Segelschiff nach Australien transportiert werden, aber seine Größe und die 24.000 km lange Reise schreckten die Suche nach einer geeigneten Besatzung ab. Schließlich fand sich eine Mannschaft für das kleine Schiff und am 19. Mai 1884 begann die Segelreise von Southampton nach Sydney mit einer Besatzung von:

  1. Tom Dudley (1853–1900), der Kapitän;
  2. Edwin Stephens (1847–1914); 
  3. Edmund Brooks (1846–1919); und
  4. Richard Parker, der Schiffsjunge. Parker war 17 Jahre alt, verwaist und ein unerfahrener Seemann.


Kapitän Dudley

Die Reise verlief zunächst glatt und ohne jeden Zwischenfall, bis das Schiff Anfang Juli in der Nähe von Madeira in eine Schlechtwetterzone kam. Am 5. Juli geriet die Jacht, 1600 Meilen vom Kap der Guten Hoffnung entfernt, in einen schweren Sturm, der sie bald manövrierunfähig machte. Nachdem sie sich noch eine Zeitlang über Wasser gehalten hatte, wurde sie schließlich von einer riesigen Welle überflutet und leck geschlagen. Da das Schiff zu sinken begann, mußte die Besatzung in größter Eile in ein offenes Boot überwechseln, und dabei hatten die Seeleute keine Zeit mehr, sich mit Lebensmitteln und Wasser zu versehen. Es blieb ihnen gerade noch Zeit, einige Büchsen mit Rüben zu ergreifen. Trinkwasser konnten sie nicht mitnehmen, da das Schiff sehr rasch sank.
Die Seeleute trieben nun in ihrem Boot tagelang hilflos auf dem Meer umher, mehr als 1000 Meilen vom Festland entfernt. Die Rüben waren bald aufgezehrt, und als Trinkwasser stand ihnen nur das bißchen Regenwasser zur Verfügung, das sie in einem Segeltuch auffangen konnten. Am 4. Tage ihrer Irrfahrt gelang es ihnen, eine kleine Schildkröte zu fangen, von der sie sich bis zum 11. Tage mühsam ernährten. Dann waren sie nicht nur ohne Lebensmittel, sondern hatten auch kein Wasser mehr.

Die Jacht »Mignonette«, so wie sie sie von Kapitän Dudley gezeichnet wurde.

