Vom Mittelalter bis in die heutige Zeit.



 24. Der Fall - Sylvester Matuschka (1931)


Einleitung:

Sylvester Matuska hat traurige Weltberühmtheit erlangt. Ist es doch der Mann, der mit staunenswerter Hartnäckigkeit in 3 verschiedenen Ländern Europas Eisenbahnattentate schwerster Art ins Werk setzte, 22 Menschenleben vernichtete und zahllose Männer, Frauen und Kinder zu Krüppeln machte.

Das Wiener Strafgericht hat die von Matuska in Österreich begangenen Verbrechen kürzlich abgeurteilt. Wegen der im Gebiete des Deutschen Reiches und in Ungarn verübten Straftaten wird sich Matuska noch zu verantworten haben. Wenn so das Wiener Urteil auch nur einen Ausschnitt aus der gesamten verbrecherischen Tätigkeit Matuskas betrifft und wenn es überdies noch nicht einmal Rechtskraft hat, so ist doch jetzt eine so bedeutsame und aufschlußreiche Phase abgeschlossen, daß es am Platze ist, sich mit dem Fall vom kriminalistischen Standpunkt aus eingehender zu befassen.
Und niemand ist dazu wohl berufener als der oberste Chef der Wiener Kriminalpolizei, der im folgenden auch eine Reihe irriger Pressemeldungen richtigstellen wird.                   R. H.

(siehe Quellenangabe)

1. Die Tatbestände.

In der Silversternacht des Jahres 1930 wurde auf der Strecke der österreichischen Bundesbahnen (Westbahnlinie) zwischen den Stationen Anzbach und Unter-Oberndorf1 — glücklicherweise noch vor Eintritt irgendeines Schadens — ein offenbar verbrecherischer Anschlag entdeckt, der dadurch begangen worden war, daß bei einer Kurve, die über eine etwa 6 m hohe Böschung geht, an einer Stelle des Geleises die Schienen gelockert und zwei sog. „Laschen" entfernt worden waren. Die nach dem Täter eingeleiteten Nachforschungen blieben ergebnislos.

Daß es sich nicht etwa nur um einen unüberlegten Streich handelte, zeigte die auffällige, zu ernster Beunruhigung Anlaß gebende Tatsache, daß nach einem Monat, nämlich am 30. Januar 1931 um ¾ 12 Uhr nachts, in nächster Nähe dieser Stelle die Lokomotive des von Wien nach Passau verkehrenden D-Zuges Nr. 117 entgleiste, wobei einige Postbeamte im Postwagen leichte Verletzungen erlitten. Als Ursache dieses Verkehrsunfalles, der mit einem Sachschaden von ungefähr 3500 S verbunden war, konnte festgestellt werden, daß 3 Parallelschraubstöcke auf dem Geleise befestigt waren, vor die quer über die Schienen eine ungefähr 1 ¾ m lange Eisentraverse gelegt worden war.

Nächst dem Tatort wurden gefunden:

  • a) 2 Steckschlüssel für Schwellenschrauben,
  • b) ein normaler Schraubenschlüssel aus Stahl,
  • c) ein sog. „Franzose" aus Stahl,
  • d) ein Strick sowie ein halber länglicher Brotwecken.
  • e) Außerdem wurde, ungefähr 600 m vom Tatorte entfernt, in einem Bache eine lichtbraune Kartonschachtel, auf deren Deckel rechts mit Blaustift die Bezeichnung „240" geschrieben stand, entdeckt. In der Schachtel befanden sich etwas Holzwolle und 2 kleine Wattebauschen.

Nun wurden von der Gendarmerie und von der Wiener Polizeidirektion umfassende Erhebungen eingeleitet, die alsbald zu folgenden Ergebnissen führten:

Die Parallelschraubstöcke und die Eisentraverse waren am 30. Januar in Wien von einem Mann gekauft worden, der beschrieben wurde: Ungefähr 40 bis 42 Jahre alt, ungefähr 175 bis 178 cm groß, mit blassem länglichem Gesichte, bekleidet mit kurzem grauem oder braunem Pelzsakko, lichter geschlossener „Struksbreecheshose", schwarzen Röhrenstiefeln und einer sog. „Burgenländerkappe" (einer den Skikappen ähnlichen Kopfbedeckung) von dunkler Farbe, vorne mit einem Tuchsturmband und einem Tuchschirm. Der Mann hatte über der rechten Oberlippenhälfte einen Wattebausch, der durch ein Pflaster befestigt war, trug zeitweilig dunkle Augengläser und sprach mit leiser, anscheinend heiserer Stimme. Dieser Mann hatte am 20. Januar durch einen Wiener Lastautounternehmer, der ermittelt werden konnte, über die Persönlichkeit seines Auftraggebers aber nichts Sachdienliches anzugeben vermochte, die vorgenannten Gegenstände bis zu der Stelle, wo nachmals die Schachtel gefunden wurde, bringen lassen. Die Schachtel rührte von einer Wiener Salamifabrik her und war von dieser dem Gemischtwarenhändler Anton D. in der Praterstraße geliefert worden. D. hatte Ende Januar einem unbekannten Manne 2 Flaschen Wein, l Flasche Likör und l Brotwecken von derselben Art wie der nächst dem Tatort aufgefundene in diese Schachtel eingepackt.
Der beschriebene Mann war am 30. Januar 1931 um 1 Uhr und 2 Uhr nachmittags in Wien in 2 Gasthäusern nächst dem Praterstern im II. Bezirke gesehen worden. Zwischen ½ und ¾ 5 Uhr nachmittags war er mit einem Autotaxi zum Westbahnhof und von dort mit dem schon erwähnten Lastautounternehmer weiter gegen Neulengbach gefahren.
Alle Bemühungen der Wiener Polizeidirektion und der Gendarmerie sowie der um Mitforschung angegangenen in- und ausländischen Behörden, auf Grund dieser Ergebnisse auf die Spur des Täters zu kommen, blieben die längste Zeit hindurch fruchtlos.

Am Samstag, dem 8. August 1931, gegen 21 Uhr 45 Minuten entgleiste zwischen den Stationen Jüterbog-Grüna - Kloster Zinna der D-Zug Frankfurt a. M. - Berlin. Es rissen 7 Personen-, l Speise- und l Personenwagen vom vorderen Zugteile ab und rutschten an der 10m hohen Böschung hinunter, bis sie sich ins Erdreich einbohrten. Hierbei haben 109 Personen Verletzungen erlitten. Der angerichtete Sachschaden wurde mit ungefähr 31700 RM. eingeschätzt. Es konnte sofort festgestellt werden, daß es sich um ein Sprengstoffattentat handelte und daß als Sprengkörper 2 Eisenrohre von je 1,55 m Länge verwendet worden waren. Am Tatorte wurde eine elektrische Leitung, bestehend aus rosaumsponnenem Kupferdraht, entdeckt, welche von der Entgleisungsstelle zu einem ungefähr 172 m weit entfernten Gebüsch führte, wo sie an einem ungefähr l m über der Erde befindlichen Ast befestigt war. Unterhalb dieser Stelle befand sich eine höhlenartige Vertiefung im Erdreich, und es war offenbar, daß der Attentäter von dort aus seine Operationen durchgeführt hatte. Außerdem wurde an einer Telegraphenstange in der Nähe dieses Gebüsches die mit Reißnägeln befestigte Titelseite des nationalsozialistischen Blattes „Angriff" vom 7. August 1931 entdeckt; der unbedruckte Teil dieses Papierblattes wies die mit Tintenstift in Antiqualettern geschriebenen Worte „Attentat", „Revolution", „Sieg, Sieg! 9./8.", sowie auch einige Hakenkreuze auf.

Eine Ergänzung dieses Materials bedeutete ein am 10. August 1931 in demselben Gebüsch gemachter Fund: ein in braunes Packpapier gehülltes Paket, das eine Holzrolle mit rotem Wachsdraht, 2 Zeitungsstücke des „Angriff", l Schachtel Isolierband, 2 leere Zigarrenschachteln und 32 Stück Packpapier enthielt. Der auf der Holzrolle befindliche Draht war offenbar von genau derselben Art wie derjenige, der zur Anlegung der Leitung verwendet worden war. Ebenso wurde festgestellt, daß das am Telegraphenmast gefundene Zeitungsblatt zu den im Paket aufgefundenen Stücken gehörte. Das zur Hülle des Pakets dienende Packpapier trug die mit Tintenstift geschriebene Adresse: „Frau A. Ruppert, Berlin SW, Friedrichstraße 9".

Die Berliner Polizei stellte fest:


Am 6. August 1931 war gegen 11 Uhr vormittags in Berlin in das in der Friedrichstraße 9 befindliche Geschäft des Installateurs A. Ruppert ein bis dahin dort unbekannter Mann gekommen, der zunächst 2 Stücke
Eisenrohre, je 1,57 m lang und im Durchmesser von 32 mm, im Verlaufe seines Gespräches aber schließlich 3 solche Rohre, die er angeblich für eine Wasseranlage in einem Landhaus benötigte, verlangte. Da Rohre von solchem Durchmesser nicht zu haben sind, wohl aber vom Durchmesser von 1 ¼ Zoll, war der Unbekannte auch mit solchen einverstanden. Diese wurden dann, da Ruppert über solche Rohre nicht verfügte, durch seine Vermittlung in einem anderen Geschäfte für den Fremden besorgt. In der Zeit, als er auf Überbringung der Ware wartete, hatte der Fremde erwähnt, er sei irischer Offizier, beziehe eine monatliche Pension in der Höhe von 700 RM. und halte sich seit 4 Jahren in Deutschland auf. Hingegen rief er bei den Inhabern des Geschäftes nach seiner Aussprache den Eindruck hervor, als ob er ein Österreicher wäre. Ebenderselbe Mann hatte dann 2 Tage später ebendort eine Rolle schwarzen Isolierbandes und eine Holzrolle mit 500m Leitungsdraht gekauft. Die ermittelte Personenbeschreibung lautete: 1,72m (?), Mitte der 30er, schlank, auffallend gebräunte Hautfarbe, dunkles Haar, starker Bartwuchs, gebrochene deutsche Sprache, mittelfarbiger Jackettanzug, weißes Oberhemd und Umlegkragen, farbiger Selbstbinder, grauer Schlapphut (Krempe vorne heruntergebogen), Sommermantel.
Auch in diesem Falle führten die Bemühungen der Polizei zunächst zu keinem Ergebnis.