Als sie am 18. Tag eine Woche lang ohne Nahrung und fünf Tage ohne Wasser gewesen waren, brachte der Kapitän, ebenso wie seine Leidensgenossen vor Hunger und Durst halb wahnsinnig, im Gespräch mit Stephens und Brooks die Rede darauf, was sie tun könnten, um sich am Leben zu erhalten. Dabei äußerte er, wenn sie gerettet werden wollten, bleibe nichts anderes übrig, als einen von ihnen zu opfern. Zunächst sprach er davon, man solle das Los entscheiden lassen. Als Brooks sich darauf nicht einlassen wollte, ließ er den Vorschlag fallen und wies auf den Schiffsjungen als geeignetes Objekt hin. Stephens erklärte sich stillschweigend damit einverstanden, Brooks aber widersprach: ebensowenig wie er selbst getötet werden wolle, könne er es dulden, daß einem anderen dieses Schicksal bereitet werde.
Am Abend des 19. Tages kamen Dudley und Stephens dann endgültig überein, am nächsten Morgen den Jungen sterben zu lassen, falls bis dahin kein Schiff in Sicht komme. Ihn hatte der Hunger am meisten geschwächt, außerdem besaß er keine Familie.
Als am folgenden (20.) Tage wieder kein Schiff zu sehen war, sagte der Kapitän zu Brooks, er möge sich schlafen legen. Dann gab er Stephens zu verstehen, daß der Junge jetzt getötet werden müsse. Stephens stimmte zu. Brooks merkte, was im Gange war, und bedeckte seinen Kopf mit einer Öljacke, um nichts zu sehen und zu hören.
Der Junge lag hilflos auf dem Boden des Bootes. Durch den Hunger und den Genuß von Salzwasser war er so geschwächt, daß er außerstande war, sich zu wehren. Der Kapitän ergriff ein Messer, sprach ein kurzes Gebet und erbat sich im voraus die Verzeihung des Himmels, schritt dann auf den Jungen zu, sagte ihm, seine Stunde sei gekommen, und stieß ihm das Messer in die Kehle. Gierig schlürften sie dann alle drei das aus der Wunde spritzende Blut. Während der nächsten Tage ernährten sich die Männer von dem Fleisch und stillten ihren Durst erneut mit dem Blut des Getöteten. Am vierten Tage nach der Tötung des Schiffsjungen wurden die Schiffbrüchigen von einem deutschen Dampfer gesichtet und aufgenommen. Die drei Seeleute waren noch am Leben, befanden sich aber im Zustand totaler Erschöpfung. Sie waren nicht mehr fähig, aus eigener Kraft das Schiff zu besteigen.
Sofort nachdem die Schiffbrüchigen britischen Boden betreten hatten, machten sie den Behörden Meldung von dem Geschehenen. Der Kapitän Dudley und der Steuermann Stephens wurden daraufhin verhaftet und dem Gericht in Exeter zur Aburteilung überstellt. Dabei wurde festgestellt, daß die drei Seeleute die vier Tage bis zu ihrer Rettung nicht überlebt hätten, wenn sie sich nicht von dem Körper des Jungen hätten ernähren können. Fest stand außerdem, daß dieser - erschöpft wie er war - vor den anderen gestorben wäre. -
Anklage wurde gegen den Kapitän und gegen Stephens, nicht aber gegen Brooks erhoben, obgleich dieser von dem Fleisch des Jungen mitgegessen und auch sein Blut mitgetrunken hatte.
Die Hauptverhandlung gegen die beiden Angeklagten fand am 6. November 1884 vor dem Schwurgericht in Exeter statt.
Die Verteidigung machte geltend, in keinem einzigen Land sei in analogen Fällen eine Verurteilung wegen Mordes oder Totschlags erfolgt, die Angeklagten müßten deshalb freigesprochen werden. Sie berief sich dabei u. a. auf einen eigenartigen Notstandsfall, der im Jahre 1842 durch ein Gericht in den USA entschieden worden war. Wenn man diesen Fall überprüft, so zeigt sich allerdings, daß nicht ein Freispruch, vielmehr eine Verurteilung erfolgt ist.
In diesem Fall - The United States v. Holmes - ging es um folgendes: In der Nacht vorn 19. zum 20. April 1841 stieß der amerikanische Dampfer »William Brown« gegen einen Eisberg und begann rasch zu sinken. Das Schiff hatte 17 Mann Besatzung und 65 schottische und irische Auswanderer an Bord. Der Kapitän ließ sofort die beiden Rettungsboote, eine Pinasse und eine Jolle, seeklar machen. In die Jolle ging er selbst mit dem zweiten Maat, sieben Mann von der Besatzung und einem Passagier. In die Pinasse wurden der erste Maat, der Rest der Besatzung einschließlich des später verurteilten Matrosen Holmes und 32 Passagiere geschickt. 31 Passagiere mußten an Bord des Dampfers zurückgelassen werden und kamen um.
Am nächsten Tag schärfte der Kapitän von der Jolle aus den Besatzungsmitgliedern auf der Pinasse ein, daß sie alle Befehle des ersten Maats auszuführen hätten. Die Männer versprachen zu gehorchen.
Die Pinasse erwies sich als leck, und ihre Insassen hatten alle Mühe, das Meerwasser fernzuhalten. Bald zeigte sich auch, daß sie total überlastet war. Sie war ständig in Gefahr, entweder mit Wasser vollzulaufen oder umzukippen. Es waren viel zuviel Menschen darauf. Dadurch war sie auch nicht manövrierfähig.
Im Laufe des nächsten Tages äußerte der erste Maat, der auf der Pinasse den Befehl führte, den Gedanken, einige Leute über Bord zu werfen. In der Nacht zum übernächsten Tage führten die neun Mann von der Besatzung diesen Gedanken aus und warfen 14 männliche Passagiere über Bord, außerdem zwei Frauen, die darum gebeten hatten, nachdem ihr Bruder ins Meer geschleudert worden war. Nicht einer der betroffenen Männer setzte sich energisch zur Wehr; das Unglück hatte sie derart apathisch gemacht, daß sie es willenlos geschehen ließen, als man sie wie ein Stück der Ladung im Falle einer Havarie über Bord gehen ließ. Der Befehl des ersten Maats ging dahin, auf keinen Fall Frauen ins Meer zu werfen, auch Eheleute nicht zu trennen. Am Leben blieben außer den Frauen nur ein verheirateter Mann und ein kleiner Junge. Von der Besatzung wurde niemand angetastet. Auf den Gedanken, das Los entscheiden zu lassen, wie es sonst üblich war, kam der Maat nicht. Zu diesem Zeitpunkt verfügte man noch über Lebensmittel für sechs bis sieben Tage. Schon 24 Stunden später kam ein Dampfer in Sicht und nahm die Schiffbrüchigen auf.
Der Matrose Holmes, der in den USA aus unbekannten Gründen später als einziger unter Anklage gestellt wurde, genoß den allerbesten Leumund. Er wurde wegen Totschlags zu 6 Monaten harter Arbeit verurteilt. Seeleute, hieß es in dem Urteil, seien sogar in Fällen äußerster Not nicht berechtigt, ihr Leben auf Kosten des Lebens der Passagiere zu schonen und zu bewahren. Das Leben der Passagiere gehe im Gegenteil in jedem Fall dem ihrigen vor, davon könne keine Ausnahme zugelassen werden. Die amerikanische Presse brachte dem verurteilten Seemann große Sympathien entgegen, und man versuchte seine Begnadigung zu erwirken. Der amerikanische Präsident lehnte jedoch einen solchen Gnadenerweis rundweg ab. -
In dem Mignonette-Fall machte der Richter den Geschworenen den Vorschlag, ein sog. special verdict zu fällen, d. h. sich darauf zu beschränken, die Fakten festzustellen und die Entscheidung der Frage, ob die Angeklagten einen Straftatbestand verwirklicht hätten und unter welche Bestimmungen der Sachverhalt einzuordnen sei, dem Obergericht zu überlassen. Die Geschworenen gingen höchst bereitwillig auf diesen Vorschlag ein, da sie sich durch den Fall überfordert fühlten. Sie gaben offen zu, daß sie nicht wüßten, ob jemandem unter den gegebenen Umständen aus seinem Verhalten ein Vorwurf gemacht werden könne. — Bevor sie die Überweisung an das Obergericht beschlossen, brachten die Geschworenen den Angeklagten ihre Sympathie und ihr Mitgefühl zum Ausdruck.

Zuständig für die Entscheidung war jetzt die mit fünf Berufsrichtern besetzte und unter dem Vorsitz des Lord Chief Justice of England stehende Queen's Bench Division des High Court. Kraft dieses Beschlusses wurde das Obergericht nach 100 Jahren zum ersten Male wieder vor die Notwendigkeit gestellt, in einer Kapitalsache ein erstinstanzliches Urteil fällen zu müssen.


                            Lord Coleridge führte den Vorsitz.


Die Hauptverhandlung fand am 4. Dezember 1884 im Londoner Justizpalast statt. Den Vorsitz hatte Lord Coleridge inne, und die Anklage wurde durch den Attorney General (den Kronanwalt) vertreten.
Nachdem man vor Gericht erst lange darüber diskutiert hatte, ob der High Court überhaupt zuständig sei, wandte man sich der Kernfrage des Prozesses, dem Problem des Notstandes, zu.
In seiner Eröffnungsansprache führte der Kronanwalt aus, die Angeklagten hätten sich unzweifelhaft des Mordes schuldig gemacht. Die beiden unglücklichen Männer, die vor Gericht ständen, dürften gewiß Anspruch darauf erheben, mit Nachsicht und Milde behandelt zu werden. Es sei aber ein fester Rechtssatz, daß man das Leben eines anderen Menschen - außer im Falle eines Krieges - nur dann antasten dürfe, wenn man von ihm angegriffen werde: »Das Gesetz erlaubt es nicht, eine unschuldige Person zu töten - auch dann nicht, wenn das eigene Leben damit gerettet werden kann.«
»Die Tötung des Jungen« - so fuhr der Kronanwalt fort - »war kein Akt der Verteidigung. Ein vor Hunger sterbender Mann darf nicht einmal Nahrungsmittel stehlen. Wenn der Junge Lebensmittel gehabt hätte und die Angeklagten hätten sie ihm weggenommen, so wäre das Diebstahl gewesen, und wenn sie ihn getötet hätten, um sich in ihren Besitz zu setzen, so wäre das Mord gewesen. Durften sie ihn töten, da sie ihm nicht einmal Lebensmittel wegnehmen durften? Doch gewiß erst recht nicht.«
Alle juristischen Autoritäten, so behauptete der Kronanwalt weiter, stimmten darin überein, daß in einem solchen Falle eine Tötung nicht gerechtfertigt sei.

Szenen aus der Tragödie der Mignonette, dem Tod von Richard Parker und dem Prozess gegen Dudley (Mitte) und Stephens (links von der Mitte).

Die Verteidigung machte demgegenüber geltend, es liege ein Fall der »Tötung im Notstand« vor, bei dem die Handlung entschuldbar sei. Zur Begründung für diese These berief sich der Wortführer der Verteidigung auf die Äußerung juristischer Autoritäten, wobei er bis auf Francis Bacon (1561-1626) und Samuel Frhr. von Pufendorf (1632-1694) zurückging. Dabei kam es zu einem lebhaften Rededuell zwischen den Mitgliedern des Gerichtshofs und der Verteidigung, das sich stundenlang hinzog.
Das Urteil wurde am 9. Dezember 1884 verkündet, es lautete auf Verurteilung der beiden Angeklagten zum Tode. Der Präsident des Gerichtshofs gab im Anschluß an den Urteilsspruch die sehr umfangreiche Begründung des Urteils bekannt. Der Leitsatz, den er der Entscheidung voranstellte, hatte folgenden Wortlaut: »Ein Mann, der einen anderen tötet, um dessen Fleisch zu essen, ist des Mordes schuldig, auch wenn er es tut, um dem Hungertod zu entgehen; dies gilt auch dann, wenn er im Augenblick der Tat des Glaubens ist und vernünftigen Grund hat, solchen Glaubens zu sein, daß darin die einzige Chance liegt, sein Leben zu erhalten.«
Im einzelnen führte der Gerichtspräsident folgendes aus: Gewiß hätten sich die Angeklagten in einer Notlage befunden, die geeignet gewesen sei, die körperlichen und seelischen Kräfte des Stärksten zu überwinden und den Besten in Versuchung zu führen. Hier aber sei es um das Schicksal eines schwachen und hilflosen Jungen gegangen, der die Angeklagten weder angegriffen noch ihnen Widerstand geleistet habe. Ein solches Verhalten aber habe so lange als Mord zu gelten, als nicht ein Rechtfertigungsgrund erkennbar sei.
Man habe nun zugunsten der Angeklagten den Gesichtspunkt des Notstands ins Feld geführt und geltend gemacht, daß er einer Verurteilung wegen Mordes im Wege stehe. Die Behauptung, daß es sich um etwas anderes als Mord handeln könne, sei für alle Mitglieder des Gerichts »neu und eigenartig«. Einem unschuldigen Dritten dürfe man nicht an das Leben gehen. Nur die Voraussetzungen der Notwehr seien imstande, Mord und Totschlag in Friedenszeiten auszuschließen. »Obgleich Recht und Moral nicht dasselbe sind und obgleich viele Dinge unmoralisch sein mögen, die nicht notwendig zugleich illegal sind, würde die absolute Scheidung von Recht und Moral fatale Konsequenzen nach sich ziehen; solche Scheidung aber wäre die Folge, wenn die Versuchung zu Mord in diesem Falle von Gesetzes wegen als absoluter Rechtfertigungsgrund behandelt würde.«

Bei Seeleuten seien dem Interesse an der Erhaltung des eigenen Lebens besondere Grenzen gesetzt. Sie hätten in Seenot die Pflicht, ihr eigenes Leben hintenanzusetzen, wenn es um Passagiere oder Untergebene gehe, und das sei nicht nur eine moralische, sondern zugleich auch eine rechtliche Pflicht. Wer sollte auch Richter sein über eine Notstandssituation, wo doch Leben gegen Leben stehe? Was für Maßstäbe sollten für die Bewertung menschlichen Lebens richtunggebend sein? Sollte die körperliche Stärke, der Intellekt oder was sonst entscheiden? Im vorliegenden Falle habe man den Schwächsten, Jüngsten, Hilflosesten ausgesucht. Ein solcher Ausweg könne mit Bestimmtheit nicht gebilligt werden. Die Ansicht, die in Fällen wie dem vorliegenden die Strafbarkeit verneine, sei »zu gleicher Zeit gefährlich, unmoralisch und unverträglich mit allen Prinzipien und Analogien des Rechts«.

Der Richter schloß seine Ausführungen mit folgenden Worten: »Es ist daher unsere Pflicht zu erklären, daß die Tat der Angeklagten Mord war und daß die in dem Verdikt festgestellten Tatsachen keine gesetzliche Rechtfertigung der Tötung geben, und wir haben ferner zu erklären, daß sie nach unserer übereinstimmenden Ansicht nach diesem Spezialverdikt des Mordes schuldig sind.« -
Auf Grund des Schuldspruches mußten die beiden Angeklagten zum Tode verurteilt werden.
Kurze Zeit danach begnadigte sie die Königin auf Vorschlag des Innenministers zu sechs Monaten Gefängnis ohne harte Arbeit.