Wieder an einem Samstag, nämlich am 12. September 1931, um Mitternacht, fand dann das schreckliche Attentat auf den Nachtschnellzug Nr. 10 Budapest - Wien nächst der Station BiaTorbagy statt. Die Verübung erfolgte mit Hilfe einer Höllenmaschine, die dadurch zur Explosion gebracht wurde, daß der dahinfahrende Zug durch Belastung einer elektrischen Vorrichtung einen Kontakt auslöste, der die Zündung herbeiführte. Der Erfolg war, daß die Lokomotive, der Packwagen, 2 Schlafwagen und 3 Personenwagen über eine 23 m hohe Böschung in die Tiefe stürzten. Hierbei büßten 22 Reisende ihr Leben ein, während 14 weitere Personen schwere Verletzungen erlitten. In der Nähe des Tatortes wurde ein Zettel mit folgendem Text gefunden:
„Arbeiter, ihr habt keine Rechte, also werden wir dieselben den Kapitalisten gegenüber erzwingen. Ihr werdet jeden Monat von uns hören, weil unsere Genossen überall zu Hause sind. Es gibt keine Arbeitsgelegenheiten, also werden wir solche schaffen. Alles werden die Kapitalisten bezahlen. Fürchtet euch nicht, das Benzin geht nicht aus."

Bilder, welche einen erschrecken lassen. Matuska kennt kein Erbarmen, wenn es um die Umsetzung seiner "wahnsinnigen Idee" geht. Selbst Menschenleben zählen für ihn nicht.

Bei der Aufräumung des Tatortes wurde ein ungefähr 100 g schweres Stück Ekrasit unterhalb des Viaduktes, ferner Teile eines etwa l m langen Eisenrohres von 37 mm Durchmesser und 2 kleine, scheinbar aus einem Eiberkoffer herausgerissene Stücke, sowie ein gelber alter Zollstab gefunden. Vermutlich sind diese Kofferstücke bzw. die an ihnen noch befindlichen messingnen Verschlußteile als Kontaktapparat verwendet worden. Die federnde Klappe ist durch Vermittelung des gelben Zollstockes von den Radbremsen der Lokomotive niedergedrückt worden.

Ein Opfer liegt noch erschlagen unter den Trümmern des Waggons.

Dieser Fall unterschied sich von den vorangegangenen dadurch, daß die unmittelbar nach der Katastrophe eingeleiteten Rettungs- und Ermittelungsaktion außerordentlich wichtige Wahrnehmungen hinsichtlich des Täters gemacht werden konnten, die dann auch zur vollständigen Lösung nicht nur dieses Ealles führten, sondern die Feststellung ermöglichten, daß auch die anderen hier dargestellten Fälle eine und dieselbe Persönlichkeit zum Urheber hatten.

2. Ermittelung und Überweisung des Täters.

Die Budapester Staatspolizei, welche sogleich nach dem Unfall an den Tatort eilte, wurde auf einen Mann aufmerksam, der behauptete, Passagier des verunglückten Zuges gewesen zu sein und sich in einem Waggon befunden zu haben, der 26 m tief herabgestürzt war. Da dieser Mann - er hieß Sylvester Matuska - außer 2 unbedeutenden Schnittwunden auf der rechten Wange keinerlei Verletzungen aufwies, mußte seine Behauptung einigermaßen auffallen. Denn es war schon unwahrscheinlich, daß ein Mensch nach einem solchen Fall nahezu unverletzt blieb. Aber auch sonst machte Matuska ziemlich widerspruchsvolle Bemerkungen, bei deren Beurteilung man allerdings zunächst die anscheinend begründete Erregung mit in Betracht ziehen mußte.

Jedenfalls erschienen sie auf den ersten Blick noch nicht hinlänglich gravierend, um eine sofortige Verhaftung zu rechtfertigen, zumal ja, wie es in solchen Fällen fast immer vorkommt, eine Reihe von Momenten auch andere Personen verdächtig erscheinen ließen; so hatte z. B. der vorgefundene Zettel einen Budapester Schriftsachverständigen zu der Annahme geführt, daß ein bei der Budapester Polizei als Kommunist in Vormerkung stehender Mann namens L. der Schreiber gewesen sei. Wegen Verfolgung dieser verschiedenen Spuren nahm die Budapester Polizei selbstverständlich auch die auswärtigen Polizeibehörden, insbesondere auch die Wiener Polizeidirektion in Anspruch. Was speziell Matuska anbelangt, so beschränkte sich die Budapester Polizei zunächst darauf, bei der Wiener Polizeidirektion am 22. September 1931 telefonisch, ohne einen speziellen Verdacht auszusprechen, anzufragen, ob der Kaufmann und Hausbesitzer Sylvester Matuska derzeit in Wien weile und was über ihn bekannt sei; die erforderlichen Erhebungen wären streng vertraulich zu pflegen.

Das Haus des Kaufmanns Sylvester Matuschka. Hier entwickelte er seine Attentatsstrategien auf die Eisenbahn.

Der hiernach für die Art der Recherchen vorgezeichnete Weg brachte es mit sich, daß der anfragenden Behörde, dem damaligen Stande der Dinge entsprechend, nichts anderes mitgeteilt werden konnte, als daß Matuska in Wien im eigenen Hause wohne, angeblich eine Fabrik in Tattendorf besitze, derzeit in Wien weile, als bestraft nicht vorgemerkt sei und daß auch sonst Nachteiliges über ihn nicht vorliege. Am 30. September 1931 traf hierauf Oberinspektor Hein von der Budapester Polizei in Wien ein und ersuchte, Matuska eine Reihe von Fragen vorzulegen. Matuska wurde zu diesem Zwecke am 1. Oktober ins Sicherheitsbüro vorgerufen und in Anwesenheit des Inspektors Hein im Sinne des gestellten Ansuchens befragt, so insbesondere über seinen angeblichen Unfall, über den Zweck seiner Reise nach Budapest und seinen dortigen Aufenthalt. Nach Erhalt der betreffenden - zunächst anscheinend unverfänglichen - Angaben reiste Inspektor Hein wieder ab. Die hierauf in Budapest vorgenommene Überprüfung der Angaben Matuskas und sonstige Erhebungen der Budapester Behörde lieferten dann diejenigen Momente, die geeignet waren, den Verdacht gegen ihn derart zu verdichten, daß die Budapester Oberstadthauptmannschaft sich veranlaßt sah, am 6. Oktober 1931 den Referenten des Falles, Polizeirat Dr. Schweinitzer, nach Wien zu entsenden.

Beim Vorhalte der Ergebnisse der Budapester Erhebungen machte Matuska derart unwahrscheinliche Angaben, daß er schon hierdurch schwersten Verdacht gegen sich erregte. Hierzu kam, daß er aus eigenem Antrieb erwähnte, daß er im Besitze von Ekrasit gewesen sei, und darauf hinwies, daß man noch Spuren davon auf seiner Hose resp. in deren Säcken finden werde. Seinen Angaben zufolge hatte er 10 kg Ekrasit in Wöllersdorf, 100 Stück Sprengkapseln in Blumau, 100 Glühzünder und eine elektrische Zündmaschine bei einer Wiener Firma gekauft. Seine Behauptung, er habe das Ekrasit gekauft, um einen Schornstein seiner Fabrik in Tattendorf niederzulegen, konnte dadurch widerlegt werden, daß der bewußte Schornstein schon vor dem Zeitpunkt, in dem der Kauf des Ekrasit erfolgte, umgelegt worden war. Auf diese Weise verdichteten sich die Verdachtsmomente immer mehr. Die Polizeidirektion verhängte über ihn sofort die Präventivhaft. Andererseits begann Matuska, je belastender für ihn die Erhebungsergebnisse sich gestalteten, ein um so eigentümlicheres Verhalten zur Schau zu tragen, offenbar um den Eindruck eines Geisteskranken zu erwecken. Zu den Beweisen, die schrittweise gewonnen wurden, gehören namentlich folgende Feststellungen: Als Matuska vor dem Eisenbahnattentat von Bia Torbagy am 3. September von Wien nach Budapest fuhr, hatte er nach seiner Angabe keinen Koffer bei sich; demgegenüber wurde festgestellt, daß er noch am 8. September im Besitze eines Koffers von einer Beschaffenheit gewesen ist, die jener der in Bia Torbagy gefundenen Reste entsprach. Ferner hatte Matuska auffälligerweise am 7. September in der Gepäckaufbewahrungsstelle auf dem Ostbahnhof in Budapest ein Hemd, ein Handtuch, ein Paar Schuhe, ein Buch, einen Kragen sowie einen Covercoat - aber ohne Koffer - deponiert.
Der Draht, der bei dem ungarischen Attentat verwendet worden war, entsprach in seiner ganzen Beschaffenheit durchaus dem Draht, der bei einer Hausdurchsuchung in der Fabrik des Matuska in Tattendorf gefunden wurde. Zur Höllenmaschine gehörte auch, wie oben erwähnt, ein alter Zollstab. Gelegentlich der bei Matuska vorgenommenen Durchsuchung in Wien wurde ein vollkommen neuer Zollstab gefunden. Matuska gab zu, einen alten Zollstab besessen zu haben, konnte jedoch über seinen Verbleib keine Auskunft erteilen. Die weitere Überprüfung der Gepflogenheiten des Matuska und seiner gesamten Lebensverhältnisse führte zur interessanten Feststellung, daß er, wie in diesem Falle nach Budapest, so auch sonst noch andere Reisen mit unbekannten Zielen und Zwecken unternommen hatte. Er war offenbar bestrebt gewesen, nicht einmal seiner Gattin das Ziel seiner jedesmaligen Reise bekanntzugeben. Kehrte er von einer derartigen Reise zurück, so war er im allgemeinen außerordentlich abgespannt und verstört, auch seine Kleidung war verwahrlost. Seiner Gattin gegenüber machte er über die betreffenden Reisen unwahre Angaben. Es lag daher die Annahme nahe, daß diese Reisen zu verbrecherischen Zwecken unternommen wurden.
Festgestellt wurde weiter, daß Matuska in der Zeit vom 15.- 30. April 1931 von Wien abwesend war und von seiner Gattin auch als abgängig angezeigt worden ist. Einen größeren Koffer, den er auf diese Reise mitgenommen hatte, hat er nicht wieder zurückgebracht. Insbesondere wurde festgestellt, daß er am 26. April 1931 von Berlin aus an seine Gattin telegrafisch 500 Schilling gesandt hat. Der Verbleib eines Betrages von 3000 Schilling, den Matuska bei Antritt der Reise bei sich hatte, konnte von ihm ebensowenig geklärt werden, wie der des oben erwähnten Koffers. Matuska gab an, er habe den Koffer vor einem von ihm geplanten Selbstmorde in die Donau geworfen. Eine weitere Reise des Matuska fiel in die Zeit vom 5.- 10. August 1931. Über seinen Aufenthalt während dieser Zeit wollte er zunächst keine plausible Auskunft geben.
Bei den weiteren Verhören, die der damalige Vorstand des Sicherheitsbüros, Hofrat Wahl, und der Referent des Falles, Polizeioberkommissar Dr. Böhm, unentwegt fortführten, kam man schrittweise der Wahrheit immer näher.
Zunächst, am 12. Oktober, versuchte Matuska glauben zu machen, daß er nicht selbst der unmittelbare Täter von Jüterbog und Bia Torbagy sei, sondern ein angeblicher Bergmann, über den er ziemlich phantastische Angaben machte. Mit den beiden Attentaten bei Anzbach wollte er überhaupt nichts zu schaffen haben. Nach weiteren 4 Tagen geistigen Ringens mit Matuska kam am 16. Oktober ein rückhaltsloses Geständnis. Matuska gab die unmittelbare und ausschließliche Täterschaft bezüglich der beiden Attentate bei Anzbach und der Attentate bei Jüterbog und Bia Torbagy zu. Er bekannte ferner, daß er bereits im April 1931 in Jüterbog an der Stelle, wo er später im August 1931 das Attentat verübt hat, einen Attentatsversuch mit einem autogenen Schweißapparat unternommen habe; infolge mangelnder Geschicklichkeit bei der Handhabung des Apparates hatte er aber über einen mißlungenen Angriff auf einen Marmeladekübel nicht hinausgelangen können.
Überdies gab er an, daß er noch 3 weitere Eisenbahnattentate, und zwar eines auf der Strecke Paris-Marseille, eines auf der Strecke Mailand-Ventimiglia und eines nächst Amsterdam verüben wolle.
Das Geständnis Matuskas zeichnete sich durch eine staunenswerte Genauigkeit aus. Dies versetzte die Behörde in die Lage, alle seine in objektiver Hinsicht gemachten Angaben sorgfältig zu überprüfen, wobei ihre volle Richtigkeit sich ergab. So konnte Matuska binnen kurzem dem Wiener Landesgericht überstellt werden.