Quellen: Berühmte Strafprozesse – England II (Maximilian Jacta) Ausgabe 1965 - S.25 und Schrifttum: The Law Reports. Queen's Bench Division. Vol. XIV (1885) S. 273 ff.; A. Simonson, Der Mignonette-Fall in England. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Bd. j (1885) S. 367ff.



4. Der Fall - Katharina (Catherine) Webster

Katharina (Catherine) Webster (1849–1879) war eine irischer Mörder. Geboren 1849 in Killane, County Wexford, Irland; und am 29. Juli 1879 in London, England, gehängt. Sie war nie verheiratet, hatte aber einen Sohn.
Kate Webster war erst als Diebin aktiv, wurde aber dann zur Mörderin. Sie begann ihr kriminelles Leben als Kind, als ihr mutiges, wiederkehrendes Stehlen nicht nur viele Verhaftungen, sondern auch viele Vorträge des bekannten Priesters nach sich zog. Webster entging weiteren Verhaftungen und Vorträgen, indem sie gestohlenes Geld benutzte, um nach Liverpool, England, zu segeln. Da sie jedoch nicht über die schnellsten Taschendiebstahltechniken verfügte, wurde sie auch dort bald erwischt und verurteilt. Nachdem sie eine vierjährige Haftstrafe verbüßt ​​hatte, ließ sie ihre Vorstrafen erneut hinter sich und zog nach London. Kate war eine ziemlich inkompetente Berufskriminelle, die mehrere Gefängnisstrafen wegen verschiedener Diebstähle und Unehrlichkeitsdelikte abgesessen hatte, beides in ihrer MutterspracheIrlandund in England. Diese umfassten einen Zeitraum von 12 Monaten im Jahr 1877 in London's Wandsworth Gefängnis, wo sie schließlich auch ihr Leben beenden würde.

Sie wurde 1849 in Killane , Co. Wexford in der heutigen irischen Republik als Catherine Lawler geboren und begann ihre kriminelle Karriere schon in jungen Jahren. Sie behauptete, einen Seekapitän namens Webster geheiratet zu haben, von dem sie ihrer Meinung nach vier Kinder hatte. Ob das stimmt, ist allerdings zweifelhaft. Sie zog nach Liverpool, stahl Geld für den Fährpreis und stahl weiter, als sie dort ankam. Dies sollte ihr im Alter von 18 Jahren eine vierjährige Haftstrafe einbringen. Bei ihrer Entlassung ging sie nach London und nahm eine Arbeit als Reinigungskraft an – oft „putzte“ (entwendete) sie die Besitztümer ihres Arbeitgebers, bevor sie weiterzog. 1873 ließ sie sich in Rose Gardens In London's Hammersmith-Bereich nieder. Ihre Nachbarn nebenan waren Henry und Ann Porter, mit denen sie sich gut verstand und die später in ihrer Geschichte eine Rolle spielen sollten. Sie zog wenig später nach Notting Hill, um einen neuen Job als Köchin/Haushälterin bei Captain Woolbest anzunehmen und traf während ihrer Anstellung einen Mann namens Strong, bei dem sie lebte und von dem sie schwanger wurde. Sie brachte ordnungsgemäß einen Sohn zur Welt (am 19.04.1874). Für Mr. Strong war das der Anlass, sie und das Kind zu verlassen. Sie blieb ohne jegliche Art von Unterstützung (es gab damals keine Sozialversicherung) zurück. In ihrer Not griff Kate zu ihren üblichen unehrlichen Praktiken und verbüßte daraufhin mehrere Gefängnisstrafen.
Nach ihrer Entlassung aus Wandsworth im Jahr 1877 suchte sie erneut Arbeit im Haushalt – zunächst bei der Familie Mitchell in Teddington , von der sie sagen sollte, dass sie nichts zu stehlen hätten. Sie war zu dieser Zeit ständig unterwegs und benutzte mehrere Aliase, darunter Webster und Lawler. Sarah Crease, eine andere Hausangestellte, freundete sich irgendwo in dieser Zeit mit Kate an, und es war Sarah, die sich während der Gefängnisaufenthalte seiner Mutter um Kates Sohn kümmerte.

Der Mord.

Am 13. Januar 1879, trat Kate in den Dienst von Frau Julia Martha Thomas bei No. 2 Vine Cottages, Parkstraße, Richmond. Zunächst verstanden sich die beiden Frauen gut, und Kate berichtete, dass sie das Gefühl hatte, glücklich sein zu können, für Mrs. Thomas zu arbeiten, die es gut hatte, obwohl sie eine ziemlich exzentrische Frau Mitte 50 war.  Bald jedoch fingen die schlechte Qualität von Kates Arbeit und ihre häufigen Besuche in lokalen Kneipen an, Mrs. Thomas zu irritieren, und nach verschiedenen Verweisen kündigte sie Kate mit Wirkung zum Freitag, dem 28. Februar. Diese Kündigungsfrist war ein fataler Fehler von Frau Thomas und sie hatte während dieser Frist zunehmend Angst vor ihrer Mitarbeiterin, so dass sie Freunde aus ihrer Gemeinde und Verwandte bat, bei ihr im Haus zu bleiben. Freitag der 28. kam und da Kate weder einen neuen Job noch eine Unterkunft gefunden hatte, bat sie Mrs. Thomas, über das Wochenende in ihrem Haus bleiben zu dürfen. Leider stimmte Mrs. Thomas dem zu – eine Entscheidung, die beiden Frauen das Leben kosten sollte.