3. Matuskas Angaben über das Motiv.

Matuska hat bei der Polizei und später auch bei Gericht folgendes angegeben:
Er wollte eine Art Kommunismus auf religiöser Basis ins Leben rufen, für diesen Plan Mitglieder werben und eine Art Sekte gründen. Seine Anhänger, die er erst werben wollte, sollten sich an bestimmte, von ihm ausgearbeitete Vorschriften halten. Zu diesen hätte gehört, daß große, aufsehenerregende Taten unternommen werden sollten, und zwar zuerst nur von ihm selbst, wenn aber die Mitgliederzahl über 100 gestiegen sein sollte, auch von anderen Mitgliedern, die ausgelost würden. Der Zweck sollte sein, die Welt aufmerksam zu machen und ihr zu zeigen, was er zu leisten imstande sei. Nach dem Gelingen dieser Tat wäre er hervorgetreten und hätte erklärt, daß er derjenige sei, der das alles ersonnen und ausgeführt hat. Die Welt sollte dann erkennen, daß er zum „Führer" dieser neuen Richtung sich eigne und bestimmt sei. Nur der Endzweck sei für ihn maßgebend gewesen. Neue große Gedanken hätten, wie die Geschichte erweise, vielfach auch Opfer an Menschenleben gefordert; deshalb habe er auch nicht zurückgescheut, durch verbrecherische Handlungen sein Ziel zu erreichen.
In der Hauptverhandlung erklärte Matuska zunächst, daß er durch die Attentate ein berühmter Mann werden wollte, um dann den Atheismus erfolgreich zu bekämpfen. Später gab er an, er habe die Eisenbahndirektionen erschrecken und dazu bringen wollen, einen Umbau auf elektrischen Betrieb vorzunehmen und seine Patente heranzuziehen. Andererseits sagte er, sein Ziel seien nicht Tote und Verletzte gewesen, sondern es habe sich ihm darum gehandelt, daß die Zeitungen von seinen Taten schreiben.
Den konkreten Hergang stellte Matuska folgendermaßen dar:
Er hatte angeblich vor einigen Jahren versprochen, für die neue Kirche in seinem Geburtsorte Cantavir 10 000 Dinar zu spenden, dieses Versprechen jedoch nicht gehalten. Zu Ende des Jahres 1930 habe ihn sein Schwiegervater in Cantavir an dieses Versprechen erinnert. Nun sei ihm (M.) der Gedanke gekommen, daß er aus dem Grunde sein ganzes Vermögen verloren habe, weil er sein Versprechen nicht gehalten habe. Er habe sich nun vorgenommen, sein Versprechen zu erfüllen und deshalb auf sein Haus in Wien durch Vermittelung eines Rechtsanwaltes Geld aufgenommen, um davon eine ,,Bethlehemkrippe" für Cantavir zu kaufen. Er habe dann wirklich am 15. Dezember 1930 bei einem Bildhauer eine Krippe, bestehend aus 22 Figuren, 91 kg schwer, um 400 Schilling gekauft und dann am 21. Dezember 1930 die Krippe nach Cantavir gebracht. In Cantavir stellte er die „Krippe" in der Kirche nach seinem eigenen Plane auf. Er habe nun gesehen, welch große Freude die Leute an der Krippe hatten und daß auch Personen die Kirche besuchten, die ihr sonst fernblieben. Daraufhin faßte er den Vorsatz, für die Kirche alles, was er versäumt habe, nachzuholen. Dies würde aber nur möglich sein, wenn er einen großen Namen habe und hundert Millionen Menschen auf ihn hören. Es sei sein Wunsch gewesen, einen Aufzug religiöser Arbeiter mit roten Fahnen zu sehen und ihnen zu beweisen, daß er schon große Taten vollbracht habe, um dann ihre Führung zu übernehmen. So sei er zum Entschluß gekommen, Eisenbahnattentate auszuführen, und zwar im Verlaufe eines Jahres bis zum Weihnachtsfest 1931.
Zur Ausführung seines Planes ließ er sich zunächst durch ein fingiertes Telegramm von einem Freund nach Wien berufen. Er reiste allein von Cantavir ab und langte in Wien am 29. Dezember 1930 an. Dort begann er seine Tätigkeit damit, daß er am 31. Dezember 1930 in einem Geschäfte zwei französische Schraubenschlüssel kaufte. So kam es dann zum Attentat in der Silvesternacht 1930. Er verwendete dabei einen Zettel, auf den er geschrieben hatte:
„Arbeiter, bitte zur Kenntnis zu nehmen, dieses Attentat wurde in eurem Interesse durchgeführt. Es wird einmal die Zeit kommen, wo ich mich vor den Arbeitern aufdecken werde. Attentäter."

4. Die Technik des Verbrechers.

In dieser Hinsicht erschienen 2 Fragen besonders interessant.

  1. Wie ist Matuska bei der Inszenierung der Verbrechen im allgemeinen vorgegangen ?
  2. Wie hat er die Fragen spezifisch technischer Natur zu lösen versucht ?

Zu 1.: Matuska schildert den Vorgang beim ersten Attentat - in der Silvesternacht 1930 - folgendermaßen: Er beschaffte sich die erforderlichen Instrumente in einem Wiener Geschäfte, fuhr sodann nach Anzbach und versuchte, an der kritischen Stelle die Schrauben zu lockern. Bei Beginn der Ausführung hatte er einen Zettel ähnlichen Inhalts, wie ihn der nachmals bei Bia Tor-bagy gefundene aufwies, geschrieben und an einer Steinwand angebracht. Durch den plötzlich heranbrausenden Zug wird er an der weiteren Arbeit gehindert. Er gibt nun die Sache auf und eilt mit dem für die Schienenlockerung verwendeten Werkzeug wieder weg, geht in eine Ortschaft nächst Anzbach und nächtigt dort in einem Gasthaus unter falschem Namen.
Da in den Zeitungen über diesen Vorfall nichts berichtet war, nimmt Matuska an, daß die Sache unbemerkt geblieben sei und beschließt, seine Tätigkeit mit größerem Nachdruck fortzusetzen. Er fährt nach Budapest, kauft dort die zu seiner Verkleidung (siehe die Darstellung des zweiten Attentates) erforderlichen Kleidungsstücke, eine schwarze Brille, Heftpflaster, endlich auch die Werkzeuge. In Wien kauft er dann das Stück Eisenschiene, die Schraubstöcke und Proviant.
Nachdem er sein Material mittels Autos in die Nähe des Tatortes gebracht hat, schleppt er es mittels eines mitgenommenen Strickes bis zum Bahndamm und macht sich dann an die Arbeit. Kurz vor deren Beendigung hört er den Zug heranbrausen. Er zieht sich auf ungefähr 150 Schritte zurück, sieht, daß der Zug halten muß, und flüchtet nach dem benachbarten Rekawinkel, nachdem er einen Zettel, den er auch diesmal wieder an einer Stelle angebracht hatte, weggerissen hatte. Unterwegs wirft er den Zettel, die Brille und das Heftpflaster in einen Bach. Er kehrt dann von Rekawinkel mittels Eisenbahn nach Wien zurück, geht in ein Hotel, wo er das Pelzsakko verbrennt. Die Röhrenstiefel wirft er nächst dem Ostbahnhof weg.
Im April 1931 reist er mit einem Koffer nach Berlin, kauft dort den autogenen Schweißapparat und fährt dann nach Jüterbog, wo er in einem Hotel — polizeilich unangemeldet — Aufenthalt nimmt. Nun geht er nachts mit dem Schweißapparat an die Bahnstrecke, sucht eine passende Stelle aus und versucht sich dort mit dem Schweißapparat. Allein er kann damit nicht umgehen und zieht sich Brandwunden an den Füßen zu. Er fährt nach Berlin, verkauft den Schweißapparat wieder an die Firma, von der er ihn bezogen hatte, mit einem Preisabzug, und reist hierauf über Linz nach Wien zurück.
Nach diesem Mißerfolg beschließt er, Ekrasit zu verwenden. Um solches beziehen zu können, pachtet er einen Steinbruch. Das versetzt ihn in die Lage, ein „Sprengbuch" zu bekommen, mittels dessen er Sprengmittel erhalten kann. Er bezieht Ekrasit in Wöllersdorf, die sonstigen Sprengmittel, wie bereits erwähnt, in Blumau, macht Sprengversuche in Tattendorf und fährt nun Anfang August 1931 nach Berlin, um in Deutschland ein Eisenbahnattentat zu begehen. In einem Fiberkoffer führt er eine größere Anzahl von Ekrasitpatronen und Sprengkapseln sowie die Zündmaschine mit sich. Dieses gefährliche Gepäck deponiert er in Berlin auf dem Bahnhof, logiert sich in einem Hotel ein, kauft dann in Berlin Eisenrohre und Leitungsdraht, macht in der Umgebung Berlins Versuche mit den Sprengkapseln, kauft die Zeitung „Der Angriff", schreibt auf ein Blatt derselben die Worte „Revolution" usw. und reist mit dem ganzen Material am 8. August 1931 nach Jüterbog. Hier nimmt er knapp neben dem Bahngeleise Aufstellung und stellt dann, als er den Zug heranbrausen hört, die Zündung her. Er hört nach dem Kommen des Zuges die Detonation, sieht das Umstürzen der Waggons, nimmt den zündenden Apparat an sich und flüchtet mittels Bahn nach Berlin, von wo er am 9. August nach Wien zurückkehrt.
Obwohl er auf der Rückfahrt nach Wien beim Passieren der Unglücksstelle den Beschluß gefaßt haben will, so etwas nie wieder zu machen, kommt es doch zum Attentat von Bia Torbagy. Diesmal wirken die Zeitungsnachrichten über das Jüterboger Attentat auf ihn insofern befruchtend, als sie die - den Tatsachen nicht entsprechende - Mitteilung enthalten, daß zur Verübung eine Taschenlampenbatterie verwendet worden sei. Nun macht er in der Nähe von Wien Versuche mit einer solchen unter Verwendung von Sprengkapseln und Glühzündern. Er fährt am 3. September nach Budapest unter Mitnahme von Lampendraht, Ekrasit und Sprengkapseln. In einem neuen Fiberkoffer nimmt er seine Wäsche mit. In Budapest kauft er 2 Taschenlampenbatterien und Eisenrohre und macht Versuche in der Nähe von Bia Torbagy. Aus dem Koffer schneidet er das Stück mit dem Schloß aus, den übrigen Teil des ganzen Koffers wirft er in die Donau. Er beobachtet dann bei Bia Torbagy den Zugsverkehr (am 9. September). Hierbei stellt er fest, daß zwischen einem Personen- und einem Lastzug ein längeres Intervall ist und daß bald nach dem Lastzug ein Schnellzug kommt.
Angeblich hat er es nur auf den Lastzug abgesehen, indem er plant, in den nachkommenden Schnellzug, der ja infolge der geplanten Katastrophe an der Stelle stehenbleiben würde, zu steigen und ihn zur Rückreise zu benützen. Für diese Rückfahrt hatte er sich eine Karte gekauft, die er, um das Datum undeutlich zu machen, beschmutzt hatte. Am folgenden Tage (10. September) bindet er das Kofferschloß, den Zollstab, die beiden Batterien und einen Zündungsdraht mit Bindfaden zusammen und beobachtet noch bis zum 12. September den Zugverkehr von einer versteckten Stelle aus. Nun, in der Nacht des 12. September, legt er, nach dem Passieren des Personenzuges, den Apparat auf die Schienen und bringt einen in ungarischer Sprache geschriebenen Zettel an einer Stelle in der Nähe an. Er wartet in der Nähe, hört nach dem Herankommen des Eilzuges (der damals abweichend vom regelmäßigen Fahrplan statt des Lastzuges folgte) die Explosion, eilt an die Stelle, wo die Waggons herabgestürzt sind und bringt sich mit einem Taschenmesser die Verletzungen an der Wange bei.

Zu 2.: Was die eigentlich technische Seite der Sache anbelangt, so ist zunächst die Auswahl des Ortes bemerkenswert. In allen Fällen sucht Matuska einen solchen Platz aus, wo der Zug eine Kurve macht und über eine Böschung (Anzbach, Jüterbog) oder einen Viadukt (Bia Torbagy) passieren muß. Was die angewandten Methoden anbelangt, so beginnt es zunächst mit der Lockerung der Schrauben. Hierauf kommt die Befestigung des Schienenstückes quer über den Schienen. Diese Mittel führen aber nicht zum gewünschten Erfolg. Nun soll der autogene Schweißapparat verwendet werden, dessen Behandlung aber zu große Schwierigkeiten bietet, so daß wieder ein Mißerfolg eintritt. Nun ergibt sich als weiteres Mittel die Verwendung eines Sprengmittels - Ekrasit. Das Problem wird zunächst in der Weise zu lösen versucht, daß Matuska selbst im kritischen Moment die Zündung mittels des zündenden Apparates herstellt. Auch diesmal entspricht offenbar der erzielte Erfolg den Erwartungen des Täters nicht, vielleicht erscheint ihm auch die Situation als für seine eigene Person zu gefährlich. Er strebt also nach weiterer Vervollständigung, vor allem wohl nach einer noch eklatanteren Katastrophe und kommt - angeregt durch die unrichtigen Zeitungsberichte - auf den Gedanken, eine elektrische Taschenbatterie zu verwenden und den Kontakt gewissermaßen automatisch durch die beiden Kofferschließen in Verbindung mit dem Zollstab herstellen zu lassen. Tatsächlich ist diesmal der Erfolg ein „vollkommener".
Gewisse Züge sind allen diesen verschiedenen Phasen gemeinsam, so die Auswahl des Platzes, die Verübung zur Nachtzeit, die Anbringung des Zettels oder des diesem gleichwertigen Zeitungsblattes, das Bestreben des Täters, dem Erfolg beizuwohnen. Bemerkenswert sind jedenfalls auch die von ihm angewandten Methoden zur Unkenntlichmachung seiner Person, die Beschaffung der zur Verübung des Verbrechens verwendeten Werkzeuge und Hilfsmittel an einem vom Tatort verschiedenen, möglichst weit entlegenen Orte.

5. Die Technik der Behörden.

In dieser Hinsicht ist vor allem anzuführen, daß sämtliche in Betracht kommenden Behörden in richtiger Erkenntnis der großen Gefährlichkeit der einzelnen Attentate darauf bedacht waren, den Fällen möglichste Publizität zu verleihen und besonders auch die zuständigen Behörden anderer Staaten zu warnen und um Mitforschung zu ersuchen. Wenn man beim ersten Anzbacher Attentat diese Maßregel noch nicht angewendet hat, so erklärt sich dies sehr wohl damit, daß die Tat sich noch nicht so auffällig gemacht hatte. Man konnte damals noch annehmen, daß es sich um Mutwillens- oder Böswilligkeitsakte von rein örtlicher Bedeutung handelte, wie solche ja nicht allzu selten vorkommen. Dieser Fall wurde daher auch der Wiener Polizeidirektion nicht speziell zur Kenntnis gebracht. Erst beim zweiten Fall setzten dann die energischen Erhebungen ein, die ja auch zu wichtigen und wertvollen Feststellungen führten. Die Wiener Polizeidirektion hat dann auch im Einvernehmen mit der niederösterreichischen Landesregierung eigene ausführliche und mit Lichtbildern der vorgefundenen Corpora delicti versehene Kundmachungen erlassen und die wichtigsten Polizeibehörden nicht nur von Österreich, sondern auch des Auslandes um Mitforschung gebeten.
Sehr bemerkenswert erscheinen die aus Anlaß des Jüterboger Attentates eingeleiteten Maßnahmen. Hier wurde vor allem eine eigene, aus Vertretern der interessierten Faktoren (Staatsanwaltschaft, Strafgericht, Kriminalpolizei Berlin, Landrat, Regierung, Reichsbahn, Landjägerei) zusammengesetzte Kommission bestellt, bei der die ganzen Fäden der weiteren Erhebungen zusammenliefen. Hierbei wurde für eine sehr zweckmäßige Arbeitsteilung Sorge getragen. Diese Untersuchungskommission hat dann auch mit Rücksicht darauf, daß der Käufer der zum Jüterboger Attentat verwendeten Materialien vermutlich ein Ausländer war, eine Denkschrift an das Ausland erlassen, in der es unter anderem heißt:
„Der oben beschriebene sog. Materialienkäufer machte, wie bereits erwähnt, den Eindruck eines Ausländers. Es sei dahingestellt, ob dies zutrifft — ob er nicht vielleicht bewußt diesen Eindruck fälschlich hervorgerufen hat. Angesichts der Ungeheuerlichkeit des hier in Frage stehenden Verbrechens wird für alle Fälle dennoch die Mitwirkung auch der ausländischen Polizeibehörden hierdurch erbeten, und zwar nach folgenden Richtungen:

  1.  Sind Personen, die den Plan eines derartigen Attentates gehabt haben, in der kritischen Zeit in Berlin gewesen ?
  2. Sind deutsche Staatsangehörige, die vielleicht schon aus anderen Gründen verdächtig erscheinen, während der betreffenden Zeit von ihrem ausländischen Wohnsitz fort gewesen ?
  3. Sind vielleicht nach der Tat verdächtig erscheinende Personen - insbesondere deutsche - irgendwo im Ausland neu aufgetaucht ?
  4. Sind im Ausland gleichartige oder ähnliche Verbrechen ausgeführt, deren Urheber möglicherweise dieselben sind wie im Falle des Attentats bei Jüterbog ?
  5. Sind Diebstähle an Sprengstoff vorgekommen, die aus irgendwelchen Gründen mit der hiesigen Sache in Verbindung gebracht werden könnten?"

Von größter Wichtigkeit für die Tatbestandsfeststellung war die Untersuchung der in Jüterbog gefundenen Sprengstücke und deren Zusammenfügung, die schließlich die Feststellung ermöglichte, daß diese Stücke von einem mindestens 1,30 m langen Eisenrohre herrührten. Bei dieser Rekonstruktion wurden aber im Inneren des Rohres querliegende wulstartige Gebilde konstatiert, die in Entfernungen von 10 cm vorhanden waren. Es wurden nun Rohre von der Art, wie sie der Fremde in Berlin gebraucht hatte, unter Verwendung verschiedener Sprengstoffe zur Explosion gebracht, und dabei zeigte sich, daß einer der hierbei verwendeten Sprengstoffe - Trinitroluol - ähnliche Wirkungen an jenen Stellen hervorrief, wo die - ungefähr 10 cm langen - Patronen aneinanderstoßen. Andererseits ergaben aber die Versuche mit Trinitroluol, daß die am Ende der bezüglichen Versuchspatronen eingelassenen Mittelstücke nach der Explosion metallische Rückstände zurückließen. Da solche an den am Tatort vorgefundenen Resten nicht wahrnehmbar waren, ergab sich der Schluß, daß andere Sprengmittel verwendet worden sein dürften. Andererseits ergab die chemische Untersuchung einzelner Splitterteile die Feststellung eines Niederschlages, von dem angenommen wurde, daß er möglicherweise von Pikrinsäure herrühren könnte.
Als nicht minder wichtig erwies sich die sorgfältige Absuchung des Tatortes und seiner Umgebung. Sie führte zur Auffindung der bedeutsamen Corpora delicti bei Anzbach, der Sprengstücke, des Paketes, der Drahtleitung und des Zeitungsblattes in Jüterbog und zur Auffindung der Höllenmaschine, der restlichen Ekrasitmenge und des Zettels in Bia Torbagy. Interessanterweise war es überdies im Oktober 1931, als das Geständnis Matuskas bereits vorlag, noch möglich, in Jüterbog in einem nächst dem Tatort befindlichen Gebüsch auch das Beweisstück für die Richtigkeit der Angaben Matuskas betreffend seinen Versuch mit dem autogenen Schweißapparat, nämlich einen angeschnittenen Marmeladenkübel, noch 6 Monate nach der Tat, aufzufinden.