Am Sonntagmorgen (den 2. März 1879), Frau Thomas ging wie gewöhnlich in die Kirche. Kate durfte am Sonntagnachmittag frei haben, musste aber rechtzeitig zurück sein, damit Mrs. Thomas zum Abendgottesdienst gehen konnte. An diesem Sonntagnachmittag besuchte Kate ihren Sohn, der wie üblich in der Obhut von Sarah Crease war und ging dann auf dem Rückweg zu den Vine Cottages in eine Kneipe. Daher kam sie spät zurück, was Mrs. Thomas Unannehmlichkeiten bereitete, die sie erneut zurechtwies, bevor sie davoneilte, um nicht zu spät zum Gottesdienst zu kommen. Gemeindemitglieder bemerkten, dass sie aufgeregt wirkte, ob dies daran lag, dass sie Kates Unehrlichkeit vermutete und befürchtete, dass ihr Haus ausgeraubt wurde, ist durchaus möglich. Was auch immer der Grund war, Frau Thomas verließ die Kirche vor dem Ende des Gottesdienstes und ging nach Hause, leider ohne jemanden zu bitten, sie zu begleiten.

Was dann genau geschah, ist unklar. In ihrem Geständnis vor ihrer Hinrichtung Kate beschrieb die Ereignisse wie folgt: „Wir hatten eine Auseinandersetzung, der zu einem heftigen Streit heranreifte und am Gipfel meiner Wut warf ich sie vom oberen Ende der Treppe ins Erdgeschoss. Sie hatte einen schweren Sturz. Das habe ich gespürt Sie war schwer verletzt und ich wurde aufgeregt über das, was passiert war, verlor jegliche Kontrolle über mich und um zu verhindern, dass sie schrie oder mich in Schwierigkeiten brachte, packte ich sie an der Kehle und würgte sie im Kampf." Bei ihrem Prozess zeichnete die Staatsanwaltschaft ein ganz anderes Bild. Die Nachbarin von Frau Thomas, Frau Ives, hörte das Geräusch des Sturzes, gefolgt von Stille, und dachte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr daran. Sie ahnte nicht, was als nächstes passieren würde. Kate hatte natürlich das Problem, was sie mit der Leiche anfangen sollte, aber anstatt sie einfach zu verlassen und zu fliehen, beschloss sie, die Tote zu zerstückeln und die Teile dann im Fluss zu entsorgen. Mit einer erstaunlichen Energie und Kälte ging sie an diese grausame Aufgabe heran, indem sie der toten Frau zuerst mit einem Rasiermesser und einer Fleischsäge den Kopf abschlug und dann ihre Gliedmaßen abhackte. Sie kochte die Gliedmaßen sowie den Oberkörper in einem Kupferkessel auf dem Herd und verbrannte die Organe, einschließlich aller Eingeweide, von Mrs. Thomas. Allerdings war Kate letztendlich von all dem, und der enormen Menge Blut überall, doch angewidert. Aber sie hielt an der Arbeit fest und verbrannte oder kochte systematisch alle Körperteile und packte die Überreste dann in eine Holzkiste, bis auf den Kopf und einen Fuß, für die sie keinen Platz fand. Es wurde gesagt, dass Kate sogar versuchte haben soll, die fettigen Überreste vom Kochen des Körpers als Tropfen zu verkaufen. Frau Ives konnte später einen seltsamen Geruch von nebenan vermelden (der durch das Brennen verursacht wurde). Kate entsorgte den Ersatzfuß auf einem Misthaufen, blieb aber mit dem Problem des Kopfes zurück. Den beschloss sie, in eine schwarze Tasche zu stecken, um ihn, weit weg von ihr, verschwinden zu lassen .

Montags und dienstags fuhr sie damit fort, das Cottage aufzuräumen, und dann „borgte“ sie sich eines von Mrs. Thomas' Seidenkleidern und besuchte am Dienstagnachmittag die Familie Porter, wobei sie die schwarze Tasche mit dem Kopf mitnahm. Sie erzählte den Trägern, dass sie vom Testament einer Tante profitiert hatte, die ihr ein Haus in Richmond hinterlassen hatte und sie vieles aus der Einrichtung und dem Inhalt entsorgen wollte, da sie sich entschieden hatte, dorthin nach Irland zurückzukehren. Sie fragte Henry Porter, ob er einen Immobilienmakler kenne, der ihr vielleicht behilflich sein könnte. Später am Abend entschuldigte sich Kate und ging weg, angeblich um einen anderen Freund zu besuchen, und kehrte später ohne die schwarze Tasche zurück, die nie gefunden wurde. Sowohl Henry Porter als auch sein Sohn Robert hatten die Tasche für Kate auf verschiedenen Etappen ihres Spaziergangs zum Bahnhof und zu zwei Pubs auf dem Weg getragen und beide bemerkten, wie schwer sie war. Diese ließ Kate mit dem Rest der menschlichen Überreste in der Kiste zurück, die sie noch entsorgen musste. Sie suchte die Dienste des jungen Robert Porter, um ihr dabei zu helfen und nahm den Jungen zu diesem Zweck mit nach Hause. Sie und Robert trugen die Kiste zwischen sich zur Richmond Brücke, wo Kate plötzlich erzählte, sie würde hier jemanden treffen, der die Kiste nehmen wolle. Zu Robert sagte sie, er solle schon ohne sie weitergehen. Robert hörte ein paar Augenblicke später, bevor Kate ihn wieder einholte,  wie etwas Schweres auf das Wasser klatschte.
Die Kiste wurde am nächsten Morgen von einem Kohlenmann entdeckt, der beim Öffnen einen schrecklichen Schock erlitten haben muss. Er meldete seine Entdeckung Inspector Harber auf der Polizeistation von Barnes, und die Polizei ließ die verschiedenen Körperteile von einem örtlichen Arzt untersuchen, der erklärte, dass sie von einer menschlichen Frau stammten und bemerkte, dass die Haut Anzeichen von Kochen aufwies. Ohne den Kopf war es jedoch nicht möglich, den Körper zu identifizieren.
Kate nannte sich inzwischen Mrs. Thomas und trug die Kleidung und den Schmuck der toten Frau. Sie setzte Henry Porter weiterhin unter Druck, ihr bei der Veräußerung des Grundstücks zu helfen. Der stellte sie einem Mr. John Church vor, einem Wirt und Generalhändler, den sie überredete, den Inhalt des Hauses zu kaufen. Kate und Church schienen schnell Freunde zu werden und gingen mehrmals zusammen trinken. Die echte Mrs. Thomas war zu diesem Zeitpunkt noch nicht als vermisst gemeldet worden und die Papiere bezeichneten die menschlichen Überreste in der Kiste als „das Barnes-Geheimnis“, eine Tatsache, die Kate, wie sie lesen konnte, ebenso bekannt war wie die Familie Porter. Robert erzählte seinem Vater von der Kiste, die er Kate beim Tragen geholfen hatte und die der in den Zeitungen beschriebenen entsprach.
Kate einigte sich mit John Church auf einen Preis für die Möbel und einige von Mrs. Thomas' Kleidern, und er arrangierte ihre Entfernung. Es überrascht nicht, dass dies den Verdacht von Mrs. Ives nebenan wecken sollte, die Kate befragte, was los sei. Mrs. Church sollte später in einem der Kleider eine Handtasche und ein Tagebuch von Mrs. Thomas finden. Es gab auch einen Brief von einem Mr. Menhennick, dem Henry Porter und John Church einen Besuch abstatteten. Menhennick kannte die echte Mrs. Thomas und aus der Diskussion wurde klar, dass es durchaus ihre Leiche in der Kiste sein könnte.