Außerordentlich förderlich für den schließlich vollständigen Erfolg war aber auch das zielbewußte einträchtige Zusammenarbeiten der beteiligten Behörden, die einander hinsichtlich aller wichtigen Feststellungen fortgesetzt am Laufenden erhielten, ebenso auch die Entsendung von Beamten, die einerseits von Budapest nach Wien und Berlin, andererseits von Berlin nach Wien und Budapest zu reisen hatten.
Von Wichtigkeit war die Frage der Schriftvergleichung. Die an den Tatorten in Jüterbog und Bia Torbagy aufgefundenen Schriftstücke waren die Visitkarten des Täters. Leider unterlief aber bei der Budapester Untersuchung des in Bia Torbagy aufgefundenen Zettels offenbar ein schweres Mißverständnis, indem die Schriftzüge zunächst dem Kommunisten L. zugeschrieben wurden, eine Deutung, die noch dazu mit Rücksicht darauf, daß sie in sehr dezidierter Form auch Aufnahme in die ungarische und von da aus in die internationale Presse fand, sehr wesentlich geeignet war, auf die Behörden und das Publikum irreführend zu wirken. Die in Wien gelegentlich der Anhaltung Matuskas vorgenommene Vergleichung der Schriftzüge auf dem Zettel von Bia Torbagy, aber auch auf dem Zeitungsblatt von Jüterbog, ergab hingegen mit eindeutiger Sicherheit die Identität mit den Schriftzügen Matuskas.

6. Die Persönlichkeit Matuskas.

Sylvester Matuska präsentiert sich als kräftiger mittelgroßer Mann mit regelmäßig geschnittenen Gesichtszügen. Nach Angabe seines Hausarztes weist sein Oberkörper einen leicht femininen Habitus auf. Er wurde am 24. 1. 1892 in Cantavir (Jugoslawien) geboren, ist jedoch ungarischer Staatsbürger und bezeichnet sich als Kaufmann.

Über seinen Lebenslauf gibt die Anklageschrift folgende Auskunft : M. hat seine Jugend in Cantavir verbracht. Sein Vater war dort Pantoffelerzeuger. M. besuchte vier Gymnasialklassen und die Lehrerbildungsanstalt in Kalocsa, war bis 1913 in Büspökhatvan Lehrer und rückte dann als Einjährig-Freiwilliger zum 6. Honvedregiment ein. Während des Weltkrieges war er Offizier einer technischen Truppe und fungierte auch als Kommandant einer Maschinengewehr-abteilung. Er wurde mit dem Signum laudis und der kleinen silbernen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet und rüstete bei Kriegsende als aktiver Oberleutnant ab.

Nach dem Kriege war er wieder Lehrer in Cantavir und betrieb nebenbei ein Spezereiwarengeschäft. Im August 1919 verheiratete er sich mit der Lehrerin Irene N. Im Dezem-ber 1920 erwarb er in Mezötur ein Gut von 160 Joch, worauf er seine Lehrerstelle aufgab und mit seiner Gattin dorthin übersiedelte. Schon 2 Jahre später ver-kaufte er das Gut und erwarb in Budapest 2 Häuser. Außerdem betrieb er wieder ein Gemischtwarengeschäft. 1927 übersiedelte er nach Wien und kaufte hier 3 Häuser um etwa 100000 Schilling. 1929 handelte er mit Zwiebeln, verkaufte die Häuser, da sie nichts trugen, verwandelte den ursprünglichen Landesproduktenhandel in einen Handel mit Zwiebeln en gros um und kaufte schließlich das Haus in Wien V, Margaretenstraße 81, um 48000 Schilling, wovon er aber nur 18000 Schilling bezahlte. Er befaßte sich auch mit Realitätenvermittlungen und bemühte sich, für das Haus in der Margaretenstraße einen staatlichen Wohnbaukredit zu bekommen, um es besser an den Mann zu bringen. Um den Erlös beabsichtigte er von der in Tradigist bei St. Pölten wohnhaften Anneliese F. ein Gut zu pachten, um dort eine Schweinezüchterei zu betreiben. Der Plan gelang jedoch nicht. Schließlich pachtete er von Frau F. einen Steinbruch bei Tradigist. Ferner erwarb er zusammen mit zwei Partnern eine Eisengießerei in Tattendorf.
Seine Großmutter soll eine starke Trinkerin gewesen sein, und zwar von Schnaps. Von bedenklichen Krankheitsfällen in seiner Familie war nichts zu ermitteln. Nach Angabe eines ehemaligen Schulfreundes soll er diesem erzählt haben, daß er sich nichts Schöneres vorstellen könne als eine große Explosion in dunkler Nacht. Ein Zeuge aus späterer Zeit erwähnt von einer an M. wahrgenommenen „Demolierungswut". Einem Mann, der nach dem Attentat von Bia Torbagy im Wiener Ostbahnhof um das Schicksal von Frau und Kind, die er im verunglückten Zug vermutete, den angeblich verunglückten M. befragt, sagt dieser offenbar mit sadistischem Wohlgefallen: „Oh je, die Frau ist weg. Sie war im ersten Wagen mit mir. Dem Buben sind die beiden Füße weggerissen." In Wirklichkeit hatten die betreffenden Personen den Unglückszug verfehlt und kamen mit einem späteren wohlbehalten in Wien an.
Höchst intensiv ist seine sexuelle Einstellung. Er wird als Schürzenjäger bezeichnet, der bei ernsten Verhandlungen mit einem Geschäftspartner davonlief, wenn er nur ein Mädchen beim Fenster vorübergehen sah. Bei seiner polizeilichen Einvernahme gab er an, daß er - unbeschadet des Vorhandenseins seiner Frau - täglich ein „neues Weib" benötige. Bei der Akquirierung der betreffenden Bekanntschaften ging er vollkommen wahllos vor. In Berlin suchte er in dem Geschäft, wo er die Eisenrohre kaufte, sowohl von der Geschäftsinhaberin als auch, hinter deren Rücken, von ihrer Tochter die Zusage für ein Stelldichein zu erlangen.
Seine Religiosität scheint hauptsächlich Schauspielerei gewesen zu sein. Als er die Weihnachtskrippe für die Kirche in Cantavir kaufte, legte er 400 Schilling aus, setzte aber in die beigelegte Rechnung einen Betrag von 10000 Schilling fälschlich ein, weil er soviel versprochen hatte. Seine Frau berichtet, daß er immer viel Phantasie entwickelte und daß er immer gegen den Kommunismus war. Auch sein Hausarzt bezeichnet ihn als Phantasten, erwähnt seine lebhafte Mimik und hebt sein gesteigertes Selbstbewußtsein hervor. Er wird als in seinen Gedanken außerordentlich sprunghaft bezeichnet. Zu wichtigen Transaktionen hat er sich oft mit auffälliger Raschheit entschlossen.
Er wird als guter, aber sehr nervöser Schachspieler geschildert; er soll auch vor dem Anzbacher Attentat Schach gespielt haben. Bemerkenswert ist sein Drang, Erfindungen zu machen. So hatte er vor mehreren Jahren den französischen Staatsbahnen eine Erfindung zur Verhütung von Eisenbahnunfällen vorgelegt, ferner erfand er eine Turbine, die mit Donauwasser getrieben werden soll. Andererseits bekundet er lebhaftes Interesse für das Filmwesen. Gegenüber den vielen, auf Intelligenz hinweisenden Zügen erscheint es immerhin bemerkenswert, daß M. ungeachtet seines mehrjährigen Aufenthaltes in Wien es nicht zur vollständigen Erlernung des Deutschen gebracht hat und dasselbe nur sehr mangelhaft spricht.
Zu seinen Charakterzügen gehören jedenfalls auch große Eitelkeit und großes Geltungsbedürfnis. Er ist stolz auf seine technischen Kenntnisse und behauptet in der Hauptverhandlung, damit zu rechnen, einmal noch Minister zu werden.
In Linz beging er angeblich im Frühjahr 1931 einen Selbstmordversuch. Zunächst wollte er sich in der Donau ertränken, doch das Wasser war ihm zu kalt. Dann wollte er sich erschießen - aber die Kugel ging daneben.
Wie M. für den Fall eingestellt war, daß er wegen seiner Verbrechen zur Verantwortung gezogen würde, ergibt sich aus einem Gespräch, das er mit einem Bekannten über den Fall Kürten führte. Er bemerkte dabei, daß Kürten ein dummer Mensch gewesen sei, weil er gestanden habe.
Nähere Würdigung verdient sein Benehmen während der Haft. Schon während seiner polizeilichen Anhaltung wollte er offenbar den Eindruck hervorrufen, als ob er geistesgestört wäre. Er beobachtete eine vorgeneigte Körperhaltung, befleißigte sich eines starren, wie geistesabwesenden Blicks, sprach vielfach sehr geheimnisvoll und stellte sich so, als ob er sich von einem Manne mit grauem Haar und Glatze verfolgt glaubte. Sein polizeiliches Geständnis leitete er mit einer Darstellung ein, der zufolge er nur der Mitwisser eines angeblichen „Bergmann" gewesen wäre, der der eigentliche Täter gewesen sei. In die Enge getrieben, erklärte er schließlich, daß die Sache „Bergmann" „zu 99 Prozent fallen" müsse und er - M. - selbst die Verbrechen allein und ohne jede Mithilfe begangen habe. Von B. habe er nur gesprochen, weil er die Sache bis zur Hauptverhandlung hinziehen wollte, um dann erst mit der ganzen Wahrheit herauszurücken. Während der gerichtlichen Untersuchungshaft und auch bei der Hauptverhandlung kam er dann wieder auf die Sache „Bergmann" alias „Leo" zurück, indem er glauben machen wollte, daß es sich um eine Wahnvorstellung gehandelt habe, von der er erst während seiner polizeilichen Anhaltung frei geworden sei. Die Zeit während der polizeilichen und gerichtlichen Anhaltung füllte er namentlich mit Anfertigung verschiedener Zeichnungen und mit der Verfassung von Texten für einen Tonfilm sowie mit der Ausarbeitung von Erfindungen aus. Die Zeichnungen geben teils Einzelheiten der von ihm begangenen Verbrechen in Form von Tatortsskizzen wieder, teils dienten sie Darstellungen allegorischen Inhalts, jedoch mit Beziehung auf die verübten Attentate.

Auf die Hauptverhandlung (Schöffengerichtsprozess gegen Sylvester Matuska vor dem Wiener Landesgericht für Strafsachen) - sie begann nach achtmonatiger Untersuchungshaft am 15. Juni 1932 - freute er sich angeblich, offenbar weil er hoffte, dort eine große Rede halten zu können. Er ist daher enttäuscht, als er hört, daß der Verhandlungssaal nur 300 Personen faßt, und am 2. Verhandlungstage enttäuscht, als er wahrnehmen muß, daß weniger Publikum als am ersten erschienen ist.
Für die Hauptverhandlung hatte Matuska 3 große Reden - eine juristische, eine politische und eine wirtschaftliche - aufgesetzt. Die erstangeführte begann mit folgenden Worten: „Nie kann ich vergessen, daß das Blut von 24 Menschen um Rache zum Himmel schreit. Dieses unschuldige Blut hat das Lächeln von meinem Gesicht auf ewig verbannt. Welt, höre mich! Welt, erkenne mich! Welt wisse, daß ich dein moderner Antichrist bin, ich, Sylvester Matuska, der Attentäter, der sündige Mensch."
Bei der Hauptverhandlung setzt Matuska sein Bestreben, den Eindruck von Geistesgestörtheit oder doch geistiger Minderwertigkeit zu erwecken, fort. Er geht tänzelnd, steht und sitzt in vorgebeugter Haltung, starrt vor sich hin, tut häufig, als ob er geistesabwesend wäre, legt die Zunge in den linken Mundwinkel, dann wieder schluchzt und schreit er während der Verhandlung. Sehr charakteristisch - wofern nicht am Ende absichtlich gemacht - ist sein Verhalten bei einer Darstellung, die er in der Hauptverhandlung von einer Schlachtszene gibt. Er erzählt, wie er die Maschinengewehre auffahren läßt, gibt mit Brüllen den Befehl wieder, mit dem er zum Schießen kommandiert, und wie durch eine halbe Stunde „nichts wie gespritzt wird mit den Maschinengewehren", und gerät in eine förmliche Ekstase bei der Schilderung der Unzahl von toten Feinden, die auf dem Schlachtfelde zurückblieben.

Wartende vor dem Gerichtsgebäude.

Der Blick in den Gerichtssaal im Wiener Landesgericht für Strafsachen.

Er bestreitet zwar, grausam zu sein, macht aber die Bemerkung: „Was wäre in Anzbach geschehen ? 2-3 Tote, nicht so arg, aber in Ungarn 25 Tote - das ist schrecklich." Andererseits erklärt er, daß er keine materiellen Interessen, sondern nur ideale habe, wozu wohl bemerkt werden muß, daß M. tatsächlich nicht unbeträchtliche Opfer an Geld und Zeit im Interesse der Verwirklichung seiner Attentatspläne gebracht hat und daß ein Nachweis dafür, daß er mit diesen irgendwelche materielle Nebenabsichten verfolgt habe, im allgemeinen nicht zu erbringen war. Immerhin muß angeführt werden, daß er nach dem Attentate von Bia Torbagy Schadenersatzansprüche für angeblich bei der Katastrophe verlorene Kleidungsstücke - einen Mantel und einen Hut - beim ungarischen Konsulat in Wien anmeldete. Er wollte aber offenbar damit nur den Anschein, daß er tatsächlich an dem Eisenbahnunglück in passiver Rolle beteiligt gewesen sei, erhöhen.

Auch während der Verhandlung tritt immer wieder sein starkes Geltungsbedürfnis und die außerordentlich gesteigerte Eitelkeit, die Sensationslust und lebhafte Phantasie, sowie seine große Geschicklichkeit zur Heuchelei und Lüge zu Tage, gepaart mit auserordentlichem Mangel an sittlichem Gefühl.

Seine bedauernswerte Frau Irene fällt während der Zeugenaussage in Ohnmacht und muß behandelt werden. Trotz dieser fast übermenschlichen Prozeßbelastung erscheint sie jeden Tag im Gerichtssaal und hält fest zu ihrem Mann. Kein böses Wort verläßt ihre Lippen, doch ihr Blick sagt alles....  Auch Sylvester Matuschka wird hin und wieder von Weinkrämpfen durchgeschüttelt, vor allem wenn man seine Ehefrau befragt.


6. Das Gutachten der Gerichtspsychiater und das Urteil.

Das von den Gerichtspsychiatern, den Professoren Hofrat Dr. Hoevel und Dr. Bischoff, erstattete Gutachten stellt beim Untersuchten, der als Sanguiniker von hypomanischer Konstitution bezeichnet wird, starkes Geltungsbedürfnis und außerordentlich gesteigerte Eitelkeit, Sensationslust und lebhafte Phantasie, große Geschicklichkeit zur Heuchelei und Lüge und Mangel an sittlichem Gefühl fest. Anzeichen irgendeiner geistigen Erkrankung vermochten die Sachverständigen nicht zu entdecken, wohl aber starke Entartungserscheinungen in geistiger Beziehung, namentlich auch sadistische Neigungen. Desgleichen erklärten die Sachverständigen, daß M. weder an Zwangsvorstellungen noch an Halluzinationen gelitten habe und daß auch von einer etwaigen Hypnose nicht die Rede sein könne. Das von M. während seiner gerichtlichen Anhaltung an den Tag gelegte, scheinbar abnormale Verhalten, insbesondere auch seine Berufung auf den vom angeblichen Geist „Leo" auf ihn ausgeübten Einfluß, wurde als Simulation erkannt, deren sich der in Bedrängnis geratene Verbrecher dazu bedienen wollte, um sich „in die Krankheit zu flüchten".
Ein von der Verteidigung gestellter Antrag auf Heranziehung eines Sachverständigen auf dem Gebiete der Individualpsychologie war vom Gerichtshofe abgelehnt worden. Aus der Begründung des Urteils, das auf 6 Jahre schweren Kerkers und Landesverweisung aus Österreich lautet, seien folgende bemerkenswerte Sätze angeführt:
„Die Handlungen M.s wurden vorsätzlich durchgeführt. Der Angeklagte hat dies beim Untersuchungsrichter viel deutlicher zugegeben als in der Hauptverhandlung. Aber auch hier sagte er, daß es ihm auf 2-3 Tote nicht angekommen wäre. Bei der hohen Intelligenz M.s, der sogar in komplizierten technischen Fragen bewandert ist, kann kein Zweifel bestehen, daß er sich die Gefahren, die er durch seine Handlungen heraufbeschworen hat, vor Augen gehalten hat. M. hat schließlich auch den Anschein zu erwecken versucht, daß er geisteskrank ist. Die ungeheuerliche Tat verlockt dazu, dieser Beantwortung M.s zu glauben, aber das klare, eindeutige Gutachten der Gerichtsirrenärzte hat ergeben, daß von einer Geisteskrankheit bei M. keine Rede sein kann. Die bei ihm bestehenden sittlichen Schwächen sind keine Folgen einer Geisteskrankheit und daher nicht strafausschließend. Während der Durchführung des Beweisverfahrens hat der Gerichtshof selbst Gelegenheit gehabt, sich von der Richtigkeit des psychiatrischen Gutachtens zu überzeugen. Die Attentate wurden mit größter Raffiniertheit ausgedacht und ausgeführt. M. ging mit Vorsicht zu Werk und arbeitete mit Verkleidungen und Falschmeldungen. Seine Ausreden mit dem Geist sind nackte Simulation. - -"
Das Erkenntnis ist von der Verteidigung mit der Nichtigkeitsbeschwerde angefochten worden.
VIII. Schlußbemerkungen.
(Psychologische Analyse des Falles. - Kritik des Urteils. - Mängel der internationalen Strafverfolgung: Gerade das schwerste Verbrechen wird erst nach vielen Jahren gerichtlich verhandelt werden können.)
Hier sei zunächst der Versuch einer Art Analyse gewagt. Bei näherer Besichtigung des Falles zeigt es sich, daß bei Matuska die Idee, Eisenbahnattentate zu begehen, offenbar erst Ende 1930 ernste Formen angenommen hat. Aus seiner vorangegangenen Lebenszeit ist nichts bekannt, was darauf schließen läßt, daß er solche oder auch andere Verbrechen begangen oder auch nur geplant habe. Man kann sagen, bis Ende 1930 hat er sich allem Anschein nach einwandfrei aufgeführt, zum mindesten ist er nicht kriminell hervorgetreten. Er legte bis dahin teilweise einen ganz tüchtigen Geschäftssinn an den Tag und brachte es offenbar nur infolge seiner Zerfahrenheit und voreiliger Entschlüsse zu keinem anhaltenden geschäftlichen Erfolg.
Um so auffallender muß uns daher das plötzliche Auftauchen der Idee, Eisenbahnattentate zu begehen, dann aber auch das hartnäckige Anhalten dieser Idee und die Potenzierung hinsichtlich der Art der Ausführung anmuten. Wir sehen zunächst, daß er sich darauf beschränkt, in der Nähe von Wien sein Vorhaben zu verwirklichen. Beim erstenmal ist die ganze Vorgangs weise, auch was die Begleitumstände anbelangt, ziemlich einfach. Als bemerkenswert darf vielleicht angeführt werden, daß er die Tat in der seinem Taufnamen entsprechenden Nacht ausführt, weiter die Verwendung des Zettels, ein Symptom, das in der Folge immer wiederkehrt. Der im ersten Fall eingetretene Mißerfolg veranlaßt ihn, eine Ausführung des Planes unter Anwendung von größeren Vorkehrungen auszudenken. Das Raffinement bei der Besorgung und bei der späteren Vernichtung der Verkleidung ist jedenfalls ein ganz außerordentliches. Als auch der zweite Anschlag in der Nähe von Anzbach mißlingt, verfällt M. darauf, sich eines autogenen Schweißapparates zu bedinenen, um eine technische Vervollständigung zu erzielen. Der auch in diesem Fall eingetretene Mißerfolg wirkt offensichtlich auf ihn nur anfeuernd. Nun muß Sprengstoff, Ekrasit, herhalten, zu dessen Erlangung M. schon einen recht komplizierten Weg beschreiten muß. Dieses Mittel führt beim zweiten Jüterboger Attentat zu einem schon immerhin sehr empfindlichen Erfolg, der aber dem Attentäter offenbar noch nicht genügt. Immerhin hat er dabei feststellen können, daß das Mittel als solches geeignet ist, jedoch hat er die Erfahrung gemacht, daß die Wahl des Platzes nicht die richtige war. An Stelle des schräg sich absenkenden Bahndammes von Jüterbog wird daher bei Bia Torbagy der 26 m hohe Viadukt gewählt. Jetzt muß der Versuch unfehlbar glücken - und leider hat sich diesmal die Spekulation des Täters vollauf bestätigt.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß alle diese Taten mit der denkbar größten Berechnung ausgeführt wurden, und es darf wohl als sicher angenommen werden, daß der Täter an diesem Raffinement ein besonderes Wohlgefallen fand. Er war sicherlich stolz darauf, so schlau zu Werke gegangen zu sein. Darum hat er sich auch mit solcher Genauigkeit alle Einzelheiten der Vorbereitungshandlungen gemerkt und war in der Lage, sie später bei seinem Geständnis anzugeben. Dieser Stolz verbietet es ihm auch, beim ersten, an und für sich sehr mangelhaften Geständnis die beiden in Österreich begangenen Attentate einzugestehen, obwohl das Geständnis für ihn prozessual einen wichtigen Vorteil geboten hätte, da die Behandlung durch das österreichische Gericht ihn von der Gefahr befreit hätte, nach seiner zu gewärtigenden Auslieferung nach Ungarn der eventuellen Todesstrafe entgegengehen zu müssen.
Offenbar schämt er sich der mißglückten Attentate. Andererseits unterliegt es für mich keinem Zweifel, daß M. bei der staunenswerten Umsicht, mit der er vorging, sich auch sicherlich schon die Methode einer allfällig nötig werdenden Verantwortung zurechtgelegt hat und daß daher die Simulation der Geistesstörung, deren er sich dann tatsächlich beflissen hat, einem längst von ihm ausgesonnenen Plan entsprach. Darauf deutet ja auch seine Beurteilung Kürtens hin. Fraglich ist es vielleicht, ob die anfängliche Berufung auf den angeblichen „Bergmann" oder „Leo" auf vorangegangene reifliche Überlegung zurückzuführen ist, oder ob er auf diese Rückzugslinie nicht erst während seiner polizeilichen Anhaltung verfiel. Ich möchte fast für letztere Eventualität mich entscheiden. Wenn wir nun sehen, daß in dieser Hinsicht Zeichen einer besonderen Intelligenz zutage getreten sind, so erscheint es doppelt unfaßbar, wie die Motive, die Matuska für die Begehung seiner Taten angibt, einem so intelligenten Kopf entsprungen sein können. Ein Mensch, der sonst so streng logisch handelt, läßt in dieser Hinsicht auch die geringste Spur von Logik vermissen. Im allgemeinen haben wir für die Erklärung hier nur zwei Wege vor uns, nämlich:

  1. Matuska hat in dieser Hinsicht die Wahrheit gesagt, es hat sich ihm wirklich darum gehandelt, Sensation hervorzurufen, dadurch zur Geltung zu kommen und so seine Eignung zum „Führer" darzutun. Hier bleibt — die Möglichkeit zugegeben - nur der anscheinend unlösbare Widerspruch zwischen der geistigen Höhe, der die Vorbereitungshandlungen entsprechen, und dem doch jedenfalls unsinnigen Plan als solchen. Man sollte meinen, daß ein Mann, der so schlau bei der Beschaffung des Materiales und der Verkleidung zu Werke geht, der so überlegt einen Platz aussucht, auch von vornherein erkennen muß, daß er auf die von ihm geplante Weise nie das angestrebte Ziel erreichen kann - ja man sollte meinen, daß er auch über dieses Ziel sich viel vernünftigere Gedanken gemacht hätte, als er sie sich in Wirklichkeit gemacht zu haben scheint.
  2. Die zweite Möglichkeit besteht darin, daß M. Polizei und Gerichte hinters Licht geführt hat. Das könnte man bei seiner großen Verschlagenheit sogar für sehr wahrscheinlich halten. Immerhin tappen wir aber dann schon vollkommen im Dunklen, wenn wir einen vernünftigen Grund für seine Vorgangsweise auf seine Erfindungen aufmerksam zu machen, läßt sich wohl fast dasselbe sagen wie oben hinsichtlich seines Planes, sich zum „Führer" aufzuschwingen, nämlich: Bei einem Narren ein ganz gut mögliches Motiv, aber doch nie bei einem Vernünftigen.

Die Psychiater haben in ihren Gutachten und bei Antworten auf Fragen des Verteidigers erklärt, daß für sie die Frage nach dem Motiv für die Beurteilung der Frage, ob Geisteskrankheit vorliege oder nicht, nicht maßgebend sei. Das mag richtig sein, aber für die kriminalistische Beurteilung des Tatbestandes spielt diese Frage doch eine ungeheure Rolle. Hier ist eben doch von der Tatsache auszugehen, daß der Mann im Laufe von 9 Monaten fünf mit immer größerem Raffinement ausgearbeitete Eisenbahnattentate unternommen hat und daß andererseits ein vernünftiges Motiv für diese Handlungsweise nicht bekannt ist.
Wenn ich nun im folgenden eine Erklärung für das ganze Phänomen zu finden versuche, so muß man meines Erachtens zunächst von den Grundzügen der Persönlichkeit des Matuska ausgehen. Hier erscheinen mir folgende Neigungen und Eigenschaften besonders wichtig: Vor allem eine außergewöhnlich entwickelte Sensationssucht, wobei ich dieses Wort in einem doppelten Sinn verstehen möchte, nämlich einerseits in dem Sinn von Sucht nach dem Erleben von Sensationen - alle Genüsse müssen im höchsten Ausmaße, im höchsten, ja in einem außerordentlichen Grade erreicht werden -, dann aber auch in dem Sinn der Erregung von Sensationen bei anderen. Diese beiden Seiten kommen ganz besonders im Geltungsbedürfnis, von dem M. unzweifelhaft erfüllt war bzw. noch ist, zum Ausdruck. Dieses Geltungsbedürfnis ist aber auch verbunden mit einem ganz außerordentlichen Glauben an sich selbst, an die eigenen Vorzüge. Er hält sich für viel tüchtiger als jeder Ingenieur - er versteht alles, er braucht sich nur um eine Angelegenheit zu kümmern, und es wird ihm spielend gelingen, sie zu lösen. Es ist dies ein mit seiner unzweifelhaft vorhandenen Intelligenz gepaarter Zug von Kurzsichtigkeit, die eben offenbar durch das „große Ich", die Überschätzung der eigenen Vorzüge und Erfolge hervorgerufen wird.
Es ist klar, daß ein solcher Mensch auch mit den sozialen Fragen leicht fertig wird. Der so naheliegende und bei seiner Verwirklichung doch auf so viele Schwierigkeiten stoßende Gedanke von der Gleichheit der Menschen, andererseits eine aus dem Milieu seiner Kindheit und Jugend mit hergebrachte religiöse Einstellung führen, ohne mit streng logischer Folgerichtigkeit durchgeprüft zu werden, zur Idee von einer Erlösung der Menschheit auf kommunistischer und zugleich religiöser Grundlage. Wir wissen natürlich nicht, wie lange schon M. sich mit solchen Gedanken befaßt hat - wahrscheinlich schon ziemlich lange -, ohne daß er aber, wie gesagt, zu einem tiefer durchdachten System gekommen wäre. Wir wissen ja, daß auch viele Menschen, die keine Matuskas sind, mit solchen Ideen gerne spielen und gerade im Glauben, daß das „doch so einfach zu machen wäre", nie dazu kommen, die Sache eingehender zu prüfen.
Alle diese bisher angeführten Momente wären aber an und für sich noch nicht geeignet gewesen, aus Matuska den entsetzlichen Verbrecher zu machen, wenn nicht eine Seite hinzugekommen wäre, deren bisher noch keine Erwähnung geschah. Das ist, wie ich meine, seine hochgradige, geradezu abnorm entwickelte Sexualität, in der einige der bereits erwähnten Eigenschaften entweder besonders zur Geltung kommen oder durch die sie vielleicht im Grunde bedingt sind. Ich meine da das Geltungsbedürfnis und die Sensationssucht. Dieses Geltungsbedürfnis kommt in sexualer Hinsicht in der Tendenz, womöglich alle Frauen zu besitzen, zum Ausdruck. Aber eng damit gepaart ist jedenfalls auch die Sensationssucht. Höchster, ausgesuchtester, raffiniertester Genuß auch in sexueller Hinsicht bildete bei Matuska sicherlich ein Leitmotiv für die Vollbringung enormer Leistungen auf sexualem Gebiete, das Bewußtsein der ,,Omnipotenz" bildete daher einen besonders reizvollen Kitzel. Wir sehen dabei meines Erachtens, daß alle diese Züge - Geltungstrieb, Sensationssucht, Geschlechtstrieb - ihrem Wesen nach eigentlich eins sind. Zu diesen Zügen, und zwar besonders zum Geltungs- und Sensationstrieb muß aber auch eine gewisse Grausamkeit gezählt werden - was ja begreiflich ist, wenn man bedenkt, daß dieser Geltungstrieb doch mit dem Streben nach Unterdrückung der anderen verbunden ist. Wieweit sich dieser Trieb auswirkt, hängt von der Natur des Objektes ab - beim Weibe genügt der sexuale Besitz - aber nicht des Individuums, sondern der ganzen Spezies -, beim Feinde bildet die vollständige Vernichtung das ideale Ziel. Bei den nicht als Feinde in Betracht kommenden Menschen dreht es sich darum, ihr „Führer" zu werden, an ihrer Spitze, über ihnen zu stehen, ein unblutiger Sieger.
Wie kommt es aber, daß Matuska erst im Jahre 1931 so unheilvoll aktiv geworden ist ? Ich habe zuerst an irgendeinen mir nicht bekannten, aber dafür vielleicht den Psychiatern bekannten psychischen Prozeß gedacht, der zu Ende des Jahres 1930 sich zu entwickeln begann und dann während des Jahres 1931 immer schwerere Formen annahm. Allein die Ärzte wissen von einem solchen Prozeß nichts, sie konnten auch keine Spur von einem solchen bei Matuska entdecken. Andererseits scheint mir eine im gerichtlichen Verfahren vorgekommene Feststellung wichtige Anhaltspunkte für die Lösung zu bieten. Es wird nämlich von dem einen der beiden psychiatrischen Sachverständigen erwähnt, daß M. längere Zeit (1 Jahr) hindurch allein leben mußte, da seine Frau infolge einer Erkrankung gezwungen war, Heilung in einem Sanatorium zu suchen. Während dieser Zeit nun scheint M., der es auch vorher mit der ehelichen Treue nicht genau genommen haben soll, infolge der Freiheit, mit welcher er seinen Lebenswandel jetzt gestalten konnte, auf Abwege geraten zu sein.
Seine stark sexuale Einstellung brachte es offenbar mit sich, daß er diesen seinen Neigungen immer leidenschaftlicher, immer maßloser frönte, und diese fortgesetzten Mißbräuche depravierten offenbar immer mehr sein Nervensystem. Bei seinem Streben nach immer neuen, immer größeren Genüssen kam er immer mehr und mehr ins Gebiet des Abnormen, wobei seine schon früher erwähnten Eigenschaften und Neigungen den Weg wiesen. Denken wir an die Äußerung, daß er sich nichts Schöneres vorstellen könne als eine große Explosion, eine Vorstellung, die vermutlich schon von allem Anfang an irgendwie sexual betont oder vielleicht schon mit sexuellen Sensationen verbunden war, so ist es unschwer denkbar, daß in dieser, in das Ende des Jahres 1930 zu setzenden Depravationsperiode diese Vorstellung wieder emportauchte und mit immer größerer Gewalt über ihn Macht gewann. Je mehr dies aber der Fall war, desto leichter war der Übergang vom Spiele mit dem Gedanken zu seiner praktischen Verwirklichung gebahnt. Natürlich spielten aber auch hier wieder folgende drei Phasen besondere Rollen: Das Ausdenken der praktischen Durchführung, die einzelnen, für diese Durchführung notwendigen Vorbereitungsakte an sich und endlich das Attentat als solches. Darum diese abnorme, sorgfältige, umsichtige Vorbereitung, diese genaue Erinnerung an alle Einzelheiten, diese genau überlegte und gut vorbereitete Verteidigungsmethode .
Wenn wir nun annehmen dürfen, daß von den Vorstellungen, die mit dem Gedanken an die Eisenbahnattentate verbunden waren, hohe Lustgefühle ausgelöst wurden, die wahrscheinlich parallel mit dem Grade des Erfolges sich steigerten, so ist es wohl auch von Interesse, die Frage in Erwägung zu ziehen, was für Traumbilder ihm bei einer solchen Sensation vorgeschwebt haben mögen. Ich halte es für ohne weiteres möglich, ja wahrscheinlich, daß er auf diesem Gipfel der Verzückung gewissermaßen den Himmel vor sich geöffnet sah und es für ein leichtes wähnte, die Erlösung der Menschheit zu vollbringen. Selbstverständlich zogen verunglückte Attentate Depressionsgefühle nach sich, wie wir ja auch hören, daß er nach dem mißglückten ersten Attentat von Jüterbog sich mit Selbstmordgedanken trug und in ganz herabgekommenem Zustand in Wien eingetroffen ist. Aber auch die gelungene Sensation war begreiflicherweise von einer Depression gefolgt, wie es sich namentlich nach dem gelungenen Attentat von Bia Torbagy zeigte.
Um dann wieder zu einer neuen Sensation zu gelangen, mußte das alte Ziel mit neuen Varianten und Vereinfachungen wiederholt werden.
So scheint es mir wenigstens ganz plausibel, daß die Attentatsidee, die vielleicht zuerst bei irgendeiner Gelegenheit nur vorübergehend bei ihm auftauchte, sich allmählich immer mehr und mehr festsetzt, zu einer Lieblingsidee wird, die ihn nicht mehr verläßt, die ihn so beschäftigt, daß er immer mehr ihre Verwirklichung ins Auge faßt, wobei auch dieses Nachdenken wieder anregend wirkt. Dieser Reiz wird allmählich so groß, daß er alle entgegenwirkenden sittlichen Hemmungen schließlich überwindet. Jedenfalls tritt, was das Motiv anbelangt, alle Logik immer mehr in den Hintergrund. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß Matuska sich selbst erst das von ihm angegebene Motiv hierzu gedacht hat, und zwar zwangsläufig, etwa so, wie es bekanntlich uns geht, wenn wir im tiefen Schlaf plötzlich das ungewohnte Läuten des Weckers hören. Wir wachen dann oft mit dem Eindruck auf, daß uns ein Hergang geträumt habe, der schließlich zu irgendeinem Läuten führte; d. h. also so, als ob die geträumte Vorgeschichte des Läutens das Primäre, das Läuten das Sekundäre gewesen wäre, während natürlich in Wirklichkeit der Hergang ein umgekehrter war.
Wenn ich also glauben möchte, daß Matuska bei seinen Handlungen unter diesen Vorstellungen gestanden ist, so möchte ich betonen, daß ich in diesen durchaus keine Symptome einer Geisteskrankheit erblicken möchte, ebensowenig aber auch das, was wir unter Zwangsvorstellungen verstehen. Keineswegs möchte ich glauben, daß, wenn meine Annahme zutrifft, bei Matuska von Momenten gesprochen werden kann, die die Verantwortlichkeit oder Strafbarkeit ausschließen. Er war sich vollauf bewußt, daß er strafbare Handlungen beging, das läßt ja die Vorsicht bei der Einleitung seiner Tat klar erkennen. Daß er dem Kitzel, mit dem diese Untat für ihn verbunden war, ungeachtet all seiner Intelligenz, nicht zu widerstehen vermochte, das macht ja gerade seine Strafbarkeit aus; daran ist eben das Verbrechen zu erkennen, daß er, um sein Ziel zu erreichen, das Risiko auf sich nimmt. Ich erinnere mich beispielsweise an einen Fall, in dem ein durchaus nicht darauf angewiesener Mann durch eine schöne Uhr derart gereizt wurde, daß er schließlich den unglücklichen Besitzer dieser Uhr erschlug — nur um in den Besitz der Uhr zu gelangen. Der Mann hatte Alkohol genossen, aber dieser Alkoholgenuß war nicht etwa so weit gegangen, daß er die Strafbarkeitseinsicht verhindert hätte. Immerhin hat er wahrscheinlich die sittliche Widerstandsfähigkeit so weit beeinträchtigt, daß diese Hemmungen durch die allmählich ins Ungemessene gesteigerten Vorstellungen von dem Werte des angestrebten Gutes und der Leichtigkeit, über die Sache ungestraft hinwegzukommen, vollkommen verdrängt wurden. Hätte man aus diesen Erwägungen dem Manne Straflosigkeit zubilligen können ?
So komme ich zu dem Ergebnis, daß das österreichische Gericht vollkommen im Rechte damit war, wenn es Matuska als strafrechtlich verantwortlich ansah und auf seine Bestrafung erkannte. Zum besseren Verständnis lasse ich hier die Gründe, welche nach dem österreichischen Strafgesetz (§ 2) den bösen Vorsatz ausschließen und es bewirken, daß die betreffende Handlung nicht als Verbrechen zugerechnet wird, folgen:

  • wenn der Täter des Gebrauches der Vernunft ganz beraubt ist;
  • wenn die Tat bei abwechselnder Sinnesverrückung zu der Zeit, da die Verrückung dauerte; oder
  • in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen Berauschung (§§ 236, 523) oder einer anderen Sinnesverwirrung, in welcher der Täter sich seiner Handlungsweise nicht bewußt war, begangen worden;
  • wenn die Tat durch unwiderstehlichen Zwang oder in Ausübung gerechter Notwehr erfolgte.

Natürlich gibt der Fall auch noch zu vielen anderen Betrachtungen Anlaß, aus denen nur die folgenden hier Platz finden mögen:
Wie schon an anderer Stelle von mir ausgeführt, muß es vor allem sehr unbefriedigend wirken, daß die Verschiedenartigkeit des Tatortes hier die Zuständigkeit der Strafgerichte dreier verschiedener Länder begründet. Stehen wir heute nicht auf dem Standpunkt, daß wir nicht die Tat, sondern den Täter bestrafen ? Handelt es sich im vorliegenden Falle nicht eigentlich um eine einheitliche Tat, die nur in verschiedene Phasen gesetzt worden ist ? Nicht bald wird von einem Täter, der wiederholt wirksam geworden ist, ein so einheitliches Bild zu gewinnen sein, wie hier - dennoch müssen eigentlich drei verschiedene Gerichte in Wirksamkeit treten und insbesondere gewisse gemeinsame Vorfragen je nach ihrem speziellen Standpunkt lösen. Zum mindesten, wenn man den Fall theoretisch betrachtet, kann nicht geleugnet werden, daß z. B. das ungarische Gericht möglicherweise einen ganz anderen Standpunkt hinsichtlich der Frage der Zurechnungsfähigkeit einnehmen kann als das österreichische. Nur dem Umstände, daß Matuska ungarischer Staatsbürger ist, wird es zu verdanken sein, daß nicht auch das deutsche Gericht sich mit seiner Person wird befassen müssen; wäre er dagegen z.B. Jugoslawe, so wäre auch das deutsche Gericht noch zuständig, und die Menge der Möglichkeiten würde um eine weitere vergrößert werden. Natürlich werden auch hinsichtlich der verletzten Rechtsnormen sich Verschiedenheiten ergeben, und selbst wenn der mit Strafe bedrohte Tatbestand im österreichischen und ungarischen Gesetz gleichartig definiert wäre, würden die Strafbestimmungen sehr wesentlich voneinander abweichen, desgleichen wird das Verfahren gründlich verschieden sein.
Vielleicht handelt es sich in dieser Hinsicht mehr oder weniger um ideelle Fragen. Von höchster praktischer Bedeutung ist aber, daß in Ungarn der Prozeß gegen Matuska erst durchgeführt werden kann, wenn er nach Verbüßung seiner in Österreich ausgesprochenen Strafe nach Ungarn ausgeliefert wird. Das wird beiläufig in ungefähr 6 Jahren der Fall sein. Gerade die schwersten, eine rasche und ausgiebige Sühne erheischenden Taten werden also erst nach einem so langen Zeitablaufe behandelt werden, was natürlich außerordentlich zum Nachteile der Forderungen der Gerechtigkeit ausschlagen muß. Das Gedächtnis der als Zeugen in Betracht kommenden Personen, aber auch das des Beschuldigten, schwächt sich immer mehr ab, wird immer ungenauer, manche Zeugen sterben vielleicht in der Zwischenzeit oder verreisen oder geraten in nicht vernehmungsfähigen Zustand. Auch sonst sind viele Beweismittel schwer zu beschaffen oder gehen verloren. Dagegen bleibt dem Beschuldigten reichlich Zeit, über seine Taktik nachzusinnen und nach Tunlichkeit Verdunklungen vorzubereiten. Daß dann das ungarische Strafgericht auch den im Deutschen Reich gesetzten Tatbestand mit zu beurteilen haben wird, macht die Sache kaum besser. Ist es schon nach den bestehenden Prozeßvorschriften und aus rein sachlichen Gründen sehr schwer, über ein im Ausland begangenes Verbrechen zu judizieren, so wird diese Schwierigkeit bei einem nach so langer Zeit einsetzenden Strafverfahren noch wesentlich sich vermehren. Wir sehen also, wie auch hier die Inter-nationalität des Verbrechens die Position des Verbrechers „bessert", die der Justiz verschlechtert. Es wäre daher dringend zu wünschen, daß ähnlich, wie sich die Polizeibehörden durch innige Zusammenarbeit zu helfen wußten, auch im Hinblick auf die Untersuchung und gerichtliche Beurteilung solcher internationaler Fälle ein Modus geschaffen werde, durch den allen in dieser Hinsicht billigerweise zu erhebenden Anforderungen entsprochen werden kann.

Quellen:

- Archiv für Kriminologie (Kriminalanthropologie und Kriminalistik (Dr. Robert Heindl) Band 91 – 3. und 4. Heft – September und Oktober 1932 – S.125 . Von Dr. Bruno Schnitz, Polizeidirektor der Bundespolizeidirektion Wien, sowie zusätzliche Foto- und Textergänzungen aus erichs-kriminalarchiv.com.


Nachtrag: Quelle - (unbestätigt)
In Österreich wurde Matuska am 1. Oktober 1931 in Wien auf Wunsch der ungarischen Polizei vernommen, weil er als angeblicher Fahrgast des verunglückten Zuges Schadenersatz forderte. Am 7. Oktober 1931, bei einer zweiten Vernehmung, wurde er verhaftet. Er gab sofort seine Verbrechen zu. Bei der Gerichtsverhandlung konnten seine Motive nicht eindeutig geklärt werden. Matuska machte zeitweise den Eindruck eines Verwirrten, eines religiös Wahnsinnigen. Das Schwurgericht verurteilte Matuska wegen der beiden Anschläge von Anzbach zu sechs Jahren schweren Kerker. Nach vier Jahren Strafverbüßung wurde er an Ungarn ausgeliefert. Dort wurde er wegen Mordes zum Tode verurteilt. Österreich hatte bei den Auslieferungsverhandlungen allerdings eine Begnadigung zur lebenslänglichen Strafe vereinbart. Seit Kriegsende 1944/45 ist Matuska verschollen. Einige in den ersten Jahren nach 1945 verübte Anschläge waren indessen für die Presse gelegentlich Anlass zu der Vermutung, Matuska sei noch am Leben...

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