Die drei Männer gingen zusammen mit Menhennicks Anwalt zum Gericht Richmond/Polizeidienststelle und meldeten ihren Verdacht. Am nächsten Tag wurden die Vine Cottages Nr. 2 durchsucht und eine Axt, ein Rasiermesser und einige verkohlte Knochen wurden zusammen mit dem fehlenden Griff aus der im Fluss gefundenen Kiste geborgen. So wurde am 23. März eine vollständige Beschreibung von Kate Webster von der Polizei im Zusammenhang mit dem Mord an Mrs. Thomas und dem Diebstahl ihrer Habseligkeiten verteilt.
Kate hatte beschlossen mit ihrem Sohn nach Irland zu fliehen - das war auch der erste Ort, an dem die Polizei nach ihr suchte. Am 28. März wurde sie festgenommen und in Gewahrsam gehalten, bis sie von zwei Detektiven von Scotland Yard abgeholt wurde. Man brachte sie zurück nach England in die Richmond/Polizeiwache, wo sie am 30. März eine Aussage machte und formell des Mordes angeklagt wurde. In der Erklärung wurde John Church beschuldigt, für den Tod von Mrs. Thomas verantwortlich zu sein. Auch er wurde im Anschluß verhaftet und des Mordes angeklagt. Glücklicherweise hatte er ein starkes Alibi, womit er auch die Polizei bei der Aufklärung der Verbrechen unterstützte. Bei der Anhörung wurden sämtliche Anklagen gegen ihn fallen gelassen, während Kate in Untersuchungshaft saß. Sie wurde in das Newgate-Gefängnis verlegt, um die tägliche Fahrt mit einem von Pferden gezogenen Gefängniswagen durch London für ihren Prozess zu sparen.

Gerichtsverhandlung.

Ihr Prozess wurde am 2. Juli 1879 von Mr. Justice Denman am Central Criminal Court (Old Bailey) in Newgate eröffnet. Angesichts der Schwere des Verbrechens wurde die Krone vom Generalstaatsanwalt Sir Hardinge Gifford geführt und Kate von Mr. Warner Sleigh verteidigt.
Eine Hutmacherin namens Mary Durden gab der Staatsanwaltschaft Beweise, indem sie dem Gericht mitteilte, dass Kate ihr am 25. Februar gesagt hatte, sie würde nach Birmingham gehen, um die Kontrolle über das Eigentum, den Schmuck usw. zu übernehmen, das ihr von einer kürzlich verstorbenen Tante hinterlassen worden war. Dies, so die Staatsanwaltschaft, sei ein klarer Beweis für Vorsatz, da das Gespräch sechs Tage vor dem Mord stattgefunden habe.

Eines der Probleme der Anklage war jedoch der Nachweis, dass die menschlichen Überreste, die die Polizei gefunden hatte, tatsächlich die von Mrs. Thomas waren. Es war eine Schwäche, die ihre Verteidigung auszunutzen versuchte, zumal es ohne den Kopf damals keine Möglichkeit gab, sie eindeutig zu identifizieren. Mediale Beweise zeigten, dass alle Körperteile derselben Person gehörten und dass sie von einer Frau in den Fünfzigern stammten. Die Verteidigung versuchte vorzuschlagen, dass Mrs. Thomas hätte angesichts ihrer Aufregung eines natürlichen Todes sterben können, als sie am Sonntagnachmittag das letzte Mal gesehen wurde, wie sie die Kirche verließ. Sowohl Henry Porter als auch John Church sagten gegen Kate aus, indem sie die Ereignisse beschrieben, an denen sie beteiligt waren, während ihre Verteidigung erneut versuchte, mit dem Finger des Verdachts auf sie zu zeigen. Der Richter verwies in seinem Resümee jedoch auf die Taten und bisher bekannten guten Charaktere der beiden. Zwei von Kates Freundinnen, Sarah Crease und Lucy wiesen ebenfalls auf die Taten und bisher bekannten guten Charaktere der beiden hin.
Am späten Nachmittag des Dienstag, dem 8. Juli, zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück, um über ihr Urteil nachzudenken und kehrten bereits nach etwas mehr als einer Stunde wieder zurück, um sie für schuldig zu erklären. Bevor sie verurteilt wurde, bestritt Kate die Anklage erneut vollständig, sprach Church und Porter jedoch von jeglicher Beteiligung an dem Verbrechen frei. Wie üblich wurde sie gefragt, ob sie etwas zu sagen habe, bevor sie verurteilt würde. Daraufhin behauptete sie, schwanger zu sein. Sie wurde auf der Stelle von einem Gremium von Matronen untersucht, das aus einigen der im Gericht anwesenden Frauen bestand. Diese Behauptung wurde sofort als eine weitere ihrer Lügen zurückgewiesen. Sie kehrte nach Newgate zurück und wurde am nächsten Tag nach Wandsworth verlegt, um auf die Hinrichtung zu warten. Man vermutet heute, dass Wandsworth zu diesem Zeitpunkt keine Zelle für Verurteilte hatte, welche auf die Vollstreckung der Todesstrafe warteten, obwohl dies fast unwahrscheinlich erscheint. Auf jeden Fall wurde Kate rund um die Uhr von Teams weiblicher Gefängnisbeamter bewacht.
Kate sollte in Wandsworth zwei weitere „Geständnisse“ machen. Das erste impliziert Strong, den Vater ihres Kindes. Auch diese Vorwürfe erwiesen sich als haltlos.
Kate wurde von ihrem Anwalt darüber informiert, dass ihr trotz einiger öffentlicher Bemühungen um eine Umwandlung keine Gnadenfrist gewährt werden würde. Am Vorabend ihrer Erhängung legte Kate dem Anwalt in Anwesenheit des sie behandelnden katholischen Priesters Pater McEnrey ein weiteres Geständnis ab , welches der Wahrheit etwas näher zu kommen schien. Sie erklärte, dass sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden habe und dass sie fast lieber hingerichtet werden würde, als in ein Leben voller Elend und Täuschung zurückzukehren.

Ausführung.

Die tatsächliche Vollstreckung des Todesurteils hatte sich in den 11 Jahren zwischen dem Ende der öffentlichen Erhängung und Kates Tod stark verändert, auch wenn die Worte des Urteils dies nicht getan hatten. Es war nicht länger ein öffentliches Spektakel, bei dem der Gefangene einen kurzen Tropfen (kurzer Tropfen ist ein kurzes Seil mit Schlinge - der Verurteilte wurde bei der Hinrichtung damit langsam und qualvoll erstickt) bekam und qualvoll sterben musste. William Marwood hatte den Prozess stark verbessert und die "Long Drop"-Methode eingeführt, die dazu bestimmt war, das Genick der Person zu brechen und eine sofortige Bewusstlosigkeit zu verursachen. Die Hinrichtung sollte wie üblich an drei freien Sonntagen nach dem Urteil stattfinden und wurde für den Dienstagmorgen, den 29. Juli, im Wandsworth-Gefängnis angesetzt. Wandsworth war ursprünglich das Surrey House of Correction und war 1851 erbaut worden. Es übernahm die Verantwortung für den Wohnungsbau Surrey's verurteilte Gefangene bei der Schließung des Gefängnisses in der Horsemonger Lane im Jahr 1878.
Kate sollte nur die zweite Person und die einzige Frau sein, die dort gehängt wurde.


Information:

Das Wandsworth-Gefängnis wurde im November 1851 eröffnet und hieß ursprünglich The Surrey House of Correction. Wie das Pentonville-Gefängnis wurde es nach dem „Panopticon“-Design gebaut, um die Nutzung des „separaten Systems“ für 700 Gefangene in Einzelzellen mit jeweils Toiletteneinrichtungen zu ermöglichen. Es wurde von DR Hill entworfen und auf einem 26 Hektar großen Gelände zu einem Preis von £ 140, 319 11s 4d errichtet. Der Hauptteil des Gefängnisses mit vier von der Mitte ausgehenden Flügeln war für männliche Gefangene mit einem kleineren separaten Gebäude für Frauen.   Zwei weitere Flügel wurden 1856 hinzugefügt, um die gezeigte Anordnung zu ergeben .  Ab 1870 verschlechterten sich die Bedingungen in Wandsworth und die Toiletten wurden aus den Zellen entfernt, um Platz für zusätzliche Gefangene zu schaffen, und die Praxis des "Slopping Out" wurde eingeführt, die bis 1996 in Kraft bleiben sollte.
Mit der Schließung des Horsemonger Lane Gaol wurden seine Hinrichtungsaufgaben 1878 nach Wandsworth verlegt und in einem der Höfe wurde ein Hinrichtungsschuppen errichtet. Zu dieser Zeit gab es in Wandsworth nur eine verurteilte Zelle, was manchmal die Verwendung einer Zelle im Krankenhausflügel erforderte, wenn mehr als ein zum Tode verurteilter Gefangener war.   Es wird vermutet, dass Kate Webster dort festgehalten wurde.
Insgesamt sollten hier von 1878 bis 1961 135 Häftlinge hingerichtet werden, darunter 134 Männer und eine Frau. Die achtzehn Hinrichtungen im 19. Jahrhundert waren alle wegen Mordes. Weitere 117 Männer wurden dort im 20. Jahrhundert gehängt, darunter 105 Mörder, 10 Spione (einer im Ersten Weltkrieg und neun im Zweiten Weltkrieg) und zwei Verräter, John Amery und William Joyce, nach dem Ende der Feindseligkeiten im Zweiten Weltkrieg .

Um 8.45 Uhr begann die Gefängnisglocke an zu läuten und ein paar Minuten vor 9.00 Uhr formierte sich der Sheriff, der Gefängnisgouverneur, Captain Colville, der Gefängnisarzt, zwei männliche Wärter und Marwood vor ihrer Zelle. Drinnen wurde Kate von Pater McEnrey und zwei Wärterinnen betreut. Normalerweise wäre ihr vor Beginn der Hinrichtung ein großer Schluck Brandy angeboten worden. Der Gouverneur betrat ihre Zelle um ihr zu sagen, dass es an der Zeit sei. Sie wurde zwischen den beiden männlichen Wärtern, begleitet von Pater McEnrey, über den Hof zu dem eigens errichteten Hinrichtungsschuppen geführt, der den Spitznamen „Cold Meat Shed“ trug.  Die Aufstellung des Galgens in einem separaten Gebäude ersparte den anderen Gefangenen das Geräusch der fallenden Falle und erleichterte auch dem Personal die anschließende Hinrichtung und Entfernung der Leiche. Als Kate den Schuppen betrat, hätte sie den großen weiß gestrichenen Galgen mit dem vor ihr baumelnden Seil mit seiner einfachen Schlaufe, die an den Falltüren lag, sehen können. Die Idee, das Seil aufzurollen, um die Schlinge auf Brusthöhe zu bringen, kam später, ebenso wie die Messingöse in der Schlinge. Marwood hielt sie an der Kreidemarkierung an den doppelten Falltüren an und legte einen Ledergürtel um ihre Taille, an dem er ihre Handgelenke befestigte, während einer der Wärter ihre Knöchel mit einem Lederriemen festschnallte. Sie wurde nicht in ihrer Zelle gefesselt, wie es später üblich wurde. Sie wurde auf der Falle von den beiden Wärtern gestützt, die auf Planken standen, darüber gesetzt. Dies war seit einigen Jahren die übliche Praxis für den Fall, dass der Gefangene im letzten Moment ohnmächtig wurde oder sich wehrte. Marwood legte ihr die weiße Kapuze über den Kopf und rückte die Schlinge zurecht, wobei das freie Seil über ihren Rücken lief.

Ihre letzten Worte waren: „Herr, erbarme dich meiner.“  Er trat schnell zur Seite und zog den Hebel, Kate stürzte etwa 8 Fuß in die mit Ziegeln ausgekleidete Grube darunter. Marwood verwendete deutlich längere Tropfen, als sich später als notwendig herausstellten. Kates Leiche wurde für die übliche Stunde hängen gelassen, bevor sie heruntergenommen und für die Beerdigung vorbereitet wurde. Der ganze Prozess hätte damals ungefähr zwei Minuten gedauert und galt als weitaus humaner als Calcrafts Hinrichtungen.
Die schwarze Flagge wurde am Fahnenmast über dem Haupttor gehisst, wo sich eine kleine Menschenmenge zu ihrer Hinrichtung versammelt hatte. Sie hätten nichts gesehen und gehört, und doch wurden diese ziemlich sinnlosen Versammlungen außerhalb der Gefängnisse während der Hinrichtungen bis zur Abschaffung fortgesetzt. Da es sich bei dem Verbrecher um eine Frau handelte, durften keine Zeitungsreporter an der Hinrichtung teilnehmen, aber die Illustrated Police News fertigte eine ihrer berühmten Zeichnungen der Szene an, wie sie sie sich vorstellte, wobei Marwood die Kapuze über den Kopf einer angeketteten Kate zog.  

The Sheriff's Cravings zeigt, dass William Marwood 11 Pfund für das Aufhängen von Kate erhielt, vermutlich 10 Pfund plus 1 Pfund Unkosten.
Später am Tag wurde ihr Körper in einem nicht gekennzeichneten Grab in einem der Übungshöfe in Wandsworth begraben (niemand sonst sollte in diesem Grab begraben werden, obwohl die Behörden nach der 90. Hinrichtung damit begannen, Männergräber wiederzuverwenden, aber nicht ihres .) Sie ist in den handschriftlichen Gefängnisakten als Catherine Webster aufgeführt, beigesetzt am 29.07.1879. Obwohl sie die zweite Person war, die in Wandsworth hingerichtet wurde, wurde sie in Grab Nr. 3, da die Gräber auf der einen Seite des Weges mit 1, 3, 5 usw. nummeriert waren, während sie auf der anderen Seite mit 2, 4, 6 usw. nummeriert waren, und es wurde beschlossen, zuerst die auf einer Seite zu verwenden. Insgesamt sollten 134 Männer und Kate bis 1961 in Wandsworth gehängt werden, als Henryk Niemasz als letzter (am 8. September) für den Mord an Mr. und Mrs. Buxton zu leiden hatte.

Kommentar.

Wenn die Ereignisse an diesem Sonntagabend genau so waren, wie Kate sie beschrieben hat, ist es seltsam, dass Mrs. Ives den Streit oder andere Geräusche von nebenan nicht gehört hat. Nochmals, warum waren oben auf der Treppe Blutflecken, wenn Mrs. Thomas' Verletzungen unten aufgetreten waren? Es wird allgemein angenommen, dass Kate Mrs. Thomas auflauerte und sie mit einer Axt auf den Kopf schlug, was dazu führte, dass sie die Treppe hinunterfiel, wo sie sie dann erwürgte, um weiteren Lärm zu verhindern. Dies würde das Verbrechen natürlich zu einem vorsätzlichen Mord machen und entspricht viel mehr den forensischen Beweisen. Ob Kate beschloss, Mrs. Thomas aus Rache für ihre frühere Aussage zu töten, oder ob sie eine großartige Gelegenheit sah, Vine Cottage zu stehlen, oder beides, ist unklar. Es ist nicht unbekannt, dass zuvor gewaltfreie Kriminelle sich dem gewaltsamen Mord zuwenden. John Martin Scripps war bis heute der letzte Brite, der wegen Mordes gehängt wurde, als er im April 1996 in Singapur hingerichtet wurde. Beide waren wegen Unehrlichkeit verurteilt worden. Aber was hat Kate zu solch entsetzlicher Gewalt gebracht? Hatte sie einfach zugeschnappt oder hatte sie etwa zwei Stunden damit verbracht, darüber nachzudenken? Die Antwort auf diese Fragen werden wir nie erfahren, weil es damals noch keine psychiatrische Begutachtung von Mördern gab.

Nachschrift.

Im Oktober 2010 wurde berichtet, dass der Schädel von Julia Martha Thomas endlich auf dem Gelände von Sir David Attenboroughs Anwesen in New York entdeckt wurde Parkstraße, Richmond von Arbeitern, die für eine Verlängerung ausheben. Er hatte eine ehemalige Kneipe namens "The Hole in the Wall" gekauft, die an sein Grundstück angrenzte, und die Rückseite der Kneipe abgerissen.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Kate Webster „The Hole in the Wall“ besucht hat. Der Bericht des Gerichtsmediziners besagte, dass der Schädel Brüche hatte, die mit einem Treppensturz einhergingen, und auch Kollagen aufgebraucht war, was darauf hindeutete, dass er gekocht worden war.

